Guerillastrategien erschüttern Syriens Geschäftswelt

Nicht allein die Sanktionen treffen die Wirtschaft

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Bewaffnete Rebellen hebeln vor allem in der Landesmitte wirtschaftliche Infrastrukturen aus. Für das Regime bedeutet dies einen zunehmenden Verlust über die Hauptachsen des Landes.

Laut dem englischsprachigen Wirtschaftstitels Syria Report sank 2011 das Wachstum um 3,4 Prozent, während die Inflationsrate um 6,6 Prozent stieg. Geschuldet ist dies freilich auch den Sanktionen, infolge derer Strom, Gas und Brennstoffe derart teuer wurden, dass so mancher Unternehmer seine Stromrechnungen nicht mehr bezahlen kann. So drohte im Mai die Handelskammer von Aleppo mit Geschäftsschließungen aus Protest über die steigenden Preise.

Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern dies das Regime tatsächlich bedroht. Der Ökonom und Herausgeber der arabischsprachigen Ausgabe der Le Monde Diplomatique, Samir Aita ("Sanktionen haben noch nie ein Regime gestürzt") , jedenfalls glaubt nicht an die Wirksamkeit von Sanktionen und erinnert an den Irak - 12 Jahre Sanktionen hätten Saddam Hussein zu keiner Zeit etwas anhaben können. Wenngleich Aita in seiner Kritik an den Sanktionen grundsätzlich zuzustimmen ist, hinkt sein Vergleich doch insofern: Saddam musste keinem internen Aufstand begegnen.

Gerade dieser aber beginnt, nahezu das gesamte 185.000 Quadratkilometer große Syrien zu erfassen. Die Brennpunkte liegen - noch - in der Landesmitte: Von Hama über Homs, Rastan und Talbiseh bis hin zur Ebene von Houla. Bewaffnete Rebellen machen hier Front gegen das Regime. Genau hier aber finden sich so bedeutsame Wirtschaftspfeiler wie Ackerbau, Düngemittel- oder Zementindustrie. Mittlerweile werden aber auch stärkere Kämpfe aus der Peripherie von Damaskus gemeldet.

Verstärkte Aufrüstung der Rebellen

Wie umkämpft die Landesmitte ist, zeigt sich an Rastan und Homs. 22 Kilometer trennen die beiden Orte und während die staatliche Zementfabrik in Rastan bereits im Territorium der Rebellen liegt, kontrolliert das Regime noch die staatliche Düngemittelfabrik bei Homs, die General Fertilizer Company (GFC).

Unter welchen Mühen dies erfolgt, schilderte unlängst sogar das regimenahe Wirtschaftsblatt Al-Iqtisadi, das bislang viel schön geredet hat: So benötigt die GFC zur Düngemittelherstellung den Phosphat, der wenige Kilometer entfernt abgebaut wird. Phosphatdünger ist gerade im Weizenanbau erforderlich, da die Ernte sonst um bis zu 30 Prozent magerer ausfällt. Weil bewaffnete Rebellen aber schon mehrfach die Bahnlinie bei Homs überfallen haben, ist der Zugverkehr zu den Phosphatminen eingestellt. So muss die GFC Lastwägen anmieten und diese teuer versichern lassen. Darüber hinaus muss sie die über 200.000 Tonnen produzierten Phosphatdünger in Tausende von Säcken abfüllen - schließlich können diese nicht länger einfach mit dem Kran in die Frachttonnen der Bahn gehievt werden.

Doch selbst wenn die nötige Stückanzahl an Säcken verfügbar ist - die Arbeiter sind es oft nicht. Viele weigern sich, die nötigen Überstunden für die Zusatzarbeit an den verkehrsarmen Abenden oder Wochenenden zu leisten. Wie berechtigt ihre Angst ist, zeigt das Massaker, das Anfang Juni an zwölf Arbeitern der GFC verübt wurde. Sie waren gefesselt und erschossen aufgefunden worden, nachdem sie sich nach Feierabend in einem Bus auf dem Heimweg befunden hatten.

Ermordungen, Entführungen und Erpressungen all derer, die nach wie vor im Dienste des Systems stehen, zählen spätestens seit Ende vergangenen Jahres zu den wichtigsten Taktiken der Rebellen, bestätigt Ibrahim al-Amin, leitender Redakteur der libanesischen Tageszeitung Al-Akhbar. Die eigentliche Wende sei aber diesen Januar erfolgt: Nachdem die syrische Armee ihren Großangriff auf den Homser Stadtteil Bab Amer eingeleitet hatte, seien die Rebellen von Saudi-Arabien, Qatar und den USA deutlich aufgerüstet worden und könnten nun verstärkt zurückschlagen. Spürbar ist dies längst auch im Großraum Aleppo.

Dort erstreckt sich auf 4.400 Quadratkilometern die Industriestadt Scheich Najjar, einst eines der Renommierprojekte unter Präsident Baschar al-Assad: Im Jahr 2000 begründet, verbuchte sie laut offiziellen Angaben bereits 2006 über 2.480 Betriebe - vor allem aus der für Syrien so maßgeblichen Textil- und Nahrungsmittelindustrie - sowie 1.970 Investitionsvorhaben. Seit drei Monaten aber vermeldet Scheich Najjar etwas anderes: Über 210 Verbrechen. Mittlerweile sei die Industriestadt nahezu verlassen, schreibt das arabischsprachige Wirtschaftsmagazin Syria Steps. Offensichtlich hat es Scheich Najjar wenig genützt, dass nur sechs Kilometer weiter ein Flughafen liegt, den 2011 so viele Syrer wie nie zuvor zur An- und Abreise aus Aleppo genutzt haben: Kaum jemand mag noch mit dem Bus durch das Land reisen.

Hauptachse des Landes bedroht

Als weiteres Glied in der Kettenreaktion traf es denn auch die zahlreichen privaten Reisebusunternehmen. Noch vor über einem Jahr konnten sie sich aufgrund ihrer Billigstpreise kaum vor Passagieren retten: 250 syrische Pfund (umgerechnet rund 3,5 Euro) kostete die fünfstündige Fahrt von Damaskus nach Aleppo. Das Busunternehmen Al-Manar etwa fuhr sie 23 Mal täglich. Heute schickt Al-Manar nur mehr zwei Busse pro Tag auf die Route - und das mitunter mit nur vier Passagieren an Bord.

Für die Unternehmer bedeutet dies freilich Millionenverluste - doch ob sie sich deshalb mehrheitlich gegen das Regime wenden werden, ist noch unklar. Allerdings birgt die Lage für das Regime ohnedies bereits eine gefährliche politische Implikation. Das nördliche Aleppo und das südliche Damaskus sind seine beiden bedeutendsten Städte. Die Kontrolle über diese Hauptachse zu verlieren, heißt, allmählich die Kontrolle über Syrien zu verlieren.