Spanien: Perspektive Auswandern

Immer mehr junge Spanier wollen wegen der extremen Jugendarbeitslosigkeit nach Deutschland

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Aus dem neuen Migrationsbericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) geht hervor, dass Deutschland unter allen 34 Mitgliedsstaaten 2010 und 2011 die stärkste Zuwanderung verzeichnet hat. Nach den vorläufigen Zahlen ist die Zuwanderung aus den Krisenländern Griechenland und Spanien deutlich gestiegen. In der zweiten Hälfte 2011 sind 15.000 Griechen und 13.000 Spanier nach Deutschland ausgewandert. Gegenüber dem ersten Halbjahr hat sich die Zahl demnach in beiden Fällen fast verdoppelt. Die extreme Jugendarbeitslosigkeit treibt immer mehr junge Menschen zu diesem Schritt, beispielsweise im spanischen Melilla.

Es ist drückend heiß im spanischen Melilla. Die Exklave am Mittelmeer liegt wie Ceuta auf dem afrikanischen Kontinent. Beide Gebiete werden von Marokko umschlossen und vom Königreich beansprucht (Streit zwischen Marokko und Spanien um die Petersilieninsel). Hier drückt aber nicht die Hitze auf das Gemüt, denn die sind die jeweils etwa 80.000 Bewohner gewohnt. Vor allem junge Menschen bedrückt schwer, dass sie keinerlei Zukunft mehr haben. War die Exklave einst das Ziel von illegalen Einwandern, denken nun viele dort über Auswanderung nach.

In den beiden spanischen Autonomiegebieten werden die höchsten Quoten der dramatisch steigenden Jugendarbeitslosigkeit in Europa registriert. Schon im Jahrbuch der europäischen Statistikbehörde 2011 wurde die Quote für Ceuta Ende 2010 mit 60,2 und für Melilla mit 53,7 Prozent angegeben. Aber auch die Kanarischen Inseln, Andalusien, die Extremadura und Kastilien-La Mancha stehen kaum noch nach.

Mit schwacher Hoffnung hat die Jugend in Melilla nach Brüssel geschaut, wo auf dem EU-Gipfel auch ein Wachstumspakt beschlossen werden sollte. Irgendwie sollte wieder einmal etwas gegen die hohe Jugendarbeitslosigkeit getan werden, was sich auf den bisherigen Gipfeln stets nur als heiße Luft entpuppt hat. Konkret wurde das Thema nicht behandelt, sondern nur im Rahmen des Wachstumspakts. Ausgerechnet Spanien und Italien, die eine besonders hohe Jugendarbeitslosigkeit aufweisen, blockierten genau diesen Pakt, um Verbesserungen bei der Bankenrettung und weniger Kontrolle herauszuschinden.

"Wir sind die Generation, die am besten ausgebildet wurde"

Junge Menschen wie Sergio Martínez bekommen das deutlich zu spüren, dass sie in diesen Verhandlungen praktisch nicht beachtet werden. Er lebt in der kolonialen Altstadt Melillas und gehört zu den 78.000 Spaniern, die auf gut 13 Quadratkilometern zwischen dem Mittelmeer und den hohen Grenzzäunen eingepfercht sind, die Melilla von Marokko abgrenzen. Im Schatten unter den Palmen im Park an der Bibliothek beschreibt der 27-Jährige, dass sich die Lage in den letzten Monaten deutlich zugespitzt habe. Im Durchschnitt habe die Jugendarbeitslosigkeit Spaniens Ende 2010 nur bei 41 Prozent gelegen, nun sind es schon etwa 52 Prozent.

"Ich bin Lehrer, doch habe ich nie als Lehrer gearbeitet", sagt Martínez. Seit Jahren würden in der Krise aber keine Stellen mehr ausgeschrieben. Zuletzt jobbte er sechs Monate bei einer Nichtregierungsorganisation (NGO). "Ich habe schon alles Mögliche gemacht, war Kellner, Bote, Bürokraft, doch auch solche Jobs finden sich kaum mehr." In Spanien als Lehrer zu arbeiten, hat er fast abgeschrieben. Da die konservative Regierung die Schere besonders am Bildungssystem ansetzt ansetzt, verlieren nun zum Sommer auch noch zahllose Aushilfslehrer ihre Stellen.

"Wir sind die Generation, die am besten ausgebildet wurde", sagte der Arbeitslose, der vom schmalen Sozialgeld lebt. 426 Euro erhält er für sechs Monate, weil er zuvor gearbeitet hat. "Davon kann ich nicht einmal die 600 Euro für die Miete bezahlen." Er sieht sich einer finsteren Zukunft entgegen, denn seine Ersparnisse werden knapp. "Ich suche wie ein Verrückter einen Job, egal was", erklärt er niedergeschlagen. Auch er wird wohl wieder zu seinen Eltern ziehen müssen, wenn er nicht schnell etwas findet.

Diesen Schritt musste Laura Guerra schon gehen. Die 27-Jährige hat ein Kind, für das der arbeitslose Vater keinen Unterhalt mehr zahlen kann. Vom knappen Sozialgeld, das sie wegen des Kindes sogar 21 Monate erhält, konnte sie ihre Wohnung nicht halten. Sie bessert nun darüber die Haushaltskasse der Eltern auf, denn auch der Vater gehört seit langem zum Heer der mehr als 5,5 Millionen Arbeitslosen. Die Lage der Familie wird dramatisch, weil auch der 63-Jährige nur noch Sozialgeld bezieht, das nun ausläuft. "Wir wissen nicht, wie wir die Miete noch von meinem Sozialgeld und dem Halbtagsjob meiner Mutter bezahlen sollen, wenn wir etwas essen wollen." Mit knapp 800 Euro könne man auch in Melilla mit vier Personen nicht leben. Als Sekretärin mit einfachem Schulabschluss habe sie keine Chance, wenn viele studierte junge Menschen auf der Straße stehen. "Alle Türen sind dicht", stelle sie bei Bewerbungen fest.

Sie sei am "Verzweifeln", da im Rahmen der Sparprogramme sogar die Arbeitsprogramme gestrichen würden. Sechsmonatige subventionierte Stellen in einer NGO oder sozialen oder öffentlichen Einrichtung, für die meist zwar nur der Mindestlohn von 641 Euro bezahlt werde, schaffen etwas Erleichterung und Anspruch für sechs Monate auf Sozialgeld. Hohe und steigende Schul- und Studiengebühren machen ihr aber eine Fortbildung unmöglich. Da Subventionen gestrichen würden, seien nun sogar Sprachkurse an öffentlichen Sprachschulen unerschwinglich.

"Eigentlich bleibt dir nur die Chance, dich weiterzubilden"

Auszuwandern sei ohne gute Sprachkenntnisse schwierig, doch wie Martínez denkt auch sie immer stärker darüber nach, ihr Kind bei den Eltern zu lassen, um in der Ferne einen Job zu finden. Beide sprechen von einer "unglaublichen Ohnmacht und Wut". Vom Staat werde man nur noch als unwichtige Nummer behandelt. "Wir haben für die in Madrid keinerlei Bedeutung mehr, sie streichen uns sogar das Bildungs- und Gesundheitssystem zusammen." Geld scheine es nur noch Geld für Banken zu geben, die sich verspekuliert haben und nun mit Milliarden gerettet werden. "Wer rettet uns?", fragt sich die junge Frau und zweifelt, ob ihre Tochter hier noch eine vernünftige Ausbildung erhalten wird.

Zur Auswanderung regelrecht gezwungen fühlt sich die 21-jährige Amal Omar. Sie gehört zu den fast 60 Prozent junger Menschen unter 25 Jahren in Melilla, die längst offiziell als Jugendarbeitslose gewertet werden. Die Sozialarbeiterin hatte wegen Arbeitslosigkeit damit begonnen, Sozialpädagogik zu studieren, um ihre Jobaussichten zu verbessern. "Eigentlich bleibt dir nur die Chance, dich weiterzubilden", erklärt sie. Doch wegen der sozialen Lage ihrer Familie wird sie wohl das Studium im September nicht fortsetzen können.

Ihre Familie gehört zu den mehr als 1,7 Millionen in Spanien, in denen alle Mitglieder arbeitslos sind. Vom Sozialgeld, das beide Eltern und sie noch beziehen, kann gerade der Lebensunterhalt der vier Personen bestritten werden, denn auch die kleinere 17-jährige Schwester findet keine Stelle. "Wie sollen wir Studiengebühren bezahlen, die nun auf wohl 1.500 Euro im Jahr steigen sollen." Auch das ist ein Ergebnis der Sparpolitik. Studenten sollen nun bis zu 25 Prozent an den Kosten beteiligt werden. Fallen sie bei einer Prüfung durch, steigen die Gebühren bei der Wiederholung enorm an.

Die quirlige junge Frau überlegt nun, so schnell wie möglich Deutsch zu lernen und ihr Englisch zu verbessern, damit sie ins Ausland gehen kann. Denn für Spanien, wo die Arbeitslosigkeit im Durchschnitt mit gut 24 Prozent auch nur etwas niedriger als in Melilla ist, sieht sie schwarz. Irgendwoher muss Geld her. Wenn auch ihr Sozialgeld ausläuft, kann die Familie die Hypothek für ihre Wohnung nicht mehr lange bezahlen. Dann droht ihr, wie vielen anderen Familien zuvor, der Verlust der Wohnung und die Räumung und die Bank hat eine unverkäufliche Immobilie mehr.

Das ginge sehr schnell. Die Familien verlören die Wohnung und säßen zudem noch auf riesigen Restschulden, erklärt Dina Abdeselam. Die 29-Jährige ist kämpferisch und trotz ihrer Arbeitslosigkeit in der Gewerkschaft UGT organisiert. "Spanien ist zurück auf dem Weg in die Vergangenheit", erklärt die Vorschullehrerin, die ebenfalls schon viele Jobs gemacht hat. In ihrem Beruf hat auch sie nie gearbeitet. Einst, als sich die Immobilienblase aufblies, arbeitete sie sogar im Maklerbüro. Als sich 2008 das Platzen der Blase abzeichnete (Immobiliencrash auf europäischer Tagesordnung), verlor sie ihren Job und seither schlägt auch sie sich durch.

Weil ihr Vater mit 1300 Euro monatlich ein für hiesige Verhältnisse einen recht guten Lohn habe, erhält sie nicht einmal das Sozialgeld. Doch auch diese Familie kann davon keine vier Kinder ernähren. "Mein Bruder hat sich deshalb beim Militär verpflichtet", sagt sie. Eigentlich will die Gewerkschafterin hier dagegen kämpfen, dass in Zukunft nur wieder die Reichen ihre Kinder studieren lassen können, es eine vernünftige Gesundheitsversorgung nur noch für die gibt, die sie in Privatkliniken bezahlen können, wie es die konservative Regierung vorhabe. Doch nun will die kleine 17-jährige Schwester ihre Ausbildung abbrechen, sie im Ausland abschließen oder dort arbeiten gehen. "Allein können wir sie nicht gehen lassen". So schließe sich der Kreis, sagt sie. Vor mehr als 30 Jahren sei ihre Großmutter nach Deutschland auf der Suche nach einem besseren Leben ausgewandert, die nun in Bochum mit einem deutschen Pass lebe.