"Mexiko hat sich vollkommen in ein Set des Fernsehens verwandelt"

Der Politik- und Medienwissenschaftler Carlos Villa über möglichen Wahlbetrug, die zweifelhafte Rolle von Mexikos führendem Privatsender Televisa und warum Mexikaner so leichtfertig ihre Wahlstimmen verkaufen

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Mexikos Bürger sind wütend. Die Linke erst recht, denn es riecht nach Wahlbetrug. Bei den Präsidentschaftswahlen am 1. Juli soll der Sieger, Enrique Peña Nieto, gegen mehrere Gesetze verstoßen haben (Mexiko: Zurück in die Zukunft). Die nationale Wahlbehörde lässt diese Vorwürfe jetzt unparteiisch prüfen. Die offizielle Benennung des Wahlsiegers und damit des künftigen mexikanischen Präsidenten erfolgt am 6. September durch das mexikanische Wahlgericht.

Carlos Villa, Politik- und Medienwissenschaftler an der Universität von Guadalajara, untersucht die Auswirkungen der Medien auf das Bewusstsein der Gesellschaft. Seine Kenntnisse in beiden Wissenschaften bieten eine umfassende Analyse des Wahlsiegs Peña Nietos. Seiner Ansicht nach hat die Fusion zwischen Politik und Medien in Mexiko einen entscheidenden Beitrag zum Wahlausgang geleistet und bedeutet eine Gefahr für die Demokratie der zweitgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas.

Schon im Jahr 2006 war von einem Wahlbetrug die Rede, der juristisch aber nicht bewiesen werden konnte. Es folgte ein wochenlanges Gezerre um die Rechtmäßigkeit der Abstimmung vor der Wahlbehörde und verantwortlichen Gerichten. Wie sieht es dieses Jahr aus? Können wir rechtmäßig von einem Betrug bei der mexikanischen Präsidentschaftswahl am 1. Juli sprechen?

Carlos Villa: Einen Wahlbetrug im offiziellen Sinne haben wir hier nicht vorliegen. Der müsste sich in den Wahlurnen, in den Berichten der Wahlhelfer und den verantwortlichen Behörden aufzeigen, was nicht der Fall ist. Man kann hier aber von einer groß angelegten Täuschung in verschiedenen Formen sprechen. Die mexikanische Öffentlichkeit wurde hinters Licht geführt.

Aber hat nicht die von der Opposition beantragte Zweitauszählung aller Stimmen den Wahlsieg von Enrique Peña Nieto bestätigt?

Carlos Villa: Das ist richtig. Die Mehrheit der Mexikaner hat für Pena Nieto gestimmt. Wir sprechen hier von einem quantitativen Sieg für den PRI-Kandidaten. Die Qualität dieser Wahlstimmen lässt jedoch zu denken übrig. Dort findet sich der Verrat an der Gesellschaft, von dem ich spreche. In den letzten Wochen tauchten immer mehr Indizien über Stimmenkauf, die Fälschung von Stimmzetteln und von Wahlergebnissen auf. Die Art und Weise, wie die Partei der Institutionalisierten Revolution, kurz PRI genannt, ihre Wählerstimmen beschafft hat, stellt ernsthaft die Legitimität dieser Präsidentschaft in Frage. Nur eine Wahlannullierung kann unsere Demokratie noch retten.

Der Linkskandidat Andrés Manuel López Obrador hat seine Anfechtungsklage gegen das Wahlergebnis bereits vergangenen Donnerstag eingereicht. Welche Chancen bestehen auf eine Annullierung der Wahlen?

Carlos Villa: Das bürokratische Labyrinth in unserem Land ist so komplex und die Gesetze sind so verworren, dass im Endeffekt nicht viel passieren wird. Liegt eine Klage auf der Hand, werden schnell neue Gesetze verabschiedet oder hervorgeholt, die die vorgelegten Vorwürfe entkräften. Die mexikanische Wahlbehörde IFE hat bereits indirekt eine mögliche Wahlannullierung abgelehnt. Der Präsident des nationalen Wahlgerichts, Alejandro Luna Ramos, meinte bezüglich der Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe, dass man nicht am Tische das gewinnen könne, was schon an den Wahlurnen nicht erreicht wurde.

Das heißt, in Mexiko kann ein Präsident sein Amt antreten, auch wenn ein juristisches Verfahren wegen Wahlbetrug gegen ihn läuft?

Carlos Villa: Ja, denn die Gegenseite argumentiert, die Vorwürfe sollen erst einmal vor Gericht bewiesen werden. Das IFE, das immer mehr zum Spielball der Parteien wird, scheint nicht in der Lage zu sein, die gesetzlichen Regelungen durchzusetzen. Der Unterabteilung der Staatsanwaltschaft für Wahldelikte FEPADE fehlt es an Geldern, wodurch Beschwerden nur mit einer erheblichen Verzögerung oder gar nicht bearbeitet werden können. Noch immer hängen Klagen über den Wahlbetrug von 2006 juristisch in der Wartschleife.

Mit rund 14 Euro je Stimmbürger ist Mexiko die mit Abstand teuerste Demokratie Lateinamerikas. Wie ist es möglich, dass trotz so hohen Investitionen die Behörden nicht richtig funktionieren?

Carlos Villa: Das Problem ist die Abnahme und der Wandel des Einflusses nationalstaatlicher Politik und die Einflusszunahme privater Unternehmen als globale Akteure. Monopolbildungen und die damit verbundene Machtkonzentration auf den Unternehmen durch bestimmte Privilegien schwächen die Effizienz der Behörden. Das mexikanische Staatskapital liegt zu 20 Prozent bei diesen Unternehmen, deren Arme natürlich bis in die Politik, die staatlichen Behörden und sogar in den Wahlprozess hineinreichen. Sie kontrollieren alles und unterstützen die Parteien, die auch in Zukunft für ihre besonderen Privilegien garantieren.

Televisa kontrolliert über 80 Prozent des mexikanischen TV-Markts

Und welche Rolle spielt dabei der größte spanischsprachige Fernsehsender der Welt Televisa, der das telegene Image des Präsidentschaftskandidaten Peña Nieto systematisch aufgebaut haben soll?

Carlos Villa: Die von Peña Nieto schon zur Zeit als Gouverneur im Bundesstaat von Mexiko realisierte Finanzierung der Wahlkampagne bewegt sich in schwindelerregender Höhe. Seit 2006 sind mehr als 100 Millionen US-Dollar von der PRI an Televisa geflossen, um den Präsidentschaftskandidaten bei den Hauptnachrichten in ein gutes Licht zu rücken. Systematisch wurde das Bild des strahlenden Gentlemans in das Bewusstsein der Zuschauer gespielt. Mit Erfolg. Verführt und erobert durch die sensationellen Fernsehbilder, entschied sich das Televisa-Publikum für ein Happy End im Sinne der Seifenoper, in der der Schönling eine vom Papst gesegnete Hochzeit mit dem Telenovela-Sternchen Angélica Rivera eingeht. Diese Hochzeit war kein Zufall, sondern strategisch geplant.

Man sollte als kritischer Zuschauer doch klar zwischen Realität und Fiktion unterscheiden können. Lassen sich denn so einfach die Mexikaner vom Fernsehen manipulieren?

Carlos Villa: Absolut. Die jungen Mädels und Hausfrauen sind verrückt nach dem künftigen Präsidenten. Er wird als Star, als Sexsymbol gehandelt. Auf Wahlkampfveranstaltungen warfen sich dutzende Frauen um seinen Hals. Sie hielten Plakate in die Höhe, auf denen zu lesen war: "Enrique, ich will ein Kind von dir. Lass mich deine Matratze sein." Mexiko hat sich vollkommen in ein Set des Fernsehens verwandelt. Televisa kontrolliert über 80 Prozent des mexikanischen TV-Markts und stellt besonders für die arme Bevölkerung Mexikos die einzige Informationsquelle dar.

Ab wann begann die Instrumentalisierung des Fernsehens zu politischen Zwecken in Mexiko?

Carlos Villa: Das war in den 70/80ern, da hieß es: Alle Zuschauer von Televisa sind Soldaten der PRI. Die Hauptnachrichten von Televisa unter Leitung von Zabludovsky waren eine Art Pressestelle der ehemaligen Staatspartei. Nach dem Studentenmassaker auf dem Platz von Tlatelolco am 2. Oktober 1968 begann Zabludovsky am Tag danach seine Nachrichtensendung mit den Worten: "Dieser Morgen begrüßt uns mit einem wolkenlosen Himmel über dem Tal von Mexiko…", und er setzte seine Berichterstattung mit anderen belanglosen Dingen fort. Dieser Satz wurde zu einem Symbol für das Zusammenspiel zwischen Medien und Politik in Mexiko, absolut antidemokratisch, schichtenspezifisch und parteiisch.

Aber wie war es möglich, dass sogar gebildete Menschen aus der Mittelschicht ihre Wählerstimmen noch vor dem 1. Juli dieses Jahres gegen Einkaufsgutscheine einlösten?

Carlos Villa: Das Problem ist, das diese Leute nicht lesen und sich auch nicht umfassend durch andere Medien informieren. Sie gehen zwar in soziale Clubs, bringen ihre Kinder zur Schule und führen einen kultivierten Lebensstil, aber sie lehnen eine umfassende Information ab. Anstatt zu lesen, ziehen sie Televisa und dessen Standardnachrichten vor. Das ist sehr gefährlich.

"Wir haben die Demokratie nie richtig kennengelernt"

Aber das erklärt ja noch nicht, warum die Bürger so einfach ihre Wählerstimmen für ein paar Eier und Tortillas eintauschen, schließlich reichen die wenigen Lebensmittel kaum über eine ganze Kandidatur hinweg?

Carlos Villa: Das hat historische und kulturelle Gründe. Die Mexikaner haben nie gelernt, ihre Rechte als mündige Bürger wirklich auszuüben. So, wie sie ihre Wahlstimmen nicht verteidigen, setzen sie sich auch kaum für andere Rechte ein. Lieber lassen sie einen unrechtmäßigen Strafzettel über sich ergehen, als in einen Konflikt mit dem Gesetz zu treten. Durch die Kolonialherrschaft, die Sklaverei und das anschließende Haciendasystem sind sie daran gewöhnt, den Obrigkeiten zu gehorchen und zu dienen.

Die Studentenbewegung yo soy 132 drohte auf ihren Demonstrationen mit Revolution, falls ein bestimmter Kandidat illegitim eingesetzt werden sollte. Wie geht es mit der Demokratie in Mexiko weiter?

Carlos Villa: Wir haben hier in Mexiko die Demokratie nie richtig kennengelernt. Wir haben angefangen, sie in den 90ern mit Behörden wie der IFE und der FEPADE zu konstruieren. Doch mit der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten der PRI, Luis Donaldo Colosio, im Jahre 1994 und dem Amtsantritt von Ernesto Zedillo stürzte Mexiko in eine tiefe Krise. Die Geschäfte der Drogenkartelle begannen zu florieren und zogen das Land in eine Gewaltspirale.

Und wie gehen die Menschen mit dieser Situation um?

Carlos Villa: Ein möglicher Wahlbetrug hat große Konsequenzen für die Glaubwürdigkeit der Behörden wie der IFE. Die Führungsqualitäten der Politiker sind umstritten und die Bürger haben das Vertrauen in die politischen Parteien verloren. Sie verfolgen keine Ideologie und haben keine politische Orientierung mehr. So ziehen sie den Verkauf ihrer Stimmen vor, da die Stimmabgabe ihrer Meinung nach sowieso nichts an der politischen Richtung des Landes ändern wird. Mit der Rückkehr der PRI an die Macht werden sich diese Tendenzen noch verstärken.

Welche politischen Entscheidungen können Mexiko auf dem Weg zur Demokratie noch retten?

Carlos Villa: Eine Demokratisierung der Medien, wie es die Studentenbewegung "yo soy 132" fordert, ist utopisch. Daher plädiere ich für eine absolute Neugestaltung der Medien in Mexiko. Die aktuellen Sendelizenzen sollten entzogen werden und eine völlig neue Medienlandschaft geschaffen werden, die teils vom Staat und teils von Privaten getragen wird. Durch die momentanen privaten Medien in Mexiko ist keine Demokratie möglich. Schließlich ist es nicht dasselbe, Schuhe zu verkaufen oder eine Öffentlichkeit kritisch zu erziehen. Sehen Sie sich um, was passiert, wenn diese Verantwortung in Händen einiger Privatpersonen gelassen wird! Mexikos Gesellschaft ist von einem extremen Ungleichgewicht zerfressen. Der kulturelle Rückstand befindet sich auf dem Niveau vieler Länder Zentralafrikas. Das ist unser aktueller Bildungsstand dank Televisa. Dieser Mediengigant bremst massiv die Aufklärung und die Entwicklung unseres Landes.