FDP mit Kommentarfunktion

Die Liberalen wollen mit ihrem Online-Mitbestimmungs-Tool New Democracy eine benutzerfreundliche Alternative zu Liquid Feedback bieten

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Seit drei Jahren setzen die Piraten die etablierten Parteien mit ihrer Mitbestimmungs- und Entscheidungsfindungssoftware Liquid Feedback unter Druck. Mittlerweile wird das unter einer freien MIT-Lizenz stehende Programm auch vom niedersächsischen Landkreis Friesland und von der Organisation Slow Food eingesetzt. Allerdings gilt Liquid Feedback als - vorsichtig formuliert - bedingt benutzerfreundlich. Nun haben die Eisenacher Programmiererin Michaela Merz und der Verein Liberale Basis eine neue Mitmachsoftware namens New Democracy veröffentlicht, die seit Montag von der bayerischen FDP eingesetzt wird.

Das System, das der FDP-Bundestagsabgeordneten Miriam Gruß zufolge nicht nur "digital natives", sondern auch "digital immigrants" ansprechen soll, unterscheidet zwischen reinen "Gästen" (die lediglich das lesen können, was der Administrator für sie freigibt), mit E-Mail-Adresse registrierten Nutzern (die lesen und kommentieren können) und Parteimitgliedern (die aus Kommentaren Vorschläge machen und über diese abstimmen können). Auch der Bereich "Diskussion" ist für FDP-Parteimitglieder reserviert. Das soll nach Angaben des Bundestagsabgeordneten Jimmy Schulz einen Anreiz bieten, um FDP-Mitglied zu werden.

Schafft ein Antrag eine Mehrheit und ein vom Administrator einstellbares Quorum, dann wird er zur Abstimmung einem Parteitag vorgelegt. Durch diese Vorverlagerung einer Kompromissfindungen sollen Themen zukünftig ausführlicher offen diskutiert werden. Die bayerische FDP will auf diese Weise den "netzpolitischen Teil" ihres Wahlprogramms für die Landtagswahl 2013 zusammenstellen und gleichzeitig als Avantgarde und Betatester für andere Gliederungen fungieren.

Michaela Merz sieht als Hauptanwender des Systems in erster Linie Kreisverbände, in denen über lokale Fragen wie Bauvorhaben entschieden wird. Überregionale Probleme können ihr zufolge zunächst auf dieser Ebene entschieden und dann automatisiert an die nächste Ebene weitergeleitet und zusammengeführt werden. Auf diese Weise soll sichergestellt sein, dass die Parteibasis das System nicht blockiert, weil sie sich eventuell übergangen fühlt. New Democracy soll aber nicht auf die FDP begrenzt bleiben, sondern auch an andere Parteien und Organisationen weitergegeben werden, wenn diese bei Merz danach fragen. Unternehmen wird für ihre Entscheidungsfindungsprozesse eine kostenpflichtige Implementierung des Tools angeboten, dessen (nicht von der FDP getragene) Entwicklungskosten dem ehemaligen DENIC-Vorstandsmitglied nach bei etwa 400.000 Euro liegen.

Um herauszufinden, wie das System in der Praxis funktioniert, machten wir die Probe aufs Exempel und posteten zum Antrag "Urheberrecht reformieren" folgenden Kommentar:

Fehlt da nicht was zur GEMA? Zum Beispiel: § 4 Absatz des Urheberrechtswahrnehmungsgesetzes wird um folgende Nummer 3 ergänzt: "[Die Erlaubnis ist zu widerrufen, wenn], die Verwertungsgesellschaft mehr als fünf Prozent ihrer Ausschüttungsberechtigten ein gleiches Stimmrecht vorenthält oder Ausschüttungsberechtigte durch Mitgliedsbeiträge abschreckt." § 27a wird mit folgendem Wortlaut neu eingefügt: "Bestehende Verwertungsgesellschaften haben zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes sechs Monate Zeit, um § 4 Absatz 1 Nummer 3 in ihren Satzungen umzusetzen."

Nach einer Wartezeit wurden die drei obersten Zeilen davon sichtbar. Dann verschwand der Kommentar ganz und wir wurden via Mail darüber informiert, dass man die Zeichenbegrenzung bei der Eingabe vergessen hatte, was nun geändert sei. Diese Änderung nimmt der Kommentarfunktion allerdings einen großen Teil ihres Nutzens: Denn in Twitter-Länge lässt sich komplexere Kritik ebenso schlecht unterbringen wie eine fundierte Anregung. Später postete das Mitglied "benben", nun seien "erste Ansätze zur Problematik mit den Verwertungsgesellschaften" in den Entwurf eingefügt. Der damit gemeinte Satz, man wolle "darauf hinwirken, dass Verwertungsgesellschaften die ihnen übertragenen Rechte in einer gesellschaftlich akzeptierten Weise wahrnehmen" ist allerdings deutlich weniger konkret als der im Kommentar gemachte Vorschlag.

Laut Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die die Software zusammen mit Schulz und Gruß der Presse vorstellte, will die FDP damit unter anderem herausfinden, wo es Brennpunkte gibt, die die Politik bisher nicht als solche wahrnimmt. Ob das System diesem Anspruch gerecht werden kann, hängt auch davon ab, inwieweit eine Partei bereit ist, Anregungen von außen wirklich aufzunehmen und umzusetzen. Wie man das nicht macht, führten 2005 die Grünen vor: Damals hatte die Ökopartei angekündigt einen Teil ihres Wahlprogramms in einem Wiki schreiben zu lassen, in dem dann auch Probleme vom Abmahnmissbrauch bis zu den Monopolschutzfristen angesprochen wurden. Allerdings fand das Ergebnis dieser Entscheidungsfindung nicht wie versprochen Eingang in das Wahlprogramm, sondern wurde still und heimlich gelöscht. Ein Jahr später gründete sich die Piratenpartei.

Update: Michaela Merz hat im Forum noch eine lesenswerte Ergänzung gepostet.

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