Gesetz und Verbrechen

The Doctor and the Devils

Frische Leichen braucht das Land

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Teil 1: Leichendiebe, Serienkiller und Chirurgen

1816 erreichte der Krieg der Leichendiebe seinen Höhepunkt. Zu Beginn des akademischen Jahres erhöhte Crouch den Leichenpreis, von damals 4 auf 6 Guineen (1 Guinee = 1 Pfund 1 Schilling, wobei ein Pfund 20 Schillinge hatte). Der Anatomische Club lehnte das ab. Die Londoner Krankenhäuser erhielten keinen Nachschub mehr. Nach drei Monaten überredeten die Chirurgen zwei der Snatcher, wieder für den alten Preis zu liefern. Crouch sorgte wie üblich dafür, dass die beiden Männer in flagranti erwischt wurden und drang mit einigen Kumpanen in den Sezierraum eines Krankenhauses ein. Die Bande bedrohte die Chirurgen und wurde festgenommen, nachdem sie drei frische Leichen zerschnitten hatte. Die Chirurgen forderten eine strenge Bestrafung. Crouch drohte, alles öffentlich zu machen. Der Anatomische Club nahm nun diskrete Verhandlungen auf, an deren Ende alle Vorwürfe gegen die Leichendiebe fallengelassen wurden und Crouch sich - finanziell abgefunden - aus dem Gewerbe zurückzog.

Krieg im Friedhof

Der Plan des Clubs, sich des Monopolisten Crouch zu entledigen, auf Seiten der Lieferanten mehr Wettbewerb herzustellen und so das Preisniveau abzusenken scheiterte an der eigenen Vetternwirtschaft. Weil Astley Cooper seinem Neffen Bransby zu einer steilen Karriere verhelfen wollte, fühlte sich Edward Grainger, ein vielversprechender junger Chirurg, zurückgesetzt. Er mietete sich im Haus eines Schneiders ein, gleich beim Friedhof St. Saviour’s, und gab dort im Dachgeschoß ab 1819 Privatunterricht in Anatomie. Damit war er so erfolgreich, dass er 1822 eine aufgelassene katholische Kirche kaufen konnte, die er in eine Sezierakademie umwandelte. Um die neue Konkurrenz auszuschalten, ließ Cooper alle Leichen aufkaufen. Grainger bot mehr Geld. Von dem entstehenden Preiskrieg konnten die Leichendiebe nur profitieren.

Die Nachfrage stieg ohnehin ständig. Neue Anatomiesäle wurden gebaut, die alten erweitert. Mittlerweile gehörte es zum Allgemeinwissen, dass laufend Leichen ausgegraben wurden. Es waren vor allem die Armen, die auf dem Seziertisch landeten, denn die Reichen konnten sich tiefe Gräber, von Dienern bewachte Grüfte und Dreifach-Särge (Holz-Blei-Holz) leisten. Aber eigentlich war niemand vor den Snatchern sicher, die durch Geschicklichkeit und Einfallsreichtum im Tod für eine gewisse Demokratisierung sorgten und Klassenunterschiede aufhoben. Viele Wachmänner ließen sich bestechen wie bisher auch, und 1829 deckte Thomas Wakley den Fall eines Anatomen auf, der einen Friedhof unterhielt und doppelt kassierte: von den Hinterbliebenen für ein sicheres Begräbnis und von den Studenten für die Leiche.

Mortsafes auf dem Friedhof von Logierait, Perthshire, Schottland. Bild: Judy Willson. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Man schützte sich, so gut man konnte. Die Zahl der Sargnägel wurde zum Statussymbol. Gemeinden errichteten Wachhäuser (gut erhalten im Londoner Stadtteil Wanstead und in St. John Horselydown, Bermondsey), von denen aus die nächtliche Totenruhe verteidigt werden sollte. In Glasgow formierte sich eine Vereinigung von Friedhofswächtern, die Gewehre an ihre 2000 Mitglieder ausgab. Man sorgte für Beleuchtung und sicherte die Gräber mit Tellerminen, Fallen und Selbstschussanlagen. Es ist kein Fall eines dadurch verletzten Leichendiebs bekannt (deren Frauen erkundeten tagsüber, als Hinterbliebene getarnt, das Terrain), aber für harmlose Passanten wurden die Friedhöfe so zum Sicherheitsrisiko. Einige Gemeinden bauten burgähnliche Totenhäuser, in denen die Leichen gegen Gebühr so lange aufbewahrt wurden, bis die Verwesung sie für die Chirurgen unbrauchbar gemacht hatte (im Friedhof des schottischen Ortes Crail ist noch eines zu sehen, aus dem Jahr 1829). Wer sich das nicht leisten konnte, mischte wenigstens Holzstäbe und Stroh unter die Graberde, um den Schaufeln der Resurrection Men mehr Widerstand entgegenzusetzen.

Vor allem in Schottland verwendete man sogenannte mortsafes: eiserne Käfige, in denen die Särge begraben oder die über den Gräbern festgemörtelt wurden (im Greyfriars-Friedhof in Edinburgh sind mehrere Exemplare zu besichtigen, und eines ist im Kirchhof von Henham in Essex erhalten). Viele Gemeinden - zum Beispiel Colinton, wo der Großvater von Robert Louis Stevenson Priester war - legten sich wiederverwendbare Mortsafes zu: riesige sargförmige Steine oder Eisenteile, die man über frische Gräber wuchtete. Auch solche Vorrichtungen garantierten keine ungestörte Totenruhe. 1915 wurde bei Grabungen im Kirchhof der schottischen Ortschaft Aberlour ein Mortsafe aus Eisen entdeckt, der einen leeren Sarg enthielt.

Mortsafe am Greyfriars Kirkyard, Edinburgh. Bild: Kim Traynor. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

1818 ließ sich Edward Bridgman, ein Talghändler und Bestattungsunternehmer aus London, einen neuen Sarg patentieren. Bridgmans schmiedeeiserner Patentsarg hatte Schnappverschlüsse an der Innenseite des Deckels, der sich deshalb nicht abheben ließ, und er konnte auch von der Seite nicht geöffnet werden. Der Sarg, das Stück zu 3 Pfund 10 Schillingen, war eine Sensation. Aber nachdem etwa hundert verkauft waren, kam es zum Eklat. Besonders in London waren die Friedhöfe, wie schon bemerkt, schrecklich überfüllt. Bridgman sah darin eigentlich einen Vorteil für seinen Eisensarg, denn er war kleiner als herkömmliche Holzmodelle. Aber er rostete zu langsam. Wenn es eng wurde, zerschlugen die Totengräber mit Spaten die alten Särge und schafften so mehr Platz. Mit dem Patentsarg war das nicht zu machen. Die Friedhofsverwaltung verlangte deshalb mehr Geld, oder sie verweigerte die Annahme.

Eisener Sarg in Colinton, nahe Edinburgh. Bild: Kim Traynor. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Im Februar 1819 - die Times berichtete - wollte ein gewisser Mr. Gilbert seine tote Gattin in Bridgmans Patentsarg beerdigen lassen. Mr. Clare, Rektor von St. Andrew’s in Holborn, hatte wenig Platz. Er wollte den Sarg unter die Erde bringen, aber nur als einmalige Ausnahme und gegen eine besonders hohe Gebühr. Das ärgerte Mr. Gilbert. Er verklagte Mr. Clare, der vor einer Entscheidung starb. Der Bischof von London schlug vor, Mrs. Gilbert vorläufig in einer Holzkiste und später, falls Mr. Gilbert den Prozess gewinnen sollte, im Eisensarg zu bestatten. Das war aber schon deshalb schwierig, weil die Tote bereits im Patentsarg lag, der sich nicht öffnen ließ. Zeit verging. Nach fünf Monaten sah Mr. Gilbert sich mit Strafverfolgung bedroht, weil er den Leichnam seiner Frau immer noch nicht beerdigt hatte. Das rief nun den Fabrikanten Bridgman auf den Plan. Am 11. Juni erschien er mit Witwer, Frau und Sarg vor den Friedhofstoren. Der Küster verwehrte ihnen den Zugang. Es kam zu Tumulten. Schließlich wurde Bridgman als Rädelsführer festgenommen. Mr. Gilbert blieb nur ein Trost: seine Gattin war für die Snatcher längst unbrauchbar geworden. (Wer wissen will, wie bissig der mitunter als gefühlsduselig verkannte Charles Dickens sein konnte: Der Beerdigungsunternehmer Mr. Sowerberry in Oliver Twist besitzt einen Bridgman-Patentsarg im Miniaturformat und verwendet ihn als Schnupftabaksdose.)

Ergebnisoffene Untersuchungen

Für die Kunden der Resurrection Men waren solche Ereignisse höchst unangenehm, weil dauernd in der Zeitung stand, dass sie unter der Hand Leichen kauften. Ärger bereiteten den Anatomen und Chirurgen auch Fortschritte in der Medizin, die große Erfolge mit Wiederbelebungsmaßnahmen an scheinbar Ertrunkenen feierte. Berichte darüber waren eine ständige Erinnerung daran, dass niemand genau wusste, wo das Leben aufhörte und wo der Tod begann, wo die Seele zu suchen war und wie lange es dauerte, bis sie den Körper verlassen hatte. Verurteilte, die am Galgen sterben sollten, taten das meistens nicht so wie im Film, schnell und durch Genickbruch, sondern qualvoll, zappelten oft minutenlang in der Luft, während der Strick langsam die Luftröhre eindrückte. Ein bewusstloser Delinquent, der für tot gehalten und vom Galgen abgenommen wurde, hatte eine Chance, das Ganze zu überleben, wenn seine Luftröhre noch funktionstüchtig und das Hirn nicht zu lange ohne Sauerstoff gewesen war. Das kam nicht sehr häufig vor, doch es passierte. Wenn der Gehängte aber auf dem Seziertisch landete, wurde er womöglich bei lebendigem Leib zerteilt.

In einem solchen Fall - wie theoretisch er ist, weiß auch niemand so genau - wurden die Anatomen selbst zum Henker, was ihnen wenig Freunde machte. Ohnehin lebten sie gefährlich. In London verlegte man 1783 die Hinrichtungen von Tyburn direkt ins Newgate-Gefängnis, um gewalttätige Ausschreitungen (auch gegen die Chirurgen) zu unterbinden. In den 1820ern rächten sich in Carlisle die Freunde eines sezierten Mörders an den beteiligten Medizinern: alle wurden schwer verletzt, einer getötet, ein anderer überlebte nur knapp einen Schuss ins Gesicht. Morddrohungen waren an der Tagesordnung. Zur Hebung ihres sozialen Status hatten sich die Chirurgen 1745 von den Barbieren getrennt. Jetzt fanden sie sich in der Gesellschaft von Henkern, Leichendieben und korrupten Totengräbern wieder. Das war aber nur das eine Problem. Ein anderes, die weiter steigenden Preise für frische Leichen, gefährdete zunehmend ihre Geschäftsgrundlage.

Die Kosten wurden direkt an die Studenten weitergegeben. Nach Napoleons Niederlage und dem Pariser Vertrag von 1815 tat sich eine Alternative zum teuren Anatomiestudium in Großbritannien auf. Das Reisen auf dem Kontinent war wieder sicherer. In Deutschland durften den Anatomen die Leichen von Selbstmördern, Prostituierten und Hingerichteten übergeben werden; in Frankreich die Toten, die man in Flüssen oder auf der Straße fand, die in öffentlichen Einrichtungen gestorben waren und für die sich kein Verwandter interessierte. Das machte alles viel billiger. Wer als angehender Mediziner seine anatomischen Kenntnisse in Paris erwarb, sparte Geld und konnte das Studium mit der Kavalierstour durch Europa verbinden, die damals zum Lebenslauf der Gebildeten gehörte.

In dieser schwierigen Gemengelage ereignete sich ein folgenschwerer Vorfall. 1827 gruben drei Männer im Friedhof von Warrington den Leichnam einer jungen Frau aus. Die Täter wurden erwischt. Zusammen mit ihren Auftraggebern, einem Medizinstudenten und einem auch als Chirurg arbeitenden Apotheker, landeten sie vor Gericht. Im März 1828 wurden die drei Leichendiebe freigesprochen. Die beiden Anstifter aber wurden verurteilt, weil sie die Leiche in Empfang genommen hatten. In Liverpool war kurz zuvor ein Anatomielehrer verurteilt worden, weil er einen Leichenraub in Auftrag gegeben hatte. Von nun an konnte der Besitz bestraft werden. Jeder Anatom im Lande war über Nacht zum potentiellen Kriminellen geworden. Das britische Parlament hatte sich bisher vornehm zurückgehalten. Mit der Gefährdung hochrangiger Chirurgen wuchs der Druck, endlich in der Angelegenheit aktiv zu werden.

Noch ehe die Geldbußen gegen die Verurteilten von Warrington verhängt worden waren (20 Pfund für den Apotheker, 5 für den Studenten), hatte sich unter Vorsitz des Abgeordneten Henry Warburton ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss zum Anatomieunterricht gebildet. Befragt wurden Chirurgen, Leichendiebe (anonym), Polizisten und Richter. Für London ging der Ausschuss von zehn hauptberuflichen Leichenräubern und etwa zweihundert Teilzeitkräften aus. Die Anatomen verabscheuten die Profis, weil sie die Preise verdorben hatten. Von der Polizei wurde ihnen dagegen ein gutes Zeugnis ausgestellt: im Gegensatz zu Gelegenheitsdieben und dilettierenden Studenten waren sie - wenn nicht gerade in Bandenkriege verstrickt - gut organisiert, verschwiegen, diskret und fleißig.

Als im Juli 1828 die Resultate publik wurden, sah sich die britische Öffentlichkeit erstmals mit dem Ausmaß des Body Snatching konfrontiert. Warburtons Ausschuss legte Wert darauf, dass seine Untersuchungen "ergebnisoffen" durchgeführt worden seien (wie man heute sagen würde) und legte doch einen Bericht vor, der ein PR-Instrument für ein neues Anatomiegesetz war. Die Verbesserung von Forschung und Lehre, so der Ausschuss, sei ein bedeutender Wirtschaftsfaktor; vor allem aber könnten so viele Menschenleben gerettet werden. Ein Studium der Chirurgie und Anatomie dauerte im Schnitt sechzehn Monate. Nach Meinung der befragten Fachleute brauchte jeder Student drei Leichen (zwei für anatomische Studien, eine zum Erlernen von Operationstechniken). Astley Cooper, der Präsident des Royal College of Surgeons, versicherte, die aktuelle Zahl von siebenhundert Studenten in London deutlich steigern zu können, wenn erst einmal die Versorgung gesichert und die Abwanderung zu kontinentalen Anatomieschulen gestoppt sein würde. Warburtons Ausschuss assistierte ihm mit einer Statistik. 1827 starben 3744 Menschen in den Londoner Arbeitshäusern. 3103 wurden auf Kosten der Allgemeinheit begraben, und in geschätzten 1108 Fällen waren weder Verwandte noch Freunde anwesend. Daraus konnte jeder seine Schlüsse ziehen. Der Ausschuss hütete sich, konkrete Vorschläge zu machen.

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