Die Partei als Kartenhaus

Wie die wahltaktische Selbstdisziplin der Parteimitglieder das politische Überleben umstrittener Parteivorsitzender ermöglicht

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Angela Merkel, als Kanzlerin beliebt, scheint auch als CDU-Vorsitzende unumstritten zu sein. Nur ab und an kommen Kritiker aus der Deckung. Meistens ist es jedoch still um die Parteichefin. Kein CDU-Politiker scheint sich als Alternative für sie ins Gespräch zu bringen. Niemand mit Rang und Namen stellt die Vorsitzende vernehmbar in Frage.

Wie es in der CDU tatsächlich aussieht, lässt sich von außen schwer beurteilen. Die jüngere politische Geschichte zeigt jedoch, dass sich Parteivorsitzende auch dann im Amt halten können, wenn sie längst von den Mitgliedern abgelehnt werden. Diese können ihre Ablehnung nicht öffentlich artikulieren, weil sie damit das positive Medienbild der Partei beschädigen würden. Parteien brauchen ein positives Medienecho, wenn sie bei den Wählern punkten wollen. Deshalb müssen ihre Vertreter in der Öffentlichkeit diszipliniert auftreten, um Journalisten und politischen Gegnern keinen Anlass für negative Kommentare zu bieten. Die Vielzahl der an Wahlerfolgen interessierten Mitglieder der Partei hält sich deshalb mit Kritik zurück, um die eigenen Wahlaussichten nicht durch das Medienbild einer zerstrittenen Partei zu gefährden. Das bietet dem Vorsitzenden die Chance für die Aufrechterhaltung seines Machtanspruches.

Wie diese Strategie zur Verteidigung des Amtes funktioniert, zeigt einer der spektakulärsten Parteitage, der SPD-Parteitag in Mannheim von 1995. Gleichzeitig wurde dort auch deutlich, unter welchen Umständen diese Strategie scheitert. Die Inszenierung der "Geschlossenheit" der Partei gelingt nur durch die Selbstdisziplin ihrer Mitglieder. Wo sich jemand dieser Inszenierung verweigert oder dabei Fehler macht, kann das Kartenhaus in sich zusammenstürzen.

Mannheim 1995: Rudolf Scharpings unerwarteter Abgang

Am 16. November 1995 kam es in Mannheim zu einer ungewöhnlichen und unerwarteten Kampfkandidatur um den Parteivorsitz. Mit 190 zu 321 Stimmen unterlag Amtsinhaber Rudolf Scharping seinem Herausforderer Oskar Lafontaine. Dabei hatte der Parteivorstand Scharping noch einen Monat zuvor einstimmig als einzigen Kandidaten für das höchste Parteiamt nominiert. Auch Lafontaine hatte in dieser Sitzung seine Hand für Scharping gehoben und in der Presse eine Kampfabstimmung ausdrücklich ausgeschlossen.

Rudolf Scharping. Bild: Bundeswehr-Fotos Wir.Dienen.Deutschland. Lizenz: CC-BY-2.0

In der langen Geschichte der SPD war Scharping der erste Vorsitzende, der auf diese Weise sein Amt verlor. Auslöser dieser Ereignisse war eine Rede, die Lafontaine am Vortag gehalten hatte. Anders als Scharping hatte er die Delegierten begeistern und zu standing ovations hinreißen können. Die krisengeschüttelte SPD des Jahres 1995 schien durch seine Worte wieder Mut zu fassen. Viele Parteitagsteilnehmer drängten Lafontaine anschließend, sich um den Parteivorsitz zu bewerben. Nach einer turbulenten Nacht voller Verhandlungen erklärte sich Lafontaine am Morgen des 16. November zu einer Kandidatur bereit.

Mit diesem Verlauf des Parteitages hatten weder Journalisten noch SPD-Politiker gerechnet. Bis zur Rede Lafontaines galt Scharpings Wiederwahl als unstrittig. Mit seiner Rede hatte Lafontaine unbeabsichtigt die Inszenierung der "Geschlossenheit" scheitern lassen. Damit hatte sich für die Scharpinggegner eine günstige Gelegenheit eröffnet, den ungeliebten Vorsitzenden abzulösen. Das bislang unterdrückte starke Interesse an einem Vorsitzendenwechsel konnte sich nun endlich durchsetzen.

Scharping, der ungeliebte Vorsitzende

Im Herbst 1995 wuchs in der Partei der Wunsch nach einer Ablösung Scharpings. Dessen schlechtes Medienimage schürte die Angst vor Wahlniederlagen. Parteien brauchen ein positives Medienbild, um bei Wählern Anklang zu finden. Aber nur eine kleine Gruppe prominenter Spitzenpolitiker wird von den Medien tatsächlich in der Berichterstattung berücksichtigt. Auf ihren Schultern ruht die Hauptlast der Wählerwerbung. Vom Kommunalpolitiker über den Landtagsabgeordneten bis zum Bundestagsmitglied sind alle, die Wahlerfolge für die Verwirklichung ihrer Ziele brauchen, von dem Medienecho ihrer Spitzenfunktionäre abhängig. Entsprechend erwarten sie auch von ihrem Parteivorsitzenden, dass er sich öffentlich gut verkauft. Gelingt ihm das nicht, verliert der Vorsitzende an Rückhalt. Angesichts drohender Mandatsverluste gibt es ein starkes Interesse vieler Mitglieder, den schlecht beleumundeten Vorsitzenden durch einen medienwirksameren Kandidaten zu ersetzen.

Der von Medien und politischen Gegnern verspottete und kritisierte Scharping galt vielen Genossen schon lange als Problemfall. Im Umgang mit Medien und Menschen wirkte Scharping unbeholfen und linkisch. Feurige Reden waren seine Sache nicht. Er war kein Publikumsliebling, dazu fehlten ihm Charme und sympathische Ausstrahlung. Mit seinen Eigenheiten wirkte er wie eine Verkörperung der Probleme der Partei, die immer mehr in die Krise rutschte.

1994 verlor die SPD die Bundestagswahl nur knapp gegen die schwarz-gelbe Koalition unter der Führung von Helmut Kohl (CDU). Nicht wenige hielten diese Wahlniederlage für ein persönliches Versagen des SPD-Vorsitzenden und Kanzlerkandidaten Scharping. Sein Konkurrent, der mediengewandte und vor Kameras souveräne niedersächsische Ministerpräsident und spätere Kanzler Gerhard Schröder, ließ gleich nach der Wahl im Fernsehen wissen: "Ich hätt's gepackt." Das war der Auftakt zu einem öffentlichen Machtkampf beider Männer, der sich bis zum Herbst 1995 hinzog. In der Partei nahm man Schröder den Drang in die Medien übel. Aber er konnte seine Beliebtheit in der Bevölkerung mit seinen Sticheleien gegen Scharping ausbauen. Scharping hingegen schien die Vorurteile über ihn als dröge zu bestätigen. Sein Stand in Öffentlichkeit und Partei verschlechterte sich zudem durch die erheblichen Verluste der SPD bei den Landtagswahlen 1995.

Die Umfragewerte der Bundespartei sanken in den Keller und unterschritten zeitweilig sogar die 30-Prozent-Marke. In den 1990er Jahren galten derartige Zahlen noch als Katastrophe. Gleichzeitig baute die regierende CDU/CSU ihren Vorsprung in den Umfragen sogar auf eine absolute Mehrheit aus. Die Hoffnung schwand, den nunmehr seit 13 Jahren regierenden Dauerkanzler Helmut Kohl 1998 endlich von Thron stoßen zu können. In der SPD sahen nicht wenige in Scharping eine Belastung für die kommenden Wahlkämpfe. Das galt besonders für die im Frühjahr 1996 anstehenden Landtagswahlen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. Die wahlkämpfenden Landesverbände erwogen, ihre Kampagnen ohne Auftritte des Vorsitzenden zu führen, um nicht durch sein schlechtes Image ins Stimmungstief zu geraten.

Kurz vor dem Mannheimer Parteitag, im Oktober 1995, verlor die Berliner SPD ihre Regierungsmehrheit. Diese krachende Niederlage verstärkte die Furcht der Wahlkämpfer vor Mandatsverlusten. Angesichts drohender Wahlniederlagen kam die Frage auf, ob nicht ein populärerer Repräsentant die Lage retten könnte. Mit dem beliebten Schröder hatte die Partei wenigstens für den Notfall eine Option. Aber auch Lafontaine galt als Hoffnungsträger. Diese in Partei und Medien durchgespielten Szenarien führten zu einer Diskussion der Frage, ob Scharping tatsächlich noch der geeignete Vorsitzende sei. Sein Ansehen sank weiter, weil Journalisten in ihm einen Parteichef auf Abruf sahen, der nicht mehr die Unterstützung der "Basis" habe.

Die Selbstdisziplin der Kritiker und die Inszenierung der "Geschlossenheit"

Der Wunsch vieler Mitglieder und Parteivertreter nach einem Personalwechsel wurde auf dem Parteitag jedoch nicht ausgesprochen. Angesichts der Krise der Partei hatte die Parteiführung für den ersten Tag eine zeitlich unbegrenzte Debatte angesetzt, um den Delegierten ein Ventil für ihre Verärgerung zu geben. Geschlagene sieben Stunden lang wurden die Parteikrise diskutiert. Nicht wenige Delegierte kritisierten die Parteiführung. Dennoch wagte es niemand, offen und eindeutig für die Ablösung Scharpings einzutreten. Kein Delegierter forderte eine Kampfkandidatur oder schlug einen Alternativkandidaten vor. Niemand stellte einen Antrag, der die Frage der personellen Konsequenzen zum offiziellen Parteitagsthema gemacht hätte. Von den 321 Delegierten, die zwei Tage später Lafontaine zum neuen Vorsitzenden machen sollten, äußerte sich keiner klar und unmissverständlich zur Personalfrage. Deshalb gab es auch nach dieser Debatte keinen Zweifel an der Wiederwahl Scharpings.

Was für Außenstehende vielleicht feige wirkt, war für die Parteitagsteilnehmer zweckmäßig. Sie hätten den Personalwechsel nur fordern können, wenn er schließlich auch verwirklicht worden wäre. Zu Beginn des Mannheimer Parteitages war ein Austausch des Vorsitzenden aber unwahrscheinlich. Scharping hatte angesichts der Medienkritik an ihm stets seinen Durchhaltewillen betont und einen freiwilligen Rückzug ausgeschlossen.

Eine Kampfkandidatur wäre nur möglich gewesen, wenn sich jemand bereit erklärt hätte, gegen Scharping anzutreten. Sowohl Gerhard Schröder als auch Oskar Lafontaine verzichteten darauf. Für beide war das Risiko einer Kampfkandidatur zu hoch. Beide Politiker hatten jahrzehntelang an ihrem Aufstieg gearbeitet, beide strebten nach der Kanzlerkandidatur für die Bundestagswahl 1998. Diese Ambitionen durften sie nicht durch eine etwaige Niederlage gegen Scharping aufs Spiel setzen.

Ihre Erfolgsaussichten standen auch nicht gut. Schröder war zwar in der deutschen Bevölkerung populär, aber in der eigenen Partei umstritten. Lafontaine musste sich an sein Votum im Parteivorstand halten, um nicht im Falle einer Kandidatur als prinzipienlos kritisiert zu werden. Ebenso fehlten ihm verlässliche Signale, dass er eine Mehrheit der Delegierten für sich gewinnen könnte. Im Gegenteil: Hochrangige Vertreter des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen ließen ihn noch kurz vor dem Parteitag wissen, dass er bei einer Kampfkandidatur keine Chance haben werde. Damit war eine Kampfkandidatur als kurzfristige Lösung des Personalproblems nicht vorstellbar.

Eine Personaldebatte ohne Lösung hätte aber nur das Bild einer orientierungslosen Partei verstärkt, die es nicht schafft, ihre Krise zu überwinden. Ohne eine anschließende Abwahl Scharpings hätte eine solche Diskussion den Eindruck von Ausweglosigkeit hinterlassen. Den Medien hätte sich das Bild geboten, dass die Delegierten den umstrittenen Scharping nur deshalb noch duldeten, weil es keine Alternative gäbe. Darunter hätte das öffentliche Ansehen der SPD weiter gelitten. Wer solche Medienkommentare vermeiden wollte, musste mit zusammengebissenen Zähnen auf eine Forderung nach Ablösung Scharpings verzichten.

Der Kampf um ein gutes Medienecho verlangte von den Scharpinggegnern aber noch mehr Selbstdisziplin. Es genügte nicht, dass sie ihre Wunschvorstellungen für sich behielten. Vielmehr mussten sie der Öffentlichkeit gegenüber so tun, als würden sie die Wiederwahl Scharpings ausdrücklich begrüßen. Journalisten wissen, dass Politiker ungern offenlegen, wie sie tatsächlich denken. Aus der Ahnung heraus, einer Inszenierung beizuwohnen, beobachten Journalisten sehr genau, wie sich Politiker verhalten. Sie achten nicht nur auf deren Worte, sondern interpretieren auch ihre Körpersprache als Hinweise auf eventuelle innerparteiliche Machtkämpfe.

Entsprechend waren alle Parteitagsteilnehmer in Mannheim gehalten, ihr Verhalten so zu gestalten, dass sie Journalisten keinen Anlass boten, über derartige Auseinandersetzungen zu spekulieren. Um jeglichen Eindruck von Streit auszuschließen, bietet es sich an, die Partei als "geschlossen" zu inszenieren. In der Öffentlichkeit muss dafür das Bild entstehen, dass sich die Mitgliedschaft über Sachdifferenzen hinweg in grundsätzlichen Anschauungen und Wertvorstellungen einig ist. Das medienwirksame Symbol dieser Einheit ist der Vorsitzende. Wird er parteiflügelübergreifend als Verkörperung der Werte und Ziele der Mitgliedschaft anerkannt, bekommt die "Geschlossenheit" der Partei einen sinnlichen Ausdruck. Deshalb mussten sich die Delegierten in Mannheim möglichst glaubwürdig zu Scharping bekennen und dies auch durch ihr Verhalten untermauern.

Für Rudolf Scharping bot dies die Chance, sein Medienbild als umstritten zu korrigieren. Er konnte auf die Selbstdisziplin der Delegierten bauen und darauf, dass sie ihn im Amt bestätigen würden. Damit hätte Scharping den Medien entgegenhalten können, dass er der von der Mitgliedermehrheit der SPD gewünschte Vorsitzende sei. Mit der einstimmigen Nominierung Scharpings hatte der Parteivorstand den Druck auf die Delegierten zusätzlich erhöht. Eine Kritik dieses Vorschlages war nicht möglich. Sie hätte in den Medien den Eindruck einer Führung ohne Gefolgschaft erzeugt. Das Bild der "geschlossenen" Partei wäre dann nicht mehr glaubwürdig zu vermitteln gewesen. So konnte Scharping der Vorsitzendenwahl, geplant für den dritten Tag des Parteikongresses, gelassen entgegensehen.

Lafontaine lässt die Inszenierung der "Geschlossenheit" platzen

Am Nachmittag des zweiten Tages trat allerdings Oskar Lafontaine ans Rednerpult und eröffnete den Scharpinggegnern die unverhoffte Gelegenheit, den Amtsinhaber aus dem Amt zu treiben. Journalisten und Scharpinganhänger sprachen von einem lang geplanten "Putsch" Lafontaines. Aber in Wirklichkeit hatte Lafontaine die Inszenierung der "Geschlossenheit" der Partei unabsichtlich platzen lassen. Damit gab es keinen Grund mehr für die Scharpinggegner, sich zu disziplinieren.

Oskar Lafontaine. Bild: Gunther Hißler. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Ein Putsch war es schon deshalb nicht, weil Lafontaine sich bemüht hatte, den Erwartungen an einen Politikerstar wie ihn gerecht zu werden. Von Prominenten wie Lafontaine erhoffen sich die Delegierten einen rhetorischen Höhepunkt, der die Eintönigkeit der Sitzungsbürokratie und Formulierungsdebatten des Parteitages unterbricht. Diese Arbeitsphasen eines Parteitages sind auch für die Medien uninteressant. Eine brillante Rede eines Spitzenpolitikers hat demgegenüber höheren Nachrichtenwert. Die Medien haben etwas zu berichten und die Partei kann auf wirkungsvolle Fernsehbilder hoffen. Entsprechend war Lafontaines Rede angelegt. Inhaltlich bot sie keine neuen Einsichten und überraschenden Erkenntnisse. Lafontaine bemühte in der Hauptsache sozialdemokratische Allgemeinplätze, die in der Partei unumstritten waren. Im Grunde hatte er kaum etwas anderes gesagt als einen Tag zuvor der Vorsitzende. Er ging nicht ins Detail und vermied so jede Debatte über die Frage, wie die großen Worte in konkrete Politik zu übersetzen seien. Er blieb auf der Ebene allgemeinster Behauptungen, die es den Zuhörern leicht machte, sich mit seinen Aussagen zu identifizieren. Über den Streit um Parteivorsitz und Kanzlerkandidatur verlor er kein Wort, obwohl er längst als Kritiker Scharpings bekannt war. Lafontaine hatte alles getan, um jegliche Misstöne zu vermeiden. Das Publikum dankte es ihm mit Johlen und donnerndem Applaus.

Problematisch wurde die Rede nicht durch ihre Aussagen, sondern durch den Vortragsstil. Lafontaine redete laut, schnell und vital und vermochte auf diese Weise zu begeistern. Damit stellte er den Parteichef deutlich in den Schatten, dessen Eröffnungsrede eher als resigniert, gedämpft und wenig animierend empfunden worden war. Lafontaine hätte sich an die begrenzten rhetorischen Fähigkeiten seines Vorsitzenden anpassen müssen, um ihn nicht der Kritik der Medien auszuliefern.

Die Inszenierung der "Geschlossenheit" der Partei stellt an prominente Spitzenfunktionäre besondere Anforderungen. Aus der Sicht der Medien sind es diese Prominenten, die am ehesten Aussichten und Machtmittel haben, den Vorsitzenden zu beerben. Der hierarchische Aufbau der Parteispitze legt es zudem nahe, dass die Spitzenpolitiker der zweiten oder dritten Reihe nach wie vor um ihren Aufstieg kämpfen. Dies können sie aber nur erreichen, wenn sie die Amtsinhaber auf den höheren Hierarchieebenen verdrängen.

Solche Auseinandersetzungen sind der Stoff für spannende Medienerzählungen. Sie wirken quoten- und auflagensteigernd. Aber für die Partei sind sie verheerend, weil durch sie der Eindruck von Zerstrittenheit entsteht. Deshalb müssen nachrangige Spitzenfunktionäre immer darauf achten, dass sie die aktuelle Ämterverteilung in der Partei als richtig und sinnvoll bestätigen. Sie müssen in ihren Äußerungen wie auch in ihrem Verhalten deutlich machen, dass sie ihren Platz in der Hierarchie akzeptieren. Sie müssen auch zeigen, dass die ihnen Übergeordneten ihre Position auch verdienen. Daraus folgt für jeden Spitzenfunktionär eine Pflicht zu einer rangabgestuften Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit. Sein Auftritt darf nicht glanzvoller sein als die Auftritte der Höherrangigen. Anderenfalls ist es wahrscheinlich, dass der Auftritt des Nachrangigen in den Medien als Angriff oder als Ausdruck der Unzufriedenheit mit der Ämterverteilung interpretiert wird.

In Mannheim hatte sich Lafontaine nicht an diese Inszenierungsregel gehalten. Das hatte Folgen. Weil Lafontaine erheblich mehr Beifall erhielt als Scharping, bezeichneten ihn Journalisten als "heimlichen Parteivorsitzenden". Den Beifall nahmen sie als Beleg, dass die Delegierten lieber Lafontaine im Vorsitzendenamt sehen wollten. Eine Wiederwahl Scharpings hätten die Kommentatoren als Akt der Selbstverleugnung der Delegierten interpretiert. Der Jubel für Lafontaine schien auch zu zeigen, dass die Führung mit der Wiedernominierung Scharpings die Tuchfühlung zur Basis verloren hatte. Der Vorstand schien nicht mehr den Willen der innerparteilichen Mehrheit zu repräsentieren.

Wenige Stunden nach der Rede konstatierten Fernsehkommentatoren eine widersprüchliche Situation: Man liege Lafontaine zu den Füßen, aber würde doch den weniger beliebten Scharping wählen. Scharpings Wiederwahl wurde also als Fehler dargestellt. Damit war die Inszenierung der "Geschlossenheit" gescheitert. Diese Fernsehkommentare ließen erahnen, dass Scharping umstritten bleiben würde. Im Falle einer Wiederwahl Scharpings hätte der Parteitag einen deutlich negativen Eindruck in der Öffentlichkeit hinterlassen. Daher konnten Delegierte nun ohne großes Risiko über eine Kampfkandidatur nachdenken.

Noch vor Lafontaines Rede hätten andere Parteitagsteilnehmer solche Debatten als schädlich brandmarken können, weil sie den Medien unnötig den Stoff für ein Drama geliefert hätten. Nach Lafontaines Rede war das schlechte Medienecho durch keinen PR-Coup mehr zu verhindern. Über eine Kampfkandidatur zu diskutieren, erhöhte den Schaden nicht. Dafür bot sie die Chance, den Personalstreit medienwirksam zu beenden.

Angela Merkel: Trügerische Sicherheiten

Kampfkandidaturen um den Parteivorsitz sind in der deutschen Parteienlandschaft äußerst selten. In der Regel tritt ein einziger Kandidat zur Wahl an, der vom Parteitag ohne große Diskussionen bestätigt wird. Es ist daher nicht sehr wahrscheinlich, dass sich ein Personalwechsel in der CDU ähnlich spektakulär vollzieht wie in der SPD des Jahres 1995.

Bild: Armin Linnartz. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Angela Merkel kann sich dennoch nicht in Sicherheit wiegen. Dass es keine öffentliche Debatte um ihre Person gibt, bietet keine Gewähr dafür, dass ihre Stellung in der Partei allgemein anerkannt ist. Es gehört zu der Inszenierungsdisziplin, unablässig zu beteuern, dass man die bestmöglichen Kandidaten mit der Parteiführung beauftragt habe. Im deutschen Dauerwahlkampf gibt es für diese Disziplin immer einen Anlass. Noch ist Angela Merkel geschützt durch ihre Beliebtheit in der deutschen Bevölkerung.

Auf diese Popularität hofft die Partei für den kommenden Bundestagswahlkampf. Jede Merkelkritik in der Union würde folglich mit der Mahnung beantwortet werden, die Kanzlerin dürfe nicht beschädigt werden. Glaubt man den Medien, sitzt die CDU-Chefin fest im Sattel. Wie gut ihr Standing wirklich ist, wird sich erweisen, wenn ihr Stern sinkt, etwa dann, wenn die Euro-Krise Deutschland erreicht. Dann könnten sich die beflissenen Unterstützer der Kanzlerin schnell als falsche Freunde herausstellen.

Der ehemalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hat diesen Liebesentzug am eigenen Leibe erfahren müssen, als er durch sein Image zur Belastung für seine Partei wurde. Man drängte ihn unsanft aus dem Amt. Der letzte FDP-Parteitag zeigte wiederum, dass sein Nachfolger Philipp Rösler auch nicht mehr als Quotenbringer gilt. Rainer Brüderle zog alle rhetorischen Register und provozierte damit hämische Medienkommentare über das zu erwartende Ende des blass gebliebenen Parteichefs. Die deutsche Öffentlichkeit tut daher gut daran, dem Bild der heilen Welt der CDU zu misstrauen.