Ein Tangokönig aus Finnland

Dass der argentinische Tango die "Melancholie der Vorstädte" von Buenos Aires reflektiert, dass er ein "trauriger Gedanke" sei, "den man tanzen" könne, ist hinlänglich bekannt. Aber der Tango - aus Finnland?

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Heuer jährt sich der Todestag des finnischen Tangokönigs Olavi Virta zum 40. Mal.1 Zum Thema Finnland (bitte immer dran denken, auf Deutsch mit zwei N!) schrieb mir ein Freund unlängst: "Eines der Länder, in denen ich immens nicht leben möchte." Und klar, man denkt an Winter mit monatelanger Schneedecke und fast kompletter Dunkelheit, an Sauna und Nacktbaden im Eisloch, an Braunbären, die pfeifend (wirklich: pfeifend!) durch die Wälder stromern, oft sogar in unmittelbarer Nähe menschlicher Behausungen.

Aber ja! Finnland hat eben auch den Tango, eine eigene Unterart mit schwerem Stiefel auf dem Parkett, eng umschlungen getanzt, mit seufzendem Herzen, unmittelbar an der Tränengrenze. Und es hatte seinen eigenen Tango-König, Olavi Virta, der zwar nun schon seit 40 Jahren nicht mehr unter den Lebenden weilt, der aber in Finnland weiterhin unsterblich ist.

Hört man heute mit deutschen Ohren und des Finnischen nicht mächtig die Aufnahmen dieses Sängers, fühlt man sich unmittelbar an alle Schlager erinnert, die man so aus den 1950er Jahren kennt: Hazy Osterwald, die Cypris, und dergleichen - auch wenn die Stimme dankenswerterweise nicht unmittelbar an Peter Alexander oder Freddy Quinn erinnert. Und man gnädigerweise auch rein gar nichts versteht.

Olavi Virta. Foto: Warner Music Helsinki.

Es ist ein Gefühl, als steige man in jenes Paralleluniversum ein, wo die Schlager der Fifties wie gehabt (und doch irgendwie anders) daherkommen. Finnisch klingt phonetisch fast wie Deutsch. Vielleicht ein bisschen mehr gebellt, aber ohne dieses dänische Genöle. Kein schwedisches Genuschel, keine holländische Kartoffel im Mund. Jede Silbe wird deutlich ausgesprochen, man fühlt sich animiert mitzusingen. Obwohl man natürlich trotzdem immer noch kein Wort versteht.

Hier also rasch eine kurze Übersetzung, zur Einstimmung. Der Titel: "Du siehst keine Träne". Und los geht’s: "Du siehst keine Träne, obwohl mein Herz weint, auch keine Sehnsucht, obwohl du weggegangen bist. Schon einmal hat meine Hand die Tränen weggewischt. Vielleicht bringt der morgige Tag mir das Vergessen. Ich habe dir mein Herz gegeben, du hast mir nur Seelenqualen bereitet. Glücklich war auch ich einmal, glücklich, weil ich dich hatte. Aber derjenige, der in der Welt zu viel Glück erwartet, bekommt den bitteren Kelch der Enttäuschung zu trinken, usw."

Und so weiter singt er nicht, da bin ich jetzt vorzeitig aus dem Lied ausgestiegen. Aber was will man? Genau so sind die Texte beim argentinischen Tangokönig, Carlos Gardel auch. Und wenn die griechische Sängerin Haris Alexiou einmal "Fast einen Tango" hinsetzt, dann geht es mit fast tränenerstickter Stimme ebenfalls um Abschied.2

Olavi Virta war zweifellos der finnische Tangokönig. Der Vergleich mit seinem argentinischen Gegenpart, der Tangolegende Carlos Gardel, ist durchaus berechtigt. Oder umgekehrt: Gardel lässt sich mit Virta vergleichen. Beide sind (im Rahmen ihrer jeweiligen Länder) die absoluten "Kings". Gardel singt allerdings mit viel Schmelz und Pathos (was einem selbst bei einer schönen "La Violeta" rasch mal auf den Geist gehen kann), wo Virta sauber, ganz ohne sich anzustrengen, ohne Theatralität vorträgt. Seine Musik, meint man in Finnland, sei "nicht bedrückend". Mit Schlagerohren gehört, wie den meinigen, die jede Schnulze von Peter Kraus bis Dean Martin, von Connie Francis bis zum Kingston Trio kennen, überrascht mich Virta eigentlich nie. Aber, was wichtiger ist: er stößt mich auch an keiner Stelle wirklich ab.

Und Peter von Bagh, ein sehr geschätzter finnischer Kritiker, einer der Verfasser des Buches AOlavi Virta- legenda jo eläessään (1995) schreibt im Internet unter Sininen laulu, Suomen taiteiden tarinaa ("Das blaue Lied, Geschichten aus der finnischen Kunst") u.a. Olavi Virtas "Technik und Phrasierungskunst" seien "unschlagbar" gewesen. Das gleiche gälte für "sein Interpretationsvermögen, seine künstlerische Sichtweise [und] sein fantastisches Vermögen, die geheimen Bedeutungen hinter den Texten herauszufinden." Das ist gut zu wissen.

Gleichzeitig aber galt für Virta bei Plattenaufnahmen das Prinzip der Lockerheit. Meistens hatte er sich kaum vorbereitet, er las die Noten im Studio, vielleicht summte er ein wenig vor sich hin oder dachte über die Bedeutungen der Worte nach, aber er sang den Text vorher nie durch - und dann wurde das Ganze einfach aufgenommen. Sein Ziel war es, dass alles immer beim ersten Mal gelingen sollte. Was auch öfters der Fall war. Virta meinte, wenn man ein Lied mehrmals singen müsste, litte darunter die Farbe der Interpretation und die Stimmung. Die Aufnahmen wurden im allgemeinen gemacht, bevor das betreffende Lied auf den Tanzflächen allzu bekannt wurde; so blieb in der damaligen Zeit der langsameren Kommunikation der Eindruck länger erhalten, dass hier ein neues, wichtiges Lied entstanden sei, ebenso der Eindruck des Persönlichen, der Frische. (Das jedenfalls waren Virtas eigene Gedanken zum Thema, aus einem Interview im Sommer 1958. Der Interviewer hieß Leevi Korkkula).

Aus von Baghs Buch erfährt man außerdem, dass der Tango gerade in der damaligen Situation nach dem Zweiten Weltkrieg gut in die gefühlsmäßige Situation in Finnland hinein passte. Schon in den ersten Rhythmen eines Tangos könne man die Spuren vom Zweifel und Schicksalsglauben im Nachkriegsfinnland erspüren. Er zitiert Jukka Ammondt (einen finnischern Akademiker, der zahlreiche finnische Tangos auf Lateinisch, und sogar Elvis-Songs auf Lateinisch gesungen, und viele Aufnahmen davon gemacht hat, also eine Berühmtheit in seinem Heimatland) mit der Anmerkung, dass das Wesentliche am finnischen Tango die Sehnsucht nach einer Zeit sei, wo "alles gut" war. Der Tango sei eine Art Psychoanalyse oder Urschrei-Therapie. Die großen Tangosänger Finnlands wollten nicht nur, dass die Leute zueinander fänden. Sie wollten den Leuten auch helfen, wenn sie Liebeskummer hatten. Von Bagh meint, der finnische Tango enthielte ähnliche Elemente, wie jene, die John Lennon, der von der Urschrei-Therapie begeistert war, auf seiner stürmischen Platte Plastic Ono Band und besonders in seinem Song "Mother" zu bieten hatte. Auch das war mir bisher neu.

Nun ein kleiner Sprung zur Erklärung des großen Fotos, das diesen Artikel begleitet. Das Original des Bildes ist verloren gegangen, und die netten Leute bei Warner Music Helsinki, haben es freundlicherweise aus einem CD-Beiheft gescannt und eigens für diesen Artikel zur Verfügung gestellt.

Foto: Warner Music Helsinki.

Das Foto zeigt den Sänger mit einem Chevy Bel Air Four-Door Sedan von1958, der zwar vier Türen hat (hinter dem Sänger ist der Türgriff der Hintertür sichtbar), der aber keine B-Säule zwischen den Vorder- und Hintertüren besitzt (wie man hinter dem Innen-Rückspiegel erkennen kann).

Dieses Modell ist seltener als die Zwei-Türen-Version (ohne Mittelsäule zwischen Vorder- und Hintertür) und die Standard-Version mit vier Türen und Mittelsäule. Die Käufer dieser speziellen Version wollten zwar ein Auto mit vier Türen ihr Eigen nennen, sich jedoch von der Allgemeinheit unterscheiden ("von der Masse ein bisschen abheben") und jenem eleganteren Zweitürer-Modell näher kommen.

Diese Version (es gab dann auch die "dicke" V8-Version mit einem 5.3 Liter Motor und einem flachen großen V, das das Chevrolet Emblem auf der Motorhaube umschließt und im Heck auf jeder Seite drei Rückleuchten hat) sieht durch die fehlende Mittelsäule einfach eleganter und leichter aus, als die im Vergleich "plumpere" Version mit vier Türen. Sie hatte deswegen ein verstärktes, dem Hard Top ähnliches Dach und war dementsprechend teurer als die Standardversion.

Ab 1958 mussten alle PKWs in den USA per Gesetz vorne zwei Doppelscheinwerfer haben. Bis 1957 sah man bei verschiedenen Modellen der Chrysler-"Familie" je einen kleineren und einen größeren Scheinwerfer auf jeder Seite vorne; z. B. bei Dodge, Plymouth und DeSoto. Da war der Trend zu den Doppelscheinwerfern schon klar zu erkennen.

Mich verwunderte es, dass Virta, unbeschadet seines Rufs als König des Tangos, in Finnland einen solchen Wagen erworben haben sollte. Und das Auto sieht, betrachtet man sich das Bild genauer, auch schon etwas angeschlagen aus. Also tippte ich auf einen Gebrauchtwagen, Mitte 60er Jahre, und tatsächlich bestätigte mir eine Freundin aus Finnland:

Ja, du hast recht. Es war allgemein bekannt, dass dieser Wagen ihm zur Verfügung stand. Das wusste ich nicht, dass der Wagen einem anderen Mann namens Toivo Maja aus Alavus gehörte. [Der Lebensgefährte der Freundin] kommt aus Alavus und eine Verwandte von Toivo Maja hat es ihm erzählt. [Der Lebensgefährte] hat den Wagen zwar nicht selber gesehen, aber diese Verwandte hat er durchaus persönlich besucht. Darüber hat man auch in einer Zeitschrift namens Hymy geschrieben.

Diese Zeitschrift Hymy scheint sozusagen das finnische Häme-Blatt gewesen zu sein. (Es existiert immer noch.) Ein Hauptanliegen von Hymy war es denn auch, den fortschreitenden Verfall des Sängers gegen Ende seines Lebens mit bissigen Kommentaren zu begleiten.

Foto: Warner Music Helsinki.

Es begann damit, dass Ilta-Sanomat (eine Nachmittagszeitung, die auch heute noch erscheint) als erste am 18. März 1959 darüber schrieb, dass die Auftretenden einer Gesangstournee "hinüber" gewesen seien. In Wirklichkeit war nur derjenige, der die Ziehharmonika spielte, so betrunken gewesen, dass er nicht auftreten konnte. Auch Virta wurde beschuldigt, dass er betrunken war. Das war er tatsächlich, aber er war dennoch imstande gewesen, aufzutreten. In Ilta-Sanomat wurde Virta hier nun auch erstmals als "The Singing Meatball" tituliert, also als "singender Fleischklopps."

Anfang der 60er Jahre kamen dann die Skandalgeschichen des Klatschblatts Hymy dazu. Hier wurde Virta regelmäßig als "singendes" oder "tanzendes Fleischbällchen" bezeichnet, und als ein Sänger, der eben stets betrunken auf der Bühne stand. Dazu meinte meine finnische Freundin:

Wegen dieser Artikel wurde Olavi Virta nicht mehr so oft gefragt und sein Untergang hat begonnen. Bestimmt sind viele Sänger betrunken aufgetreten, aber er war ein Begriff und Hymy hat daraus eine Sensation gemacht.

Die Bedeutung dieser Beschimpfung war mir nicht sofort klar. Fleischbällchen, meinetwegen auch Klopps oder Bulette, erschien mir als nichts weiter als ein anderes Wort für "Fettsack". Ja, aber, wie mir die finnische Freundin erläuterte,

Er war Kulinarist, ein sehr guter Koch, seine Fleischbällchen waren sehr gut, das war sein Lieblingsgericht.

Da waren wir noch auf dem Holzweg. Ich dachte: Vielleicht trinkt man dazu harte Schnäpse, und daher Fleischbällchen ist gleich Alkoholiker? Meine Freundin schrieb zurück:

In Finnland trinkt man normalerweise beim Essen Milch, heutzutage oft auch Wasser. Ich habe eben [einen Freund, der Virta kannte] angerufen und er sagte, wenn sie in einem richtigen Restaurant waren, dann hat man dazu Bier und ab und zu auch Schnaps getrunken. Damals gab es oft auch sogenannte Milchbars, da haben sie meistens Limonade dazu getrunken. In den Milchbars gab es keinen Alkohol. Auf Partys hatte man die meatballs in einer Schale und man nahm sich so viele, wie man wünschte, es gab immer reichlich davon. Natürlich sind köttbullar auch in Schweden sehr beliebt. Das ist und bleibt eine Tatsache. Bei Ikea überall auf der Welt bekommt man auch heute noch Fleischklößchen mit Preiselbeeren als typisch schwedisches Gericht. Im Normalleben in Finnland denkt man aber gar nicht daran, dass es etwas Schwedisches wäre, sondern man betrachtet es als etwas typisch Finnisches.

Allmählich wurde mir dann klar, dass es wohl an dieser schwelenden Konkurrenz zu den Schweden liegen musste. Die Finnen möchten ungern mit den Schweden in einen Topf geworfen werden, und vielleicht lag die besondere Form der Beleidigung hier darin, dass man unterschwellig dem finnischen Tango-König unterstellte, er hätte zu viele schwedische Hintern geküsst.

Foto: Warner Music Helsinki.

Olavi Virta hat 591 Songs aufgenommen. Etwa 50 davon waren komplett oder teilweise seine eigene Produktion; von den 50 sind 12 von ihm völlig komponiert und getextet. Die Tangos (136 aufgenommen von ihm) machen nur 23 Prozent seiner Produktion aus. "Ich will ein volles Leben leben. Ich will nicht älter als 50 Jahre werden" sagte er einmal. Tatsächlich wurde er 57; die letzten zehn Jahre seines Lebens verbrachte er in völliger Armut.

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