Geburtsstätte der Gentrifizierung

Zeitschrift OZ, 3.4.1967. Bild aus "Swinging London", Brandstätter Verlag

Rainer Metzger über das Zusammenwirken von Ökonomie, Aristokratie, Kultur und Körperlichkeit im "Swinging London"

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Wie keine andere Stadt hat das London der 60er Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Kultur der westlichen Moderne geprägt. In seinem Essay zu dem Photo-Band Swinging London. The Sixties. Leben & Kultur 1956 - 1970 gibt der Kunsthistoriker Rainer Metzger Hinweise, warum das so war.

Herr Metzger, welche historischen, ökonomischen und sozialen Faktoren müssen überhaupt zusammen kommen, damit eine Stadt wie London für ein Jahrzehnt zur kulturellen Metropole des Erdballs wird?

Rainer Metzger: Das ist natürlich eine Frage, für dessen Beantwortung man ein ganzes Buch braucht. Auf die Schnelle ist dies kompakt kaum zu beantworten. Natürlich kann man zum Beispiel bei der Erklärung mit der Kompensationstheorie arbeiten: Großbritannien, eine der vier Mächte des zweiten Weltkrieges, verliert in 15 Jahren mehr oder minder seine ganze Identität: Das Empire geht verloren, es gibt große Probleme mit der Währung, de Gaulle verhindert, dass sich England der EWG anschließt und so weiter. England verliert im Hinblich auf seine koloniale Identität außenpolitisch mehr oder weniger alles. Wenn man kulturhistorisch arbeitet, tut man sich aber immer leicht ex post Erklärungen zu liefern.

Rainer Metzger

Ich aber würde sagen: Das wichtigste war kein historischer oder ökonomischer Faktor, sondern es waren die Beatles. Das ist sozusagen der Kontingenzanteil daran, denn es war dieser pure Zufall, dass diese vier Leute in diesem Moment vom Himmel gefallen sind, um die Stadt zu dem zu machen was sie wurde. Das wäre jetzt der personalisierte Teil der Antwort.

"Dieses Land hat sich überrumpeln lassen"

Wie konnten sich in der verarmten, hierarchisch und konservativ geprägten englischen Gesellschaft subversive Elemente einschleichen, die dann weltweit kulturell prägend geworden sind?

Rainer Metzger: Obwohl in England die Kennzeichen einer Klassengesellschaft deutlicher als in anderen Ländern hervortreten, gab es durch die Tradition des Imperialismus immer eine Routine im Umgang mit Fremdheit, eine Toleranz und auch Selbstgenügsamkeit, die dafür ausschlaggebend war, dass sich dieses Land in gewisser Weise hat überrumpeln lassen. Ich erzähle in dem Buch beispielsweise die Geschichte des Spaghetti-Tree-Hoax: Panorama, die Nachrichtensendung der BBC bringt zum ersten April 1957 eine Geschichte, in der von der Spaghetti-Ernte im Tessin berichten, wo die Nudeln einfach in die Bäume gehängt wurde und man so tat, als würden sie einfach so geerntet werden. Dieser Scherz wurde seinerzeit einfach nicht kapiert.

Ein anderes Beispiel sind die Beatles, die als sie 1960 ihr erstes Engagement in Hamburg hatten, sich zuerst um Pässe bemühen mussten. Es war einfach nicht üblich, etwas mit dem Ausland zu tun zu haben.

"Zentrales Medium Körper"

Wie wichtig war für die gesellschaftliche Modernisierung Massenkonsum und jugendliche Subkultur und wo fanden diese ihre Grenzen?

Rainer Metzger: Ich würde drei Dinge pointieren: Es gab mehr Wohlstand, mehr Jugendliche und mehr Möglichkeiten miteinander zu kommunizieren. Das war kein spezifisch englisches Phänomen, das gab es in Kontinental-Europa und den USA auch, hat sich aber dort anders ausgewirkt. Das war aber keine politische Bewegung. Was in Swinging London passiert ist, war eine pure ästhetische und kulturelle Angelegenheit, die als zentrales Medium den Körper hatte. Es hat sich beim Tanzen, in der Kleidung, beim Sich-Artikulieren etcetera eine neue Art von Körperlichkeit entwickelt.

Nikolaus Pevsner - einem deutschen Emmigranten, der sehr viel für die englische Kulturgeschichte getan hat - sagt in seinem Buch The Englishness Of English Art, das zentrale Merkmal der englische Ästhetik wäre eigentlich Disembodyment, also Entkörperlichung. Ab 1960 kommt es dann zu einer Herausstellung von Körperlichkeit als neues Medium. Nehmen sie zum Beispiel, die Pop-Art-Zerstörungsorgien von The Who, den Mini-Rock, der erst einmal in London zum Einsatz kommt, bevor dieser den weltweiten Siegeszug antritt oder die Catsuit-Auftritte von Diana Rigg á la Emma Peel in der Fernsehserie The Avengers.

Hat die Entdeckung des Teenagers als Markt etwas zu diesem Prozess beigetragen?

Rainer Metzger: Das denke ich war nicht so das Tragende. Interessant ist aber im Unterschied zu den 50er Jahren, dass die Protagonisten von Swinging London tatsächlich die Jugend besitzen wie die, an die sie sich wenden. In den Fifties waren die Protagonisten der frühen Pop-Art wie Peter Blake und Richard Hamilton älter. Auch Colin MacInnes, der 1959 mit Absolute Beginners den Jugendroman geschrieben hat, der dann stilbildend wurde, war schon 45. In den 60ern beginnen mit zum Beispiel dem Photographen David Bailey, der kaum älter war als sein bevorzugtes Modell Jean Shrimpton, nämlich 22 war, junge Leute die entscheidenden kulturellen Positionen zu erobern. Die Träger der Kultur hatten also auf einmal das gleiche Alter wie die Adressaten.

"Swinging London war nie stärker als 2000 Leute"

Welche Rolle spielte dabei die Kunst (Pop-Art, Photographie, Film, Musik) und Mode?

Rainer Metzger: Da machen Sie eine interessante Unterscheidung, wo ich sagen würde, das löst sich gerade auf. Pop kennzeichnet, dass diese Unterschiede nicht mehr tragbar sind. Es gibt keine Unterscheidung mehr von Mode und Kunst. Was in Musik, Photographie und Kleidung passiert ist modisch und hat gleichzeitig einen avancierten kulturellen Anspruch. Die mit weitem Abstand wichtigste Rolle spielt aber die Musik. Die bildende Kunst spielt hingegen keine Rolle. Der einzige, der vielleicht etwas dazu hätte beitragen können, war David Hockney, der aber 1964 vor dem englischen Schwulenparagraphen nach Los Angeles geflüchtet ist. Ansonsten geht es bei Mary Quant mit ihrem Mini-Rock schon in den 50ern los, wichtig ist auch Vidal Sassoon mit dem Mop-Top, den Haarschnitt, den auch die Beatles trugen. Bedeutend für die Identitätsbildung waren auch Filme des Swinging London wie Alfie und die Beatles-Filme von Richard Lester.

Mini Mode. Bild aus "Swinging London", Brandstätter Verlag

Nach Swinging London lässt sich nicht mehr so leicht fest machen, was die nachfolgende kulturelle Metropole war: Los Angeles, New York oder Berlin? Heutzutage sind nicht mehr die Metropolen das Zentrale, sondern das, was Saskia Sassen als global cities bezeichnet, die eher ökonomisch als kulturell funktionieren. London ist in dieser Hinsicht das letzte Phänomen und was diese Metropole auszeichnet ist, dass für einen kurzen Moment - Swinging London ist für mich eine Sache von Ende 1963 bis Mitte 1966 - Basteleien, etwa Hinterhof-Visionen einer Garagenband oder krude Vorstellung die man in seiner Stammkneipe entwickelt mit einer allgemeinen Relevanz kurz geschlossen werden konnten.

Carnaby Street 1967. Bild aus "Swinging London", Brandstätter Verlag

Nach 1966 driftet das schon wieder ins Versponnene, Idiosynkratische ab, wo jeder sein eigenes Ding machte, das außerhalb der Zirkel nicht mehr verständlich war. Eine Metropole zeichnet aber aus, dass die Zirkel gleichzeitig allgemein verbindlich sind. In dieser Zeit prägt auch Marshall McLuhan den Begriff des global village. London hatte damals auch einen Dorfcharakter mit globaler Relevanz. Swinging London war nie stärker als 2000 Leute.

Herbert Marcuse und Stokely Carmichael

Inwieweit war die schwarzen Einwanderer aus dem Commonwealth für diese Entwicklung von Bedeutung?

Rainer Metzger: Ich würde sagen, sie hatten wenig Bedeutung. England war nicht nur eine Klassen- sondern auch eine Rassengesellschaft. Bei Colin MacInnes in dem Buch Absolute Beginners werden die Notting Hill Riots der karibischen Einwanderer in den Spätfünfzigern geschildert. Daraus entwickelt sich in den 60er Jahren in der counter culture den Notting Hill-Carnival, das ist aber eher eine Art Wiedergutmachung, die aus dem Underground kommt.

Es ist gerade von Barry Miles, der einer der Träger dieser damaligen Identität war und auch die Galerie hatte, in der sich John Lennon und Yoko Ono kennen gelernt haben ein Buch erschienen: A Countercultural History Of London, in dem er schreibt, dass die Befreiungsbewegung der Schwarzen eine eher geringe Rolle gespielt hat. 1967 gab es einen Kongress "On the dialectics of Liberation", wo auch Herbert Marcuse und Stokely Carmichael dabei waren. Der Kämpfer der Black Panther-Bewegung hat damals gesagt: "Ihr habt euch jetzt für zwei Jahre wichtig und macht einen auf großen Revolutionär und danach geht ihr wieder in eure Mittelstands-Siedlungen." Ich denke das stimmt.

War nicht aber das Interesse zum Beispiel der Mods, also weißen Jugendlichen für schwarze Musik und Kultur nicht wichtig, wo als Nebenfolge ja auch die Londoner R&B-Szene und der Merseybeat entstanden sind?

Rainer Metzger: Liegt nicht das Problem bis heute genau darin, dass es einen Eminem braucht, um schwarze Musik populär zu machen? Das gleiche gilt für Elvis und die Rolling Stones. Ist nicht das Problem, dass es immer wieder einen Weißen braucht, damit schwarze Musik akzeptiert wird? Natürlich sind die Wurzeln schwarz aber die Popularisatoren sind Weiße. Dieser imperialistische Faktor spielt nach wie vor eine Rolle.

Welchen Einfluß hatten dabei Änderungen im Drogenkonsum auf Swinging London?

Rainer Metzger: Man braucht sich nur The Who anhören, die frühen Lieder wie My Generation, die aus dem Einfluss von speed heraus entstanden und ab 1966 Songs wie "I can See for Miles", wo durch LSD-Konsum die Sujets der Lieder tendenziell unendlich werden und eine gewisse Trägheit und Zeitlosigkeit die Lieder ergreift. LSD ist ab 1966 das Treibmittel und macht nach meinem Dafürhalten die Euphorie und Emphase kaputt.

"Flammendes Plädoyer für die Rolling Stones"

Welche soziale Schicht war für Swinging London prägender, die Arbeiterklasse oder das Bürgertum?

Rainer Metzger: Das ist eine interessante Frage und ich würde darauf antworten: Die Aristokratie.

Gentrifizierung in Islington

Warum?

Rainer Metzger: Sie kennen den Begriff Gentrification. Der kommt aus der Zeit um 1900, als die Engländer dessen gewahr wurden, dass ihre großartige Industrie von anderen Ländern eingeholt wird. Damals hat man beobachtet, dass die Industrie-Bosse, die vorher weltweite Geltung hatten, sich langsam den Lebensstil des englischen Landadels, der Gentry aneigneten und nur kurz in ihren Fabriken sich aufhielten, viel lieber Golf spielten und ihre Schlösschen und Gärten gepflegt haben. Sie haben sich gehen lassen und eine Nonchalance betrieben. Der Begriff Gentrification wird 1964 von der britischen Soziologin Ruth Glass auf London, speziell den Stadteil Islington bezogen und zwar so, wie wir ihn heute verstehen.

Carnaby Street 1969. Bild aus "Swinging London", Brandstätter Verlag

Dieser Terminus trifft auch sehr gut den Lebenstil, wie ihn die reichgewordene Pop-Aristokratie pflegte. John Lennon zum Beispiel ist 1964 in die Peripherie gezogen und hat sich selber ein Schlösschen gebaut. Es gibt das Phänomen dass die Bands Aristokraten-Pflänzchen besingen: "Lady Jane" der Rolling Stones bezieht sich auf Jane Ormsby-Gore, die Tochter des britischen Botschafters in den USA, die einen Kingsroad-Boutiquen-Besitzer geheiratet hat. Oder "the lucky man who man the grade", über den die Beatles in A Day In The Life" singen, ist der Guiness-Erbe Tara Browne. Und interessanterweise gibt es ein flammendes Plädoyer für die Rolling Stones nach ihrer Verhaftung wegen Drogenbesitz von William Rees-Mogg, dem aristokratischen Herausgeber der Times, der auf ihre Freilassung maßgeblichen Einfluss hatte. Solche Verbindungen existierten zwischen der alten Aristokratie und der neuen Pop-Aristokratie.

"Esoterische und hermetische Zirkel"

Welche Ereignisse und welche Lieder spiegeln ihre Auffassung von Swinging London am adäquatesten wieder?

Rainer Metzger: John Lennons Spruch bei der Royal Variety Show Ende November 1963 im Prince of Wales Theatre in Sohos Coventry Street, die Königinmutter war unter anderem anwesend, als Lennon für das letzte Stück Twist and Shout um die Mithilfe des Publikums bat. Die Leute auf den billigen Plätzen möchten bitte klatschen, der Rest, er sagte wirklich "The rest of you", solle einfach mit den Juwelen klimpern: "just rattle your jewellry". Schauen Sie sich den Ausschnitt auf Youtube an. Als Lied Dedicated Follower of Fashion der Kinks von Anfang 1966, sozusagen als Zusammenfassung, bevor es dann den Bach runter ging.

Welche Faktoren setzten Swinging London dann ein Ende? Welchen Anteil hatte die Hippie-Bewegung daran?

Rainer Metzger: Die Hippies sind in der Tat die Instanz, die Swinging London ein Ende setzt. Das Idiosynkratisch- und Zeitlos-Werden, die luxoriösen Lebensstile, das Herumhängen etcetera sind Modi, die der speziellen Körperlichkeit, dieser Euphorie und Teilnahme des Swinging London eine Ende setzen. Als wichtigste Einzelinstanz agieren hier wiederum die Beatles.

Hippies im Hyde Park (1967). Bild aus "Swinging London", Brandstätter Verlag

In Tomorrow never knows, wo es heißt "turn off your mind, relax and flow down stream" wird dieser Wechsel deutlich. Die Beatles waren natürlich in erster Linie innovativ, aber sie trugen auch gewisse unterirdische Tendenzen so in die Öffentlichkeit, dass alle irgendwie mitmachten: Die Indien-Begeisterung von George Harrison zum Beispiel oder auch die Tatsache, dass man für die Aufnahme von Strawberry Fields, also ein vierminütiges Lied, vier Wochen Produktionszeit in Anspruch nahm, dieses Zerfleddern in Ungreifbarkeit mit der Textzeile "I think ah- no I mean - ah- yes but it´s all wrong that is I think I disagree", dieses Uneindeutige ist von den Beatles zwar nicht in die Welt gesetzt aber eben zur Kenntnis gebracht worden. LSD war übrigens in England bis zu dem Tag legal, als "Revolver" veröffentlicht wurde. Und die Szene spaltet sich auf in esoterische und hermetische Zirkel mit ihren Versponnenheiten und so weiter.

Sie haben davon gesprochen, dass Swinging London die letzte Metropole war. - Was war dann das London des Punk-Sommers 1976?

Rainer Metzger: Punk war das nächste Phänomen, das London wieder wichtig gemacht hat. Der große Unterschied ist aber, dass Punk nicht mehr unschuldig war. Wir wissen heute, dass Aufruhr und Aufmerksamkeit eine ökonomische Kategorie darstellt, also etwas ist, womit man Geschäft machen kann. Das hat man in den 60er Jahren nicht gewusst.

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