"90 Prozent des Marktes für die Sorten der Saatgut-Industrie reserviert"

Die Kampagne für Saatgut-Souveränität sieht das von der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft als "wichtigen Erfolg" gefeierte EuGH-Urteil kritisch

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Am 12. Juli verkündete der Europäische Gerichtshof ein Urteil in dem die Schadensersatzforderung des Saatgut-Rechteinhabers Graines Baumaux gegen die französische Bauerninitiative Kokopelli abgewiesen wurde. Die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft begrüßte diese Entscheidung öffentlich und sprach von einem "wichtigen Erfolg". Andreas Riekeberg von der Kampagne für Saatgut-Souveränität schätzt die Wirkung des Urteils dagegen ganz anders ein.

Herr Riekenberg, die Kampagne für Saatgut-Souveränität sieht das Urteil, das der EuGH am 15. Juli sprach, anders als die jubelnde Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft kritisch. Warum?

Andreas Riekeberg: Das Gericht hat mit dem Urteil vom 12. Juli eigentlich nur die bestehende Rechtslage bestätigt. Für Gemüse-Saatgut heißt das: Um handelbar zu sein, muss es entweder nach der regulären EU-Saatgut-Richtlinie für Gemüsesaatgut (2002/55/EG) zugelassen werden oder nach der Ausnahmeregelung für Erhaltungssorten (2009/145/EG), beziehungsweise für Deutschland nach der jeweiligen deutschen Umsetzung dieser EU-Richtlinien.

Die regulären Saatgut-Richtlinien sind auf die uniformen Sorten der Saatgut-Industrie zugeschnitten, die einen hohen Einsatz von Agrarchemie erfordern, um ihre Erträge zu bringen. Die Erhaltungssorten-Richtlinie eröffnet zwar eine kleine Nische, die aber auch sehr stark geregelt ist und erhebliche finanzielle und bürokratische Hürden für die Sorten-Erhalter aufbaut.

Wer Hunderte oder Tausende von Sorten erhält, von denen er nur jeweils eine kleine Menge abgibt, der kann diesen Aufwand nicht leisten. Aber gerade diese idealistische Arbeit der Sortenerhalter ist es, die die Vielfalt auf den Äckern und in den Gärten erhält und sie fördert. Für die Förderung der Sortenvielfalt ist es nötig, dass endlich die Vermarktungsverbote für nichtzugelassene Sorten fallen.

Der "Schlussantrag" der EuGH-Generalanwältin Juliane Kokott vom 19. Januar ging in diese Richtung, das hat gewisse Hoffnungen auf ein entsprechendes Urteil des EuGH geweckt, die nun nicht erfüllt worden sind. Die im Urteil enthaltene Bestätigung für die Erhaltungssorten-Richtlinie 2009/145 ist für uns kein Grund zum Jubeln, vor allem wenn man die gesamte Gesetzeslage und vor allem die Realität des fortschreitenden Verlustes von landwirtschaftlicher Vielfalt im Blick hat.

Saatgutbörse Brüssel. Foto: Kampagne für Saatgut-Souveränität

Wie sehen die erheblichen finanziellen und bürokratischen Hürden konkret aus?

Andreas Riekeberg: Für Saatgut von Gemüsesorten gibt es zwei Schienen der Zulassung: als Erhaltungssorten (wenn die Sorte von genetischer Erosion bedroht ist) oder als Sorte für den Anbau unter besonderen Bedingungen.

Auf beiden Schienen kann - muss aber nicht - auf eine amtliche Sortenprüfung verzichtet werden. Saatguterzeuger müssen genau berichten, wieviel Gramm Saatgut von welcher Sorte sie erzeugt haben.

Für Erhaltungssorten muss eine "Ursprungsregion" definiert werden, und das Saatgut für diese Sorte darf nur in dieser Region erhalten werden und in Verkehr gebracht werden. Es darf nur eine Höchstmenge von einer Sorte in Verkehr gebracht werden so viel wie für einen Anbau auf 10 bis 40 Hektar benötigt wird. Die geplante Erzeugung von Saatgut muss amtlichen Stellen angezeigt werden. Wollen mehrere Erhalter diese Sorte erhalten, wird ihnen eine Maximalmenge zugewiesen. Die Saatguterzeugung von diesen Erhaltungssorten muss von amtlichen Stellen hinsichtlich Orten und Mengen überwacht werden.

Bei "Sorten für den Anbau unter besonderen Bedingungen" entfällt die Definition einer Ursprungsregion und der Flächen-Höchstmenge, dafür gibt es maximale Packungsgrößen, zum Beispiel dürfen höchstens 5 Gramm in einer Packung Paprika-Saatgut sein.

Der Zeitaufwand wird auf fünfeinhalb bis elf Stunden pro Sorte und Anbausaison geschätzt, dazu kommen die Gebühren. Roland Wüst von Freie Saaten schätzt, dass dieser kleine Erhalterverein, der circa 1200 Sorten pflegt, nach der derzeitigen Regelung zwischen 36.000 und 252.000 Euro Zulassungsgebühren zahlen müsste, und für die Verwaltung jährlich einen Arbeitskostenaufwand von 132.000 bis 264.000 Euro hätte (die Arbeitsstunde mit 20 Euro Arbeitgeber-Brutto gerechnet). Das ist völlig untragbar.

Es ist die große Menge der erhaltenwerten Sorten, die den Schatz der landwirtschaftlichen Vielfalt ausmacht, die aber auch diesen enormen Zulassungs-Aufwand verursachen würde, wollte man für alle Sorten Zulassungen beantragen.

Warum erklärten dann Bauerninitiativen das EuGH-Urteil als Sieg? Ist es nicht wenigstens eine begrenzte Verbesserung?

Andreas Riekeberg: Das Urteil bestätigt lediglich die geltende Rechtslage, die insgesamt vielfaltsfeindlich ist. Es ist keine auch nur minimale Verbesserung der gegenwärtigen Lage.

Viele Organisationen von Saatguterhaltern sind vom Urteil sehr enttäuscht. So etwa der deutsche Dachverband Kulturpflanzen- und Nutztiervielfalt, der gut ein Dutzend Erhaltungsinitiativen vereint. In Österreich überschrieb die Erhaltungs-Organisation Arche Noah ihre Stellungnahme mit "Saatgut-Vielfalt bleibt bedroht!", in Frankreich äußerten sich das Netzwerk für bäuerliches Saatgut Réseau Semences Paysannes und natürlich Kokopelli selber sehr negativ über das EuGH-Urteil.

Das damit bestätigte Vermarktungsverbot für nichtzugelassenes Saatgut ist für sie nicht hinnehmbar.

Von Initiativen-Seite hat in ganz Europa meines Wissens einzig und allein der Vorsitzende der deutschen Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft, Friedrich-Wilhelm Graefe zu Baringdorf, das Urteil begrüßt. Warum er das getan hat, dazu müsste er selber befragt werden. Möglicherweise hängt das damit zusammen, dass er als grüner EU-Parlamentsabgeordneter damals die Erhaltungsrichtlinien mit durchgefochten hat und diese im Rechtsstreit - irrtümlicherweise - bedroht gesehen hat, woraufhin er positiv gesehen haben mag, dass der EuGH sie bestätigt hat. Renate Künast und der Bund für Umwelt und Naturschutz scheinen dann sehr schnell seiner Einschätzung gefolgt zu sein.

Wem das Urteil wirklich zupass kommt, das ist die Saatgut-Industrie. Die Sortenzucht gehört mittlerweile ja zu großen Teilen der Agrarchemie-Industrie. Die Saatgut-Industrie hat das Urteil begrüßt, etwa der Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter, in dem Bayer, BASF, Dow AgroSciences, KWS, Limagrain, Monsanto und Syngenta organisiert sind, oder auch die European Seed Association, der Spitzenverband der Saatgut-Industrie auf europäischer Ebene.

Setzt das Urteil Monopolansprüchen Ihrer Ansicht nach Grenzen?

Andreas Riekeberg: Nein. Die Konzentration auf dem Saatgutmarkt auf wenige Anbieter hat in den letzten Jahren in Europa und weltweit stark zugenommen. Noch in den 70er Jahren gab es weltweit Tausende Zuchtbetriebe, keiner hatte mehr als 1 Prozent Anteil am Weltmarkt. Mittlerweile teilen sich die 10 größen Konzerne 70-80 Prozent des Weltmarktes und sind zudem durch Kooperationsprojekte auch untereinander verflochten. Die EU-Saatgutgesetzgebung, die den Handel mit Saatgut von zugelassenen Sorten regelt, stand dem nicht entgegen.

Die vom Urteil bestätige Erhaltungssorten-Gesetzgebung sieht bei Ackerfrüchten ausdrücklich vor, dass der Anteil aller Erhaltungssorten nicht mehr als 10 Prozent am Markt der jeweiligen Ackerfrucht betragen darf - so bleiben 90 Prozent des Marktes für die Sorten der Saatgut-Industrie reserviert.

Ein Blick auf einen anderen Rechtsbereich im Umgang mit Pflanzensorten und Saatgut: Die EU-Sortenschutzgesetzgebung (über geistiges Eigentum an neuen Pflanzenzüchtungen) und die EU-Biopatentrichtlinie (über Patentierungsmöglichkeiten für neue Eigenschaften von Pflanzensorten) wurden in den letzten 25 Jahren immer wieder zugunsten der Inhaber von Rechten geistigen Eigentums geändert, sodass deren Ansprüche vergrößert wurden. Dies begünstigte die Saatgut-Industrie, die ihre Marktmacht immer weiter ausbauen konnte.

Setzen Sie auf eine Änderung der Richtlinie? Und auf welchem Wege wollen Sie die erreichen?

Andreas Riekeberg: Wichtig ist uns, das vielfältiges Saatgut auf den Äckern und in den Gärten verwendet wird, und vor allem Saatgut von Sorten, die nicht auf hohen Input an Agrarchemie und Energie angewiesen sind und die samenfest sind, das heißt aus denen wieder Saatgut gewonnen werden kann. Dann kann jeder auch selber Saatgut gewinnen! Wir fördern und unterstützen die Organisierung von Saatgut-Tauschbörsen, damit klarer wird: Saatgut muss ich nicht im Supermarkt kaufen, Saatgut können wir selber machen und austauschen. Wir setzen darauf, dass sich die soziale Praxis im Umgang mit Saatgut ändert und dass das Bewusstsein steigt, wie wichtig Saatgut ist.

Die rechtliche Regulierung des Saatgut-Handels ist natürlich auch wichtig. Das Saatgutrecht sollte so angelegt sein, dass es anpassungsfähigen, samenfesten und low-input-Sorten entgegenkommt. Dafür sind natürlich die EU-Richtlinien zu ändern, aber auch internationale Verträge, etwa die UPOV-Verträge.

Derzeit - seit 2008 - läuft ja auch die Reform der EU-Saatgutgesetzgebung, für die das EuGH-Urteil hätte wichtig werden können. Aber da geht es auch um andere Fragen. Etwa: wer nimmt die Sortenbestimmung vor: Chemielabore mittels DNS-Bestimmung oder die Menschen, die mit dem Saatgut auf den Feldern und in den Gärten arbeiten? Dazu gibt es von unserer Initiative den Text "Der Kampf ums Saatgut".

Um auf die Reform Einfluss zu nehmen, haben wir von 2009 an europaweit etwa 60.000 Unterschriften für einen Forderungskatalog gesammelt und diese im April 2011 bei Saatgut-Aktionstagen in Brüssel an eine Vizepräsidentin des EU-Parlamentes und zwei weitere Parlamentarier übergeben. Was den Gesetzgebungsprozess angeht, setzen wir eher auf die Diskussion eines Gesetzesentwurfes im EU-Parlament als auf die EU-Kommission, die oft sehr industriefreundlich handelt.

Ganz wichtig ist das Interesse der Öffentlichkeit an diesem Thema. Der Gesetzgeber darf die Saatgutfrage nicht als ein Spezialthema verstecken können, sondern es muss klar werden, dass es bei der Auswahl der Sorten immer auch um das Landwirtschaftsmodell geht: energieintensiv und von der Chemieindustrie abhängig - oder: mit weniger Energie auskommend und industrieunabhängig.

Wie sehen Sie die Lage außerhalb Deutschlands?

Andreas Riekeberg: In Ländern mit einem hohen Anteil (klein)bäuerlicher Landwirtschaft hat die Frage, welches Saatgut vermarktet werden darf und erhältlich ist, eine wesentlich größere ökonomische Bedeutung als etwa in Westeuropa und Nordamerika, wo die Landwirtschaft weithin industrialisiert betrieben wird. Das betrifft etwa die Türkei, Indien oder Mexico, aber auch Polen und Rumänien. Werden hier die scharfen Zulassungsbedingungen des EU-Saatgutrechtes eingeführt und durchgesetzt, dann bedroht das die Existenz der Familienbetriebe.

Bei den Saatgut-Aktionstagen in Brüssel haben Gäste aus der Türkei und Indien berichtet, dass die EU im Rahmen von Verhandlungen zu bilateralen Handelsverträge mit Indien oder des Assoziierungsabkommens mit der Türkei auch versucht, ihr Saatgutrecht und das Sortenschutzrecht in diesen Ländern durchzusetzen. Die Exportierbarkeit des Rechtssystems gehört auch ganz offiziell zu den Zielen der gegenwärtigen Reform der EU-Saatgutgesetzgebung.

Die EU will damit den Markt für die in ihr angesiedelte Saatgut-Industrie ausdehnen. Das würde sowohl auf Kosten der dortigen einheimischen Saatgutproduzenten gehen, ob das nun die landwirtschaftlichen Betriebe selber sind oder spezialisierte Saatgut-Erzeuger, als auch auf Kosten der Bauern, die mit diesem Saatgut arbeiten und dann auch verstärkt Agrarchemie einsetzen müssten. Die Abhängigkeit der dortigen Landwirtschaft von der internationalen Saatgut-Industrie würde wachsen, selbstbestimmtes Wirtschaften auf dem Land und Leben vom Land würden unterminiert werden.

Abdullah Aysu, Präsident von Çiftçi Sen, einem Bündnisses von Bauernvereinigungen in der Türkei, hat es in Brüssel auf den Punkt gebracht: "Die Bedeutung des Saatguts erkennt man in der Türkei daran, dass nur diejenigen, die Saatgut vermehren können, auch Bauern genannt werden. Die anderen nennt man Feldwächter".

Saatgut selber gewinnen und mit anderen tauschen zu können, das ist elementar für selbstbestimmte und selbständige Landwirtschaft. Saatgut-Souveränität ist ein wesentlicher Teil von Ernährungs-Souveränität; das Recht auf Saatgut gehört zum Menschenrecht auf Nahrung, dafür setzt sich vor allem die internationale Kleinbauernorganisation La Via Campesina ein. Der Kampf um Saatgut-Souveränität wird weltweit geführt.

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