"Vater der Methode ist sicher der Wunsch, die Statistik zu schönen"

Der Piraten-Abgeordnete Alexander Spies kritisiert den Umgang des Berliner Senats mit Hartz-IV-Zwangsumzügen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Die Frequenz von Hartz-IV-Zwangsumzügen in der Hauptstadt ist nach Ansicht der Piratenfraktion im Abgeordnetenhaus wesentlich höher als offizielle Zahlen vermuten lassen. Alexander Spies, der arbeits- und sozialpolitischen Sprecher der Fraktion, vermutet, dass dahinter unter anderem ein immobilienpolitisches Kalkül stecken könnte.

Herr Spies, warum werden Hartz-IV-Bezieher von Amts wegen überhaupt gezwungen umzuziehen?

Alexander Spies: Hartz-IV-Bezieher erhalten ihre Mietkosten nur in der Höhe erstattet, soweit sie nach den Bestimmungen der Sozialgesetzgebung des Bundes und Bemessung der Kommune "angemessen" sind. In Berlin werden die Mietrichtwerte neuerdings in der Berliner Wohnaufwendungenverordnung (WAV) geregelt. Sie liegen für Ein-Personen-Bedarfsgemeinschaften zwischen 378 und 408 Euro brutto warm, abhängig von der Art der Heizung. Für jede weitere Person gibt es entsprechend mehr.

Die Wohnkosten für Hartz-IV-Bezieher müssen die Kommunen zum größten Teil selbst aufbringen. In Berlin besteht wegen überdurchschnittlich vieler Bedarfsgemeinschaften nach Meinung des Senats bei diesen Kosten ein großes Sparpotential.

Liegt eine Bedarfsgemeinschaft über dem Richtwert, werden die Betroffenen vom Jobcenter aufgefordert ihre Miete zu senken - durch Untervermietung, Verhandlungen mit dem Vermieter, Zuzahlung aus nichtanrechenbarem Einkommen und Vermögen oder durch Umzug. Gelingt ihnen das nach sechs Monaten nicht, nimmt das Jobcenter eine "Mietfestsetzung" vor - das heißt, ihre Miete wird nur noch bis zum Richtwert übernommen und sie müssen die Differenz zwischen "angemessener" und tatsächlicher Miete aus dem Regelsatz zahlen. Dadurch ergibt sich der Zwang in eine neue Wohnung zu ziehen, deren Miete dem Richtwert entspricht.

Alexander Spies. Foto: Piratenpartei Deutschland. Lizenz: CC BY-SA 3.0.

Können die Leute bei den Zwangsumzügen in ihren Vierteln bleiben oder müssen sie ihre Zelte ganz woanders aufschlagen?

Alexander Spies: Nach dem Gesetz kann von den Bedarfsgemeinschaften nicht verlangt werden, in eine andere Kommune zu ziehen. Ein Problem ist, dass das Land Berlin als eine einzige Kommune angesehen wird. Da die Richtwerte auf den Durchschnittsmieten der Wohnungen im unteren Segment in ganz Berlin beruhen, liegen Mietpreise in den Innenstadtbezirken generell weit über den Richtwerten. Nur in einigen Außenbezirken gibt es noch Wohnungen, die deutlich unter den Richtwerten liegen. Hier konkurrieren Hartz-IV-Haushalte mit Geringverdienern. Das kann auch dort die Mietpreise nach oben treiben und damit die Zahl der Bedarfsgemeinschaften weiter erhöhen, da nun auch diese Erwerbstätigen aufstocken müssen.

Eine Kostensenkung der Mietkosten einer Bedarfsgemeinschaft durch Umzug sollte die absolute Ausnahme sein und ist nur dann vertretbar, wenn der Umzug innerhalb des angestammten Viertels der Leute stattfindet. In Berlin gäbe es die einfache Regelung, dass solche Viertel wie Kommunen behandelt werden. Dies wird von Experten bereits lange gefordert, es fehlt nur der Wille beim Senat.

"Offiziellen Zahlen stellen nur einen Ausschnitt der Realität dar"

Wie viele Leute mussten letztes Jahr in Berlin umziehen?

Dazu gibt es nach unseren Recherchen keine gesicherten Erkenntnisse. 2011 gab es offiziell 1.313 solcher erzwungenen Umzüge. 2010 waren es 1.195 und 2009 428. Diese Zahlen bilden allerdings nur einen Teil der tatsächlichen Umzüge ab. Denn der Senat zählt diejenigen Umzüge von Bedarfsgemeinschaften nicht dazu, die stattfinden, nachdem das Jobcenter ihnen nur noch den möglichen Höchstbetrag der Wohnkosten erstattet. Niemand kann bislang sagen, wie viele der von Mietfestsetzungen betroffenen Haushalte - allein 22.348 im Jahr 2011 - in der Folge umgezogen sind, weil sie sich die Wohnung nicht mehr leisten konnten.

Offiziell werden nur solche Umzüge gezählt, die innerhalb von sechs Monaten nach Aufforderung zur Mietkostensenkung stattfinden. Haushalte, die danach umziehen, werden nicht erfasst. Da aufgrund des immer angespannteren Berliner Wohnungsmarktes auch die Dauer der Wohnungssuche ansteigt, kann davon ausgegangen werden, dass die offiziellen Zahlen nur einen Ausschnitt der Realität darstellen.

"Druckmittel für den Umzug

Warum kommt es zu dieser Diskrepanz? Vermuten Sie ein Kalkül des Berliner Senats hinter dieser Schönfärberei?

Alexander Spies: Seit der Einführung von Hartz IV gilt die Zahl der "Zwangsumzüge" als der Indikator für die Verdrängungswirkung von zu niedriger Wohnkostenübernahme für Erwerbslose. Die politisch Verantwortlichen haben daher ein Interesse daran, dass diese Zahl klein ausfällt, um nicht als unsozial zu gelten.

Vater der Methode ist sicher der Wunsch, die Statistik zu schönen. Nicht jeder Umzug einer Bedarfsgemeinschaft ist dem Zwang zur Kostensenkung geschuldet. Bei einem Umzug nach der Aufforderung zur Kostensenkung kann allerdings davon ausgegangen werden - selbst wenn die Aufforderung länger als sechs Monate zurück liegt. Denn die "Mietfestsetzung" des Jobcenters nach sechs Monaten ist sicher als ein Druckmittel für den Umzug anzusehen.

Was ist überhaupt der Sinn von diesen Zwangsumzügen? Gibt es eventuell jemand der davon profitiert?

Alexander Spies: Menschen wohnen bei der Antragstellung für Sozialleistungen überwiegend in Wohnungen mit Durchschnittsmieten, oft Sozialwohnungen. Es ist daher für mich nicht nachvollziehbar, wie bei steigendem Mietniveau durch Zwangsumzüge nachhaltig die Gesamtausgaben für die Übernahme der Kosten der Unterkunft gesenkt werden können. Zudem handelt es sich dabei um eine Maßnahme, die tief in das Leben der Betroffenen eingreift. Eine Politik, die Menschen als reine Kostenfaktoren betrachtet, lehne ich ab. Zwangsumzüge sind weder sinnvoll noch ein probates Mittel.

Profiteure der Zwangsumzüge sind Vermieter, die - insbesondere auf einem angespannten Wohnungsmarkt wie in Berlin - bei einer Neuvermietung kräftig drauf schlagen können, da es keine Kappungsgrenze bei Neuvermietungen gibt. Vermieter von Bruchbuden werden durch den Druck auf dem Wohnungsmarkt auch ihre Schrottimmobilien los.

"Richtwerte müssen der Realität angepasst werden"

Was gedenkt die Piratenpartei gegen die Zwangsumzüge zu tun? Gibt es im Berliner Senat politische Kräfte, die Sie eventuell als Verbündeten in dieser Sache in Betracht ziehen könnten?

Alexander Spies: Wir sind uns mit Mieterorganisationen, Sozialverbänden, Betroffenenvertretungen und den beiden anderen Oppositionsfraktionen, den Linken und Grünen einig, dass die Richtwerte der Wohnaufwendungenverordnung (WAV) der Realität auf dem Berliner Wohnungsmarkt angepasst werden müssen. Jeder erzwungene Umzug treibt die Mietpreise in die Höhe. Das schadet allen Mietern. Der Senat ist gesetzlich verpflichtet, die Kosten der Unterkunft nach Marktpreisen zu berechnen.

Um das Problem an der Wurzel zu packen, muss dafür gesorgt werden, dass in der ganzen Stadt genügend preisgünstige Wohnungen zur Verfügung stehen. Hier plädiere ich auch für das "Münchner Modell", in dem sozial gebundene Grundstücke von der Kommune zur Verfügung gestellt werden. Die Einführung von nachhaltigen Mietpreisbindungen geht aber über die Landespolitik hinaus. Wir werden hier auf Bundesebene aktiv werden müssen.

Als kleinste Oppositionspartei sind unsere Möglichkeiten natürlich begrenzt. Aber wir können versuchen, Druck auf die Regierungskoalition aufzubauen und Verbesserungen zu erreichen. Zudem werden wir weitere Missstände aufdecken.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.