LIBOR-Gate

Wie die Großbanken die Zinsen manipulieren

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wie die britische Barclays Bank zugegeben hat, haben Banken, deren Angaben zur Berechnung von Referenzzinssätze wie LIBOR und EURIBOR herangezogen werden, bei ihren Meldungen eher die eigenen Bedürfnisse beachtet, als die von ihnen tatsächlich bezahlten Zinssätze.

Bei so gut wie allen in Euro oder Dollar vergebenen Krediten und Guthaben, die variabel verzinst sind, hängt der konkrete Zinssatz regelmäßig von der Entwicklung von LIBOR ("London Interbank Offered Rate" für Dollar, Yen, Pfund und andere Währungen) und EURIBOR ("Euro Interbank Offered Rate") ab. Festgelegt werden diese Referenz-Zinssätze, die von Übernacht bis zu einem Jahr reichen, vom britischen bzw. europäischen Bankenverband, der dafür von Thomson Reuters täglich die wichtigsten Banken (16 bei LIBOR, mindestens 40 bei EURIBOR) befragen lässt, zu welchen Zinssätzen sie aktuell für die verschiedenen Laufzeiten Gelder vergeben bzw. hereinnehmen würden.

Barclays übermittelt täglich beispielsweise Angaben zu elf Währungen und 15 Fristigkeiten, wobei auch diese individuellen Angaben für Finanzmarktteilnehmer über lizenzierte Quellen wie Reuters oder Bloomberg abrufbar sind, was einigen Einfluss auf den Ruf eines Geldinstitutes haben kann. Die jeweils teuersten bzw. billigsten Meldungen werden dann ausgeschieden (die Hälfte der Meldungen bei LIBOR, 30 Prozent beim EURIBOR) und aus den verbleibenden wird der Interbanken-Geldmarkt Durchschnittszins errechnet, der nicht nur für etliche Billionen an Euro- und Dollar-Krediten, sondern auch für den Derivatenmarkt von enormer Bedeutung ist. Allerdings wird von den einmeldenden Banken keine statistische Auswertung ihrer tatsächlich gemachten Geschäfte verlangt, sondern ihnen ist erlaubt, eine subjektive Einschätzung abzugeben, was den Manipulationen offenbar Tür und Tore sperrangelweit geöffnet hat.

Betroffen ist jedenfalls ein gewaltiges Derivate-Geschäftsvolumen. So spricht die Britische Börsenaufsicht "Financial Services Authority" (FSA) in ihrer Final Notice an die Barclays Bank, von einem nominal ausstehenden Volumen an unregulierten (OTC)-Zinsderivaten von 554 Billionen (!!!) Dollar im ersten Halbjahr 2011, während das 2011 an der Londoner Börse LIFFE gehandelte Volumen an kurzfristigen Zinskontrakten 477 Billionen Euro betragen habe, davon allein 241 Billionen in Dreimonats-Euribor-Futures.

Die britischen Behörden, die über Barclays nun eine Geldstrafe von £59.5 Millionen verhängt haben (wobei Barclays aufgrund "optimaler Kooperation" und frühzeitigem Schuldeingeständnis ein Nachlass von 24,5 Millionen Pfund eingeräumt wurde), arbeiteten dabei eng mit dem US-Finanzministerium und der US-Derivatenaufsicht "Commodity Futures Trading Commission" (CFTC) zusammen, die zu den selben Ergebnissen kamen und sich letzte Woche gleichzeitig mit den Briten mit Barclays auf eine Strafzahlung von zusammen 360 Millionen Dollar geeinigt haben.

Ob damit schon die Gewinne, die Barclays auf diese Weise erzielt hat, ausgeglichen werden, ist ungewiss. Angesichts der unglaublichen Summen, die von den Derivatenhändlern bewegt werden, können jedenfalls selbst minimale Kursmanipulationen in den Referenzsätzen zu Millionengewinnen bzw. -verlusten führen. Deshalb konnten die Trader, deren Boni von ihren Gewinnen abhängen, dann auch nicht widerstehen, sich immer wieder mit entsprechenden Wünschen an ihre Kollegen vom "Money Markets Desk" zu wenden, die für die Datenweitergabe verantwortlich waren. Ebenso habe Barclays aber auch während der Bankenkrise von 2008/2009 falsche Angaben gemacht, um die eigene Kreditwürdigkeit zu beschönigen.

The rate at which an individual contributor panel bank could borrow funds, were it to do so by asking for and then accepting interbank offers in reasonable market size just prior to 11:00 London time.

BBA's LIBOR-definition

Laut FSA sind für die Derivatenhändler die Referenzzinssätze vor allem bei "OTC interest rate swaps" (bei denen fixe gegen variable Zinsen getauscht werden) und bei "exchange traded interest rate futures" (bei denen die Höhe einer künftigen Zahlung von einem Referenzzinssatz abhängt) entscheidend. Aus diesen Bereichen kamen dann zwischen Januar 2005 und Mai 2009 dann von wenigstens 14 Tradern auch mindestens 257 entsprechende Anfragen, darunter übrigens auch 15 von Tradern aus anderen Banken, die zuvor bei Barclays gearbeitet hatten.

Ebenso fand die FSA aber auch 63 Anfragen, die Barclays-Trader an Trader in anderen Banken gerichtet hatten, damit diese den Money Market Desk in ihren Banken entsprechend instruierten. Laut FSA wurden dann rund 70 Prozent der auf Dollar/LIBOR bezogenen Anfragen positiv erledigt und sogar 86 Prozent im EURIBOR.

Eine typische Kommunikation vom 13. März 2006:
Trader C: "The big day [has] arrived… My NYK are screaming at me about an unchanged 3m libor. As always, any help wd be greatly appreciated. What do you think you'll go for 3m?"
Submitter: "I am going 90 altho 91 is what I should be posting".
Trader C: "[…] when I retire and write a book about this business your name will be written in golden letters […]".
Submitter: "I would prefer this [to] not be in any book!"

Die Barclays-Trader hatten offenbar permanent auf die Unterstützung des Money Market Desk zählen dürfen, und es war durchaus üblich, dass ein Trader, bevor er eine entsprechende Anfrage abschickte, sich bei seinen Kollegen erkundigte, ob jemand damit Probleme hätte. Zudem wurde auch mehrmals erfolgreich versucht, in Absprache mit anderen Banken entsprechende Manipulationen vorzunehmen und darüber hinaus mitunter auch die Cash-Abteilungen der Bank dazu gebracht, reale Geschäfte zu Preisen vorzunehmen, die laut FSA geeignet waren; die Referenzzinsen in die gewünschte Richtung zu treiben.

Alle anderen Banken haben es auch gemacht

Bei den von den Tradern gewünschten Manipulationen handelte es sich freilich nur um maximal ein paar Basispunkte (100 BP= 1 Prozent), während die aus Reputationsgründen erfolgten Schwindeleien während der auflodernden Finanzkrisen bis zu einem halben Prozentpunkt betragen konnten. Aber vermutlich steht Barclays derzeit nur wegen seiner hohen Kooperationsbereitschaft mit den Behörden im Fokus der medialen Aufmerksamkeit, worauf zumindest das Verhalten von Barclays nach dem Ausbruch der Weltfinanzkrise deutet. Denn da hatte Barclays zuerst anscheinend weitgehend korrekte Angaben gemacht, während die anderen Banken mehrheitlich bereits zu tricksen begonnen hatten. Das brachte Barclays im September 2007 eine Bloomberg-Meldung ein, die nach den Gründen suchte, warum Barclays am Geldmarkt die mit Abstand höchsten Zinsen abverlangt wurden. Daraufhin hatte sich das Top-Management eingeschaltet und dafür gesorgt, dass Barclays künftig niedrigere Sollzinsen einmeldete, als die Bank am Markt tatsächlich erhalten konnte.

Aus internen Emails vom 28 November 2007:

"LIBORs are not reflecting the true cost of money. I am going to set 2 and 3 months, 5.13 and 5.12 probably at the top of the range of rates set by libor contributors, although brokers tell me that [Panel Bank 7] is going to set at 5.15 for both (up 8.5 and 10 from yesterday). The true cost of money is anything from 5-15 basis points higher. Not really sure why contributors are keeping them so low but it is not a good idea at the moment to be seen to be too far away from the pack, although reality seems to be setting in for a few libor contributors who are belatedly moving libors up in line with where money is really trading".
Manager D replied "Fine on LIBOR settings - thanks for remaining pragmatic but at the upper end".

Allerdings hatte sich das Barclays-Management Ende 2007 von sich aus an die Behörden gewandt und seine Sorgen über die Verzerrungen von LIBOR und EURIBOR bekannt gemacht - was das Management aber nicht daran gehindert hatte, den Money Market Desk während der Bear Sterns-Krise von 2008 anzuweisen, nicht die realen Marktverhältnisse sondern, wie anscheinend die meisten anderen Banken auch, deutlich niedrigere Zinssätze bekannt zu geben. Aber auch das meldete das Management später von sich aus den Behörden, allerdings in abgeschwächter Form, was die eigenen Handlungen betraf. Jedenfalls meinte Barclays gegenüber den Behörden, schlicht zu den Falschmeldungen gezwungen worden zu sein, weil die anderen Banken es allesamt ebenfalls so machten, und Barclays sonst neuerlich aufgrund seiner Ehrlichkeit stigmatisiert worden wäre.

Laut Harvey Pitt, bis 2003 Chairman der US-Börsenaufsicht SEC, sei Barclays jedenfalls nur die Spitze des Eisbergs. Bei Barclays war am Montag indes bereits Aufsichtsratschef Marcus Agius zurückgetreten und am Mittwoch folgte Generaldirektor Bob Diamond, der heuer auf seinen Bonus verzichten will und zudem vor einem Ausschuss des britischen Parlaments auftreten muss. Zuvor hatte der angesichts der vielen Skandale schon explizit missmutige britische Notenbank-Chef Mervin King auf die Frage, ob Diamond denn noch ausreichend "fit and propper" für das Bankgeschäft sei, dies nicht bestätigen wollen, während auch einige Großaktionäre und die meisten Oppositionspolitiker kategorisch seinen Abschied verlangt hatten.

Mittlerweile ermitteln die Aufsichtsbehörden dahingehend weltweit gegen mindestens 18 Großbanken wie Deutsche Bank, Citigroup, HSBC, J.P. Morgan oder UBS. Die Angelegenheit ist so ernst, dass der Britische Bankenverband (BBA) eine für diese Woche geplante Feier abgesagt hat, da die Branche laut BBA-Vorstandsvorsitzender Angela Knight "stark und intensiv über ihr kollektives Verhalten nachdenken" müsse. Ob strafrechtlich gegen die Beteiligten bei Barclays vorgegangen werde, ist laut den britischen Behörden indes noch offen, allerdings ermittelt hier jedenfalls das FBI noch weiter.

Absehbar ist - und dafür wird wohl auch Barclays sorgen, um nicht als einziger Sündenbock übrig zu bleiben -, dass sich wohl die meisten großen Namen der Finanzwelt auf erhebliche Zahlungen werden einstellen müssen. So ermitteln in dieser Sache nicht nur die US- und die britischen Behörden weiter, sondern auch Behörden der EU, Kanadas, Japans und der Schweiz, zudem werden vermutlich bald auch etliche Investoren Schadenersatzforderungen stellen.