Die Abschaffung der Geisteskrankheit mit den Mitteln der Hirnforschung

Ein Erklärungsversuch

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Innerhalb von zehn Jahren will eine Kampagne in den USA die "Krankheiten des Gehirns" besiegen - wozu für die Initiatoren ziemlich alles von Alzheimer bis zum Drogenmissbrauch gehört. Im Zentrum der Öffentlichkeitsarbeit von "One Mind for Research" stehen allerdings die Schwierigkeiten der heimgekehrten Kriegsveteranen. Hinter der Initiative stehen Teile der amerikanischen Pharmaindustrie - aber warum werden sie nicht ausgelacht?

"Wenn unser Gehirn in der Lage ist, ein Raumschiff zum Mond zu bringen und wieder zurück, dann müssen wir auch in der Lage zu sein, in unser Gehirn hineinzuschauen, herauszufinden, was dort schief läuft und wie es wieder in Ordnung gebracht werden kann." Auf der Gründungskonferenz von One Mind for Research vor einem Jahr sparte Garen Staglin nicht mit großen Worten. Staglin ist ein kalifornischer Unternehmer und Gründer verschiedener Wohltätigkeitsorganisationen, die sich der Bekämpfung psychischer Störungen widmen. Sein neues Projekt heißt One Mind - was einerseits für den gesunden Geist steht, andererseits für Einigkeit.

Die zahlreichen anwesenden Prominente, Wissenschaftler und Vertreter der Pharmaindustrie standen in ihren Reden Staglin nicht nach. Innerhalb eines Jahrzehnts könnten Geisteskrankheiten und psychische Störungen abgeschafft werden, versicherten sie, wenn es gelänge, die Forschungsanstrengungen zu bündeln. Mit der Genomsequenzierung, neuen bildgebenden Verfahren und Computertechnik stünden eigentlich alle nötigen Mittel zur Verfügung. Alles was fehlt, sei nur das nötige Geld und der nötige Wille.

Alles ist machbar, wenn man nur will - dieser echt amerikanische Optimismus durchdringt die Kampagne One Mind for Research. Zu ihren Unterstützern zählen Prominente wie der Schauspieler Martin Sheen oder Joe Biden, Obamas Vizepräsident, außerdem der Politiker Patrick Kennedy, ein Neffe des amerikanischen Präsidenten John F. Kennedy. Dieser erinnerte, wie sein Onkel einst entschlossen die Mondexpedition vorangetrieben hat. Dieselbe Entschlossenheit sei nun nötig, um endlich die Krankheiten des Gehirns zu besiegen. "Scheitern ist keine Option!", rief er auf der Gründungskonferenz pathetisch den Anwesenden zu.

Das klingt obskur, aber One Mind ist keineswegs randständig. Im Gegenteil, zu den Partnerorganisationen gehören große psychiatrische Berufsverbände, Pharmaunternehmen und Medizintechnikhersteller des Landes. Auch der bekannte Psychiater Steven Hyman vom MIT ist mit von der Partie, und mit dem National Institute of Health, sogar die bundesstaatliche Gesundheitsbehörde, die die staatliche Forschungsförderung koordiniert. In der renommierten Zeitschrift Nature erschien ein vorsichtig skeptischer Bericht.

Konkret sammelt One Mind vor allem Spenden und versucht Bewusstsein für die Häufigkeit und Folgekosten von Hirnkrankheiten zu wecken. Eine von der Organisation in Auftrag gegebene Studie von PricewaterhouseCoopers, die vor wenigen Tagen veröffentlicht wurde, will herausgefunden haben, dass einer von sechs Amerikanern an einer "Krankheit mit Hirnbezug" leidet wie "Depression, Autismus, die bipolare Störung oder Schizophrenie". Mehr als 500 Milliarden US-Dollar würden für die Behandlung dieser Krankheiten ausgegeben. So groß sei der Preis, den die US-Gesellschaft ihre angebliche Untätigkeit in Sachen Hirnforschung kostet.

One Mind veranstaltet jährlich einen Kongress, bei dem vor allem Spenden eingesammelt werden. Über die Verwendung der Gelder entscheidet der wissenschaftliche Beirat. Wem dieses Gremium Geld zukommen lässt, war trotz hartnäckiger Bemühungen bisher nicht zu erfahren.

Außerdem bemüht sich die Organisation, den Datenaustausch zwischen Hirnforschern zu verbessern. Dazu dienen Datenbanken, in denen die Forschungsergebnisse für alle Beteiligten abrufbar sein sollen. In diese Sammlung sollen Genomsequenzierungen, Patientenberichte und die Forschungsergebnisse eingespielt werden. Wie groß die Bereitschaft in der Industrie ist, sich an diesem "vorwettbewerblichen Austausch" zu beteiligen, ist unklar. Immerhin existiert bereits eine Datenbank solche für die Posttraumatische Belastungsstörung; zwei weitere, zu Alzheimer und zu Hirnforschung allgemein, sind in Planung.

Formal betrachtet ist die Kampagne eine Wohltätigkeitsorganisation. Sie betont, sie sei nicht profitorientiert. Allerdings ist die Verantwortliche bei One Mind für Wissenschaft und Technologie, Magali Haas, auch bei der Medizintechnikfirma Johnson & Johnson angestellt. Diese Nähe zur Pharmaindustrie wird in nahezu allen Verlautbarungen deutlich. Das Problem sei, dass Forschungsausgaben in diesem Bereich für die Industrie wirtschaftlich zu riskant seien, weil sie sich nicht oder erst sehr spät amortisieren. Denn obwohl die Neurobiologie, gemessen an der Zahl der Publikationen, zu den dynamischsten wissenschaftlichen Bereichen gehört, ist die Ausbeute an Krankheitsmodellen und konkreten Therapien bisher gering. "Die Industrie fährt ihre Investitionen in erschreckenden Maß zurück", betont der Psychiater Steven Hyman. "Wir müssen das Risiko für die Firmen vermindern!"

Das Hirn als die neue "frontier"

In zehn Jahren, wenigstens aber noch zu unseren Lebzeiten, sollen also die Störungen in den Griff gebracht werden. Diese Rhetorik wirken auf Nicht-Amerikaner schwer verständlich. Klappern gehört in der Werbeindustrie bekanntlich zum Geschäft. Dennoch griffe sie wohl in keinem anderen Land zu einer solchen Rhetorik. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit bemühen die One Mind-Gründer Garen Staglin und Patrick Kennedy die Metapher von der Mondlandung für ihr Projekt.

Zu diesem Bild gehört auch, dass das Gehirn als das neue Grenzland, die "frontier" der Gegenwart erscheint. "Die Zeit ist gekommen für einen Mondflug des Geistes!", verkündete der neurobiologische Kongress "The Next Frontier". Das uramerikanische Symbol einer Grenze, die immer weiter in die Wildnis und das Unbekannte getrieben wird, ist schwer zu übersetzen. Ihre Wurzel hat sie in der Eroberung des Landes und die Vertreibung seiner indigenen Bewohner. Als der Konservative Newt Gingrich im Vorwahlkampf ankündigte, als Präsident werde er ein bemanntes Raumschiff auf den Mars bringen, erntete er vor allem Spott. Statt dem Kosmos soll nun der Mikrokosmos, nämlich das Hirn, erobert werden. "Wir haben uns entschieden, in den Innenraum zu reisen", sagt Patrick Kennedy. Eines der Ziele von One Mind ist dementsprechend eine "Kartierung der Hirnstörungen", sozusagen eine Karte der Neuronen-Wildnis.

Die Kampagne hat außerdem eine deutliche patriotische Färbung. Im Zentrum der Öffentlichkeitsarbeit steht die Posttraumatische Belastungsstörung, unter der amerikanische Soldaten nach einem Fronteinsatz beispielsweise im Irak oder Afghanistan leiden. "Die Wunden des Krieges gegen den Terror heilen", nennt das die Internetseite der Kampagne. Ihr neuer Chef ist bezeichnenderweise Peter Chiarelli, ein General, der sich im Irakkrieg ausgezeichnet hat. Kaum in seiner neuen Position schlug Chiarelli vor, man solche statt des stigmatisierenden Ausdrucks "Posttraumatische Belastungsstörung" lieber "Posttraumatische Verwundung" sagen.

Die Debatte über die beste Bezeichnung wird nun unter Psychiatern des Landes ganz ernsthaft geführt. Außerdem bemühen sich Publizisten darum, rein körperliche Erklärungen wie die sogenannte Boxer-Enzephalopathie für die sozialen Auffälligkeiten der Veteranen zu finden. Diese seien Spätfolgen durch die Erschütterungen des Schädels, wenn Soldaten sich in der Nähe von Explosionen aufhalten und von ihren Druckwellen erfasst werden.

Vor dem Hintergrund der massenhaften Traumatisierung von Veteranen des Irak - und Afghanistankriegs hat die Frage nach den biologischen Grundlagen von PTSD in den USA eine besondere Bedeutung. Von den konkreten Erfahrungen, die die Soldaten im Krieg gemacht haben, ist allerdings nicht die Rede - wohl aber von ihren Gehirnen.

Hirnforschung soll für alles zuständig sein

Die treibende Kraft hinter One Mind ist Garen Staglin. Der Besitzer einer Venture Capital-Gesellschaft hat sein umfangreiches Vermögen unter anderem in der Pharmaindustrie gemacht. Dass sein Sohn als schizophren diagnostiziert wurde, weckte angeblich sein Interesse an der Bekämpfung psychischer Störungen. Staglin gründete in den 1990er Jahren die International Mental Health Research Organization (IMHRO). Die gemeinnützige Organisation fördert Projekte, die neue Medikamente gegen psychische Störungen oder neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer entwickeln wollen. Außerdem erhalten Wissenschaftler finanzielle Hilfen, die Grundlagenforschung über den Hirnstoffwechsel betreiben und dazu etwa neue bildgebende Verfahren oder genetische Sequenzierungen benutzen.

Psychologische Ansätze und nicht-medikamentöse Therapien kommen dagegen nicht vor. Das gilt ebenso für One Mind. In den Texten und Veranstaltungen der Organisation fallen Verhaltensstörungen und Geisteskrankheiten ausschließlich in die Domäne der Hirnforschung und sollen pharmakologisch behoben werden. Unbekümmert werden Trisomie 21 und Schizophrenie unter dem Oberbegriff "Hirnstörung" zusammengezählt. Als Hirnkrankheiten gelten unter anderem Depressionen, Sucht, neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer, aber auch Verhaltensstörungen wie ADHS.

In einer Art Manifest sind die Schwerpunkte der Forschung für das kommende Jahrzehnt definiert. In dem vage gehaltenen Text geht es um neue zellbiologische und neurologische Methoden wie beispielsweise die Optogentik. Mit Bezug auf die klinische Psychiatrie, die sich mit konkreten Kranken beschäftigt, heißt es:

Es ist entscheidend für viele neuropsychiatrische Störungen - besonders für die, die unter der Fehlbezeichnung "geistige Krankheiten" zusammengefasst werden - dass wir von den heute üblichen seichten, beschreibenden Diagnosen weg kommen, hin zu objektiven Diagnosen aufgrund von den vermittelnden (neurobiologischen) Phänotypen.

Anderes gesagt: die herkömmlichen psychiatrischen Diagnosen wie "Depression" sollen durch zellbiologische und neurologische Pathologien ersetzt werden.

Störungen ohne Gestörte

Diese Herangehensweise ist eine weitere Merkwürdigkeit von One Mind. Phänomene wie Sucht und Selbstmord führen die beteiligten Wissenschaftler burschikos auf Störungen des Hirns zurück. Nun ist es zwar möglich, dass es manchen Individuen aufgrund ihrer hirnbiologischen Besonderheiten schwerer als anderen fällt, mit Aggressionen oder Drogen klar zu kommen. Die lebensgeschichtlichen Gründe aber, warum sie überhaupt Drogen konsumieren oder Suizid begehen, kommen in den Forschungsprojekten höchstens als ein Auslöser vor - als trigger, der eine pathologische Ereigniskette in Gang setzt.

Dementsprechend wird "Resilienz" - die individuelle Widerstandskraft gegen eine Erkrankung - lediglich als ein robustes Gehirn verstanden, nicht aber als die geistigen und affektiven Fähigkeiten der Betroffenen. Mit solchen biologistischen Erklärungen will One Mind dem Stigma entgegenwirken, das Geisteskrankheiten immer noch anhaftet. Nur spricht sie den Kranken im gleichen Zug jede aktive Rolle ab. Auf der Strecke bleibt dabei der Mensch, in dessen Schädel sich das Organ doch immerhin befindet. Als Gestalter seiner Krankheit, philosophisch gesprochen: als Subjekt, kommt er nicht vor. Lebensgeschichtlich orientierte Psychologen führen Störungen und Krankheiten auf einen inneren Konflikt zurück, beispielsweise auf den Widerspruch zwischen dem Selbstbild als integerer, guter Mensch und den Gewalterfahrungen an der Front. Diese Ebene kommt bei One Mind schlicht nicht vor. Stattdessen beschäftigen sich die beteiligten Forscher damit, wie etwa "die Repräsentation der Angst in der Amygdala unterbrochen werden kann".

In der Kampagne fließt also einiges zusammen: eine überbordende und reduktionistische Hirnforschung, eine Pharmaindustrie auf der Suche nach neuen Absatzmärkte und eine verbreitete Sehnsucht nach vergangener nationaler Größe. In zehn Jahren soll das Hirn entschlüsselt und also manipulierbar geworden sein. Nicht nur diese Hybris macht One Mind zu einem schwer zu erklärenden Phänomen.