Von angenehmen Hunden und schwierigen Beziehungen

Interdisziplinarität als kulturelle Herausforderung

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"Interdisziplinarität als kulturelle Herausforderung" ist ein eigenartiges Thema, denn Interdisziplinarität und Kultur sind zwei Begriffe, denen man auf den ersten Blick nicht ansieht, was sie miteinander zu tun haben sollten. Trotzdem oder gerade deswegen wurde dieses Thema im Frühjahr 2012 als Arbeitsaufgabe im Rahmen der Ausschreibung einer bayerischen FH-Professorenstelle für Angewandte Kulturwissenschaft gestellt. Bei solchen Themenvorgaben für die entsprechenden Bewerbungsvorträge ist es üblich, die Prüflinge mit komplexen Konstruktionen herauszufordern, wie zum Beispiel mit grammatikalischen Grenzfällen wie "Wann ist Design". Was den Zusammenhang zwischen Interdisziplinarität und Kultur angeht, besteht die Herausforderung im scheinbar nicht existenten Zusammenhang von beiden Begriffen.

Interdisziplinarität ist ein sehr wissenschaftlicher Begriff, der darum vor allem in wissenschaftlichen Texten auftaucht bzw. in wissenschaftlichen Fördergeld- Anträgen. Kultur hingegen ist ein sehr allgemeiner Begriff. Er entstammt dem lateinischen Wort cultura und bedeutete ursprünglich so viel wie bebauter Ackerboden. Im Laufe der Zeit ging diese Bedeutung über in so etwas wie gut bestellte Handlungsmuster - und in dieser Bedeutung ist der Begriff Kultur mittlerweile um die 2500 Jahre alt, und darum so gut eingearbeitet, dass der Begriff heutzutage überall begegnet. Sogar so etwas wie Joghurtkulturen soll es geben, doch meist ist die Rede von Kultur, wenn es um so erhabene Dinge wie Opern oder literarische Lesungen geht. Oder aber im Fall von Kindererziehung: Eltern argumentieren gerne mit Kultur, wenn sie ihren Zöglingen den Umgang mit sauberem Besteck oder gutes Benehmen im Allgemeinen beizubringen versuchen. Darum erkennt man Kultur oft daran, dass es etwas ist, was Kinder nicht selten langweilig und überflüssig finden. Denn Kultur besteht aus Kulten. Solche Sachen müssen trainiert werden, und darum gibt es auch kaum Menschen, die eine Wagner-Oper beim ersten Mal gut finden.

Kultur wird in diesem Sinne meist definiert als jede Art von kollektiven Handlungs- und Denkmustern, mit denen man sich in einer Gruppe irgendwie untereinander verständigt. Das zumindest ist die Definition des Philosophen Ludwig Wittgenstein. Man könnte dem noch hinzufügen, dass man mit diesen Übereinkünften zwei Sachen garantiert: erstens so etwas wie eine Selbsterhaltung der Gruppe. Die einzelnen Gruppenmitglieder sollen sich nur in seltenen Fällen gegenseitig umbringen, auch nicht mit sauberem Besteck. Und zweitens funktionieren diese Kulte als gemeinsame Handlungen. Sie erzeugen ästhetische Gefühle, wie zum Beispiel das Gefühl von Sinn. Oscar Wilde sagt: Wer in schönen Dingen einen Sinn entdeckt, hat Kultur. Und sie erzeugen das Gefühl von Vertrauen. Das ist eines der wichtigsten sozialen Gefühle überhaupt.

Vertrauen innerhalb einer Gruppe geht aber oft einher mit Misstrauen gegenüber einer anderen Gruppe. Man kennt das von den Problemen bei der interkulturellen Verständigung. Davon liest man tagtäglich in den Zeitungen. Und Augustinus soll darum angeblich auch gesagt haben, der Umgang mit dem eigenen Hund sei angenehmer ist als der Umgang mit einem Menschen, dessen Sprache man nicht versteht. Und das gilt erst recht für den Umgang mit fremden Disziplinen.

Von was sollten interdisziplinäre Schriften handeln?

Der größte Grund für alles Misstrauen innerhalb der Wissenschaften ist folgender: Es gibt nämlich so etwas wie große Lager innerhalb der Wissenschaft mit zwei ganz verschiedenen Kulturen, nämlich auf der einen Seite die Naturwissenschaften und auf der anderen die Geisteswissenschaften. Also auf der einen Seite Fächer wie Maschinenbau und Automobiltechnik, auf der anderen Fächer wie Germanistik oder Philosophie. Es gibt darüber einen berühmten Aufsatz von Charles Percy Snow. Der Aufsatz heißt, Two Cultures: "Die zwei Kulturen". Der Text ist von 1959, aber er gilt immer noch als aktuell und als wichtigster Text zum Thema Interdisziplinarität. Darin steht: Die Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften sind zwei völlig verschiedene Kulturen. Die stehen sich so fremd und ratlos einander gegenüber wie zwei Volksstämme mit völlig unterschiedlichen Sprachen und Sitten. Sie sehen nicht nur völlig verschieden aus, die reden rituell auch über ganz verschiedene Dinge. Die einen reden über Thermodynamik oder Metallwiderstände. Die anderen über die Metaphern der ästhetischen Wahrnehmung in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Oder über Bücher, die sich der spekulativen Weiterführung der Seinslehre bei Leibniz aus einer Anregung durch das dialektische Prinzip Hegels widmen. Ohne solche Bücher schlecht reden zu wollen, ist die Kluft zwischen den beiden Lagern doch nachvollziehbar.

Man hat lange Zeit versucht, diese große Kluft mit einer ergänzenden Disziplin zu schließen. Mit irgendetwas, was man dann eine dritte Kultur genannt hat. Aber sieht bis heute so aus, als ob da auch keine vierte, fünfte oder sechste Kultur geholfen hätte. Denn dafür gab es einfach zu viele Probleme. Allen voran haben sich im Lauf der letzten Jahre immer mehr Einzeldisziplinen und Fachrichtungen herausgebildet und im Zug der Studienreformen wurden viele Fächer immer verschulter. Die gegenseitige Abschottung wurde dadurch eigentlich immer größer. Niemand hat davon profitiert. Außer den Wissenschaftstheoretikern, die dann genau diese Problematik untersuchen durften. Und auch die waren dann übereinstimmend der Meinung: Interdisziplinarität sei mittlerweile so eine Art Phantombegriff geworden. Oder Etikettenschwindel. Denn meistens ist, wenn irgendwo Interdisziplinarität draufsteht, keine Interdisziplinarität drin. Sondern die sogenannte Multidisziplinarität, ein Nebeneinander von verschiedenen Disziplinen.

Darum gibt es auch kaum interdisziplinäre Bücher. Es gibt viele Bücher über die Theorie der Interdisziplinarität, aber kaum praktische Umsetzungen der Theorie. Vor allem in Deutschland. Hier werden solche Bücher oft deswegen von den Verlagen abgelehnt, weil die Kalkulationsabteilungen der Verlage dann argumentieren: Man kann bei dem Buch nicht sagen, in welche Sparte es gehört, also können wir den Buchhändlern auch nicht sagen, in welches Regal sie das Buch stellen sollen. Und dann wird das Buch abgelehnt.

Das ist dann natürlich schade, schade für unsere Kultur, die dann keine interdisziplinären Bücher bekommt. Aber wovon sollten solche Bücher dann auch handeln? Von Metallwiderständen im Licht der Seinslehre bei Leibniz? Ist das wichtig? Wirklich wissen tut das ja keiner so recht.

Denn das Problem bei dieser großen Kluft ist, dass es in den Geisteswissenschaften um Dinge geht, die sich nur schwer naturwissenschaftlich erfassen lassen. Es gibt keine offizielle Einheit für emotionale Ergriffenheit oder literarische Tiefe. Also können Naturwissenschaftler und ein Geisteswissenschaftler ab einem bestimmten Punkt tatsächlich nicht mehr miteinander zusammenarbeiten, denn dann gibt es keine gemeinsamen Vokabeln mehr. Und damit ist letztendlich nicht zu klären, ob Naturwissenschaften und die Geisteswissenschaften was auch immer aneinander versäumen.

Mit der Universalsprache wurde es nichts

Und weil diese Angst, vielleicht etwas zu versäumen, seit Beginn der Wissenschaften einzelne Wissenschaftler sehr gequält hat, hat man immer wieder überlegt, was man machen kann. Darum hat man lange Zeit versucht, eine Art Universalsprache für alle Wissenschaften zu entwerfen, ein Esperanto der Disziplinen. Da wurden viele Modelle entworfen und am Schluss hieß es: Am besten lernen jetzt alle die naturwissenschaftliche Sprache der Physik, die ist am genauesten. Das hat aber nicht so recht funktioniert. Kaum war die Idee auf dem Tisch, ist auch in der Physik das Gleiche passiert wie überall: Sie hat sich in viele neue Fachrichtungen zerstreut, die haben sich untereinander zerstritten, und somit war die Idee von der Universalsprache ganz schnell wieder vom Tisch.

Die ganze Diskussion über eine demokratisierende Universalsprache blieb ergebnislos und hatte nichts gebracht, außer dass man damit die Psychologen damit auf eine bestimmte Idee brachte, nämlich auf die, dass man als Psychologe ja gar kein schöngeistiger Geisteswissenschaftler ist, Geisteswissenschaftler werden ja sowieso nie für voll genommen, sondern eigentlich sind Psychogen ja knallharte Naturwissenschaftler. Mit viel Anspruch auf sehr teure Forschungslabors. Da wurden dann viele Fördergeldanträge gestellt. Und in denen wurde viel mit Interdisziplinarität argumentiert. Manchmal wurde da als Interdisziplinarität anerkannt, wenn zum Beispiel ein Entwicklungspsychologe und ein Persönlichkeitspsychologen miteinander zusammengearbeitet haben. Zu Recht, denn was entsteht, wenn Sie einen Entwicklungspsychologen und einen Persönlichkeitspsychologen zusammenarbeiten lassen? Interdisziplinarität. Weil danach ganz interdisziplinär sowohl ein Kriminalpsychologe als auch ein Krankenwagen zu konsultieren ist...

Diese flächendeckende relative Ergebnislosigkeit ist derzeit der Stand an den deutschen Universitäten. Ein wenig überspitzt dargestellt. Die ganze Sache ist schwierig. Und zwar in Bezug auf alle Fächer, nicht nur in der Psychologie Und das ist schade. Aber das ist nicht nur schade, das schadet allen. Denn wenn die einen Wissenschaftler keinen Einblick in die "Kultur" der anderen haben, dann neigen sie nicht nur zur Überspezialisierung, sondern dann fehlt irgendetwas. Aber man kann nicht so richtig sagen was. Es gibt eben manchmal Dinge, die sich schlecht in Worte fassen lassen. Ganz nebenbei: Die Geisteswissenschaftler haben für dieses "Ich weiß nicht was" so etwas wie eine eigene feststehende Formel. Die Formel vom "Ichweißnichtwas", auf frz. "je ne sais quoi", aber das hilft einen ja in dem Fall dann auch nicht viel weiter. Das lockert nur ein wenig auf, wenn man mit einem Geisteswissenschaftler in ein Restaurant geht und gefragt wird, was man essen will. Je ne sais quoi. Aber wie gesagt: das nur nebenbei

Zusammenfassend ist also zu sagen: Die Lage ist schwierig und das Misstrauen zwischen den einzelnen Wissenschaftskulturen ist teilweise noch sehr hoch, auch wenn Philosophen mit so wohlklingenden Namen wie Feyerabend theoretisch davon ausgehen, dass Wissenschaften offen und dynamisch sind, sich theoretisch nicht an Gegenstände noch an Methoden klammern, sondern diese im Zweifelsfall aufgeben, um weiterzukommen, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Der Wissenschaftstheoretiker Neurath packte diese optimistische Vorgabe in das Bild von der Wissenschaft als einem Boot, das niemals ein Trockendock anlaufen kann und daher darauf angewiesen ist, sich selbst auf offener See mit den jeweils verfügbaren Teilen umzubauen. Was könnte man da nicht alles anbauen, Flugzeugträger, Kernreaktoren, Freizeitcenter, doch die Praxis ist nicht selten anders, als das die Theoretiker veranschlagen.

Vieles davon muss man nicht wissen, aber es ist kein Schaden, wenn man es weiß

Aber zum Glück nicht immer und nicht überall. Zum Beispiel nicht im Ausland. Im Ausland ist das teilweise anders, vor allem in der angelsächsischen Wissenschaftskultur, und da allen voran in England. Ein Beispiel: In England gibt es 20 Gesellschaften für Ästhetiktheorie. Hier in Deutschland gibt es nur eine. Und wenn man einer Gesellschaft für Ästhetiktheorie eine fachfremde Frage stellt, bekommt man aus England immer eine Antwort, noch dazu meist relativ pragmatisch und in manchen Fällen mit Humor versehen, was die Krönung aller Interdisziplinarität darstellt.

Doch hierzulande beherrscht der Konflikt der Kulturen, Huntingtons "clash of civilizations", der nicht nur die globale Politik, sondern auch die Hochschulpolitik beherrscht, obwohl interdisziplinäre Zusammenschlüsse so viel akademische Arbeitserleichterung schaffen könnten. Es gibt systemtheoretische Modelle der menschlichen Informationsverarbeitung, die mit wenigen Elementen davon Kunde tun, wie in verschiedenen Wissenschaften eigentlich immer nur von den gleichen Dingen die Rede ist, auch wenn dafür recht verschiedene ehrfurchtgebietende und hehre Begriffe verwendet werden.

Viele Hochschulen entdecken diese fachübergreifenden Wissenspools derzeit neu und untersuchen zum Beispiel den Goldenen Schnitt am Beispiel von bestimmten Automarken. Auch in vielerlei Hinsicht gewinnbringend erscheint die Geschichte kultureller Symbole. Warum zum Beispiel sind auf koreanischen Tempeln lauter Hakenkreuze. Dieses Symbol ist nicht nationalsozialistischen Ursprungs, sondern eigentlich als ein Glücks- oder Erleuchtungssymbol schon um die 6000 Jahre alte. Oder warum redet man vom Blaumachen, wenn man aus alkoholbedingten Gründen die Arbeit nicht antreten kann. Beim Färben mit blauem Flachs wurden nicht nur Pflanzenfasern gestampft, sondern es waren auch die Komponenten Alkohol und Urin beteiligt, was nicht nur zu blauen Füßen, sondern auch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt. Aber das will man vielleicht alles gar nicht im Detail wissen.

Das gilt für alle diese Dinge: Vieles davon muss man wirklich nicht wissen, aber es ist kein Schaden, wenn man es weiß. Von daher ist zu bedauern, dass es die Interdisziplinarität in unserer Wissenschaftskultur so schwer hat. Denn interdisziplinäre Projekte haben mehr als "normale" Wissenschaftsprojekte die Möglichkeit, sich mit interessanten und wichtigen Dingen zu beschäftigen, auch mit der Frage nach "Sinn" und Orientierung und mit qualifizierten Verbindungen von Theorie und Alltagspraxis. Und das sind die größten kulturellen Herausforderungen überhaupt. Das sind die Dinge, die den Umgang mit Wissen so angenehm machen wie den Umgang mit dem eigenen Hund. Wenn es ein freundlicher Hund ist. An solchem Wissen besteht enormer Bedarf. Nicht nur wissenschaftlicher Bedarf, sondern vor allem kultureller. Interdisziplinarität ist deshalb eine kulturelle Herausforderung, weil es sich auch und gerade an ihr zeigt, ob unsere Kultur (in einem umfassenden Sinn) dazu in der Lage ist, ihren inneren Zusammenhalt zu bewahren und ihr friedliches Miteinander mit anderen Kulturen zu vertiefen.