Pussy Riot soll büßen

Wegen eines Anti-Putin-Gebets in der Moskauer Erlöser-Kirche drohen drei jungen Russinnen sieben Jahre Arbeitslager

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Wer Regeln so provokativ verletzt, wie die Frauen von Pussy Riot, die am 21. Februar mit bunten Strumpfhosen und Wollmasken vor dem Altar der wichtigsten russischen Kirche die Gottesmutter anflehten, Putin "zu vertreiben" (Originalaufnahme der Aktion, Video-Clip), soll offenbar die ganze Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.

Gestern begann vor dem Chamowniki-Gericht in Moskau der Prozess, der heute fortgesetzt wurde. Den drei Frauen, die wegen Gotteslästerung und Rowdytum angeklagt sind, drohen sieben Jahre Arbeitslager.

Viele Russen sind der Meinung, dass die drei Frauen von Pussy Riot mit fünf Monaten Untersuchungshaft genug gebüßt haben. Doch die russisch-orthodoxe Kirche und auch das staatliche Fernsehen machen aus den drei Frauen so etwas wie Staatsfeinde.

Keine Internet-Übertragung aus dem Gerichtssaal mehr

Die gestern vom Gericht organisierte Live-Übertragung aus dem Gerichtssaal, wurde heute auf Antrag der Staatsanwälte eingestellt. Eine Video-Übertragung gefährde Leben und Gesundheit der Prozess-Teilnehmer, argumentierten die Staatsanwälte. Es bestehe die Gefahr von Racheaktionen. Am 23. April war in dem Arbeitszimmer einer Richterin, welche die Haftzeit für Pussy Riot verlängert hatte, ein Mann mit einem Beil aufgetaucht. Der Mann wurde verhaftet.

Die drei angeklagten Frauen der feministischen Punk-Band Pussy Riot - Nadeschda Tolokonnikowa, Maria Aljochina und Jekaterina Samuzewitsch - versuchten heute die Verhandlung zu vertagen, jedoch ohne Erfolg. Die Angeklagte Maria Aljochina erklärte, sie könne an dem Verfahren nicht teilnehmen, weil man sie nachts am Schlafen gehindert habe. Außerdem beschwerten sich die drei Frauen, dass sie gestern weder während der zwölfstündigen Verhandlung im Gericht, noch danach im Untersuchungsgefängnis etwas zu essen bekommen haben. Ein Befangenheitsantrag der Verteidigung gegen die Richterin, wurde gestern abgewiesen.

Die Schrauben werden angezogen

Ganz offensichtlich steht das Vorgehen gegen Pussy Riot im Zusammenhang mit dem insgesamt verschärften Klima in Russland. Seit die Protestbewegung Demonstrationen mit bis zu 100.000 Menschen veranstaltet, zieht der Kreml die Schrauben gegen die Opposition kräftig an. Das Versammlungsrecht wurde verschärft und es wurde ein Gesetz erlassen, welches die Finanzhilfen für Nichtregierungsorganisationen aus dem Ausland noch strenger kontrollieren soll.

Außerdem werden die Ermittlungen wegen der Straßenschlacht am 6. Mai fortgesetzt. Am Rande einer Großdemonstration gegen Putin waren auch Steine flogen, weshalb jetzt zwölf Personen in Haft sitzen.

Künstler plädieren für Milde

Die Zeit arbeitet für die drei Angeklagten und gegen den Kreml. Denn je länger die drei Frauen in Haft sitzen, desto größer wird nach Meinungsumfragen die Zahl derjenigen Bürger, die für Milde plädieren. Nach einer Mitte Juli in Moskau durchgeführten Umfrage des Lewada-Meinungsforschungsinstituts beurteilen 50 Prozent der Befragten das juristische Verfahren gegen Pussy Riot negativ und nur 36 Prozent positiv.

Im Juni kam es zu einer ziemlich ungewöhnlichen Allianz zur Unterstützung der Frauen. 100 bekannte Musiker, Schauspieler und Regisseure, darunter auch Fjodr Bondartschuk und andere Kulturschaffende aus dem Dunstkreis des Kreml, schrieben einen Offenen Brief. Sie erklärten, über die Aktion in der Kathedrale gäbe es unterschiedliche Meinungen, aber man sei sich einig, dass die Aktion nicht kriminell war. Doch diese kritischen Stimmen ignoriert der Kreml bisher.

Auch Ministerpräsident Dmitri Medwedew findet die lange Untersuchungshaft nicht anstößig. In einem gestern veröffentlichten Interview mit der englischen Zeitung Times erklärte der Premier, "in einigen anderen Ländern" hätte so eine Aktion in einem Gotteshaus für die Frauen "ein trauriges Ende" nehmen können.

"Wir haben einen ethischen Fehler gemacht"

Das Medien-Interesse für Pussy Riot ist auch in Russland groß. Angeheizt wurde die Berichterstattung durch die gestrige Entschuldigung der Angeklagten Nadeschda Tolokonnikowa. Wenn durch den Auftritt in der Christi-Erlöser-Kirche Menschen in ihrem Glauben verletzt wurden, sei sie "bereit zu erklären, dass wir einen ethischen Fehler begangen haben", las die Verteidigerin Violetta Wolkowa aus einer Erklärung der Angeklagten vor. Das liberale Massenblatt Moskowski Komsomolez titelte daraufhin, "Pussy Riot hat seinen Fehler anerkannt, aber nicht seine Schuld."

Das Spiegelbild von Putins Männerkult

Die Ereignisse um Pussy Riot und die Resonanz in der Öffentlichkeit zeigen, dass sich die russische Jugend politisiert und zum Teil auch radikalisiert. Doch wen wundert es, dass es bei so viel von Putin zelebriertem Männlichkeitskult in der Jugend auch Widerspruch gibt. Und ist es ein Wunder, dass sich dieser Widerspruch auf schrille Art äußert, weil es eben nur wenig Wege gibt, in der Öffentlichkeit Gehör zu finden?

In einem Interview mit der der Zeitung Moskowski Komsomolez (MK) erklärt eine der noch in Freiheit befindlichen Aktivistinnen, Hauptziel der Aktionen sei "der Rücktritt von Putin und seinen Sicherheits-Chefs" sowie die gesetzliche Verankerung von Geschlechter-Gleichheit. Für die Schulen fordern die Aktivistinnen Unterrichtsstunden über Feminismus und Frauen-Diskriminierung. Mitglieder bei Pussy Riot seien Frauen mit "unterschiedlicher sexueller Orientierung" und Anhänger der aus den USA kommenden Queer-Theorie, welche die traditionellen Geschlechterrollen in Frage stellt. Die Christi-Erlöser-Kirche sei längst zu einem "Business-Zentrum" geworden, "mit Bankett-Sälen, Salons und Parkflächen", meinen die Frauen im MK-Interview.

"Haben sie eine Aufenthaltsgenehmigung in Kanada?"

Die staatlichen Medien versuchen das Anti-Putin-Gebet der Pussy-Riot-Aktivistinnen in der Christi-Erlöser-Kirche als vom Ausland gesteuert zu diffamieren. Der staatliche Fernsehkanal Rossija 1 zeigte Dokumente, die angeblich belegen, dass Nadeschda eine Aufenthaltsgenehmigung und eine Krankenversicherung in Kanada hat. In dem Film wird sie von einem Ermittler gefragt, ob es stimme, dass sie in Kanada ein Aufenthaltsrecht habe. Nadeschda verneinte.

Der Tenor der Berichterstattung im staatlichen Fernsehen ist eindeutig. Hinter Pussy Riot steht der Westen, der an den Grundfesten der russischen Kultur rütteln will. Diese Propaganda läuft, obwohl Nadeschda erklärt, sie glaube an Gott. Doch wer an Gott glaubt, muss auch die Regeln der Kirche anerkennen, so der Standpunkt der staatlichen Medien.

Wer sind die drei Angeklagten?

Die drei Frauen, mit Kurznamen, Mascha, Katja und Nadja, sind alle drei gut ausgebildet. Nadja ist mit ihren 22 Jahren die jüngste der drei Angeklagten. Sie wurde in der nordrussischen Industriestadt Norilsk geboren. Ihr Vater war Kinderarzt, ihre Mutter Musiklehrerin.

Als der Staat Anfang der 1990er Jahre nur noch selten Gehälter zahlte, mussten sich die Eltern als Geschäftsleute durchschlagen. Die Familie zerfiel. Die damals einjährige Nadja kam in Obhut der Großmutter, die im sibirischen Krasnojarsk lebte. Als Nadeschda drei Jahre alt war, nahm der Vater die Tochter dann mit nach Moskau. Als Nadeschda fünf Jahre alt war, nahm die Mutter die Tochter zurück nach Norilsk. Gegen die Proteste der Mutter, die inzwischen eine erfolgreiche Geschäftsfrau geworden war, entschied sich Nadeschda dann für ein Philosophie-Studium an der Moskauer Universität. Offenbar, um die Tochter nicht zu verlieren, kaufte die Mutter Nadja eine Wohnung in Moskau.

Sex zwischen ausgestopften Tieren

An der Universität lernte die junge Studentin ihren späteren Ehemann, Pjotr Wersilow, kennen. Zusammen mit Pjotr beteiligte sich Nadja im Februar 2008 an einer Aktion der Künstler-Gruppe Wojna (Krieg). Im Biologischen Museum von Moskau, zwischen allen möglichen ausgestopften Tieren, machten mehrere Paare Sex, auch die im neunten Monat schwangere Nadja mit ihrem Pjotr.

Das habe doch ihrem Kind geschadet, meinte später ein Ermittler, der Nadeschda vor laufender Fernsehkamera vernahm. Doch die junge Frau entgegnete dem Ermittler ganz ruhig, Sex sei gut für Schwangere. Das könne man in medizinischen Büchern nachlesen.

Die Angeklagte Maria Alechinoj ist 24 Jahre alt und Mutter des fünfjährigen Sohnes Philipp. Die Moskauerin wuchs ohne Vater bei ihrer Mutter auf, studiert Journalismus und beteiligte sich an Umwelt-Aktionen am Baikal-See. Als Freiwillige der russisch-orthodoxen Organisation Danilowzi arbeitete sie im Moskauer Psychatrischen Kinderkrankenhaus Nr. 6.

"Alles ist in Ordnung. Sorge dich nicht!"

Jekaterina (Katja) Samuzewitsch ist mit ihren 29 Jahren, die älteste der drei Angeklagten. Sie lebte mit ihrem 73jährigen Vater, Stanislaw, zusammen. Er bringt seiner Tochter jeden Montag Nahrungsmittel in das Untersuchungsgefängnis. Katja muss sich die Zelle mit drei anderen Frauen teilen, die alle über 50 sind und die junge Aktivistin drangsalierten, als sie hörten, dass Katja wegen einer "anti-religiösen" Aktion in Haft ist. Zwei Hungerstreiks bewirkten dann, dass die Drangsalierungen eingestellt wurden. Gegenüber ihrem Vater demonstriert Katja, immer Optimismus, schreibt der Kommersant. "Alles ist in Ordnung. Sorge dich nicht!"

Katja hätte Karriere machen können. Sie arbeitete als Programmiererin im Rüstungskonzern Morinformsistema-Agat und war an der Software-Entwicklung für das U-Boot Nerpa beteiligt. Als die junge Mitarbeiterin in den Fernen Osten versetzt werden sollte, kündigte sie und setzte ihre Arbeit als selbstständige Programmiererin in Moskau fort. 2009 beendete Katja eine Ausbildung an der Moskauer Rodschenko-Foto-Schule.

Gegen Einflüsse aus dem Westen

Wenn nicht noch ein Wunder passiert, dann werden die drei Frauen zu Haftstrafen im Arbeitslager verurteilt, glauben Beobachter in Moskau. Insbesondere das Patriarchat der russisch-orthodoxen Kirche trommelt für einen harten Kurs gegen Pussy Riot. Als Antwort auf die Aktion der Frauen hatte das Patriarchat im April zu einer Großkundgebung in Moskau "Zum Schutz des Glaubens, der beschimpften Heiligen, der Kirche und ihres guten Namens" aufgerufen. Die russisch orthodoxe Kirche sieht sich selbst als feste Säule gegen kulturelle Einflüsse des Westens und Entwicklungen, die das Staatsgefüge erschüttern.

Auch in der Kirche gibt es reformerische Kräfte. Hin und wieder erfährt man von ihnen. Da äußert sich jemand kritisch über die mangelnde Aufarbeitung des Stalin-Terrors oder warnt, wie jetzt der Diakon und Theologe Andrej Kulajew, vor dem Schaden für die Kirche, wenn die Frauen von Pussy Riot zu lange in Haft sind. Solche Stimmen dringen aber nur selten an die Öffentlichkeit.

Klagen gegen Satire. Es fliegen auch Fäuste

Bedenklich muss stimmen, dass die russisch-orthodoxe Kirche nicht nur auf Pussy Riot sondern auf jegliche Kritik und selbst Satire aggressiv reagiert. Kaum demonstrieren in Moskau Homosexuelle, sind sofort von der Polizei geduldete ultranationalistische Kosaken und Kirchenfahnenträger zur Stelle, welche die Demonstranten tätlich angreifen.

Ultranationalisten zerstörten 2003 Kunstwerke auf der Ausstellung "Vorsicht Religion" im Moskauer Sacharow-Zentrum. 2008 klagte die kirchennahe Organisation Narodnyj Sobor gegen Andrej Jerofejew wegen Aufwiegelung zum religiösen Hass. Der Anlass war die von Jerofejew organisierte, zweite kirchenkritische Ausstellung unter dem Titel "Verbotene Kunst", die ebenfalls im Sacharow-Zentrum stattfand. Nur durch eine starke öffentliche Unterstützung konnte verhindert werden, dass der Ausstellungs-Kurator nicht zu mehreren Jahren Arbeitslager verurteilt wurde.

Der Druck auf Kirchen-Kritiker in Russland ist erheblich. Doch allein mit Prozessen und tätlichen Angriffen wird sich die Modernisierung Russlands nicht aufhalten lassen.