Mehr Freizeit, weniger Rüstung und besiegte Allergien

Was Physiker und Science-Fiction-Schriftsteller vor einem Vierteljahrhundert für das Jahr 2012 voraussagten

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Die Organisation Writers of the Future fragte 1987 eine Reihe von Physikern und namhaften Science-Fiction-Schriftstellern, wie sie sich die Welt in 25 Jahren vorstellen. Die Antworten wurden in einer "Zeitkapsel" so lange unter Verschluss gehalten, bis sie mit der Realität abgeglichen werden konnten.

Die zutreffendsten Vorhersagen machte der Physiker Gerald Feinberg, der lediglich feststellte, dass offenbar kein weltweiter Atomkrieg stattgefunden hat, wenn man seine Prognose 2012 noch liest und sich darüber hinaus praktisch ausschließlich über das Potenzial der Nanotechnologie ausließ. Noch kürzer fasste sich Isaac Asimov, der zwar die Weltbevölkerung 2012 um eine bis drei Milliarden zu hoch schätzte, aber trotzdem richtigerweise prognostizierte, dass Hunger ein weitverbreitetes Phänomen sein würde. Als Verantwortlichen dafür nennt der 1992 in New York gestorbene Amerikaner seinen damaligen Präsidenten Ronald Reagan, der "zu viel lächelte und winkte". Robert Silverberg, der Autor von Es stirbt in mir, liegt mit seiner - allerdings recht abstrakten - Vorhersage ebenfalls relativ dicht am Tatsächlichen: Seiner Einschätzung von 1987 nach wird das 21. Jahrhundert "eine Zeit des Terrors, der Überraschungen, der Wunder und des Ruhms - mit Schwerpunkt auf Überraschungen und Wunder".

Gene Wolfe, der Autor mehrerer umfangreicher Fantasy-Zyklen und der grandiosen Mehrperspektivenerzählung Der fünfte Kopf des Zerberus, war 1987 deutlich konkreter als Silverberg - und lag der Wahrscheinlichkeit folgend auch öfter falsch: So hatte er zwar mit der Prognose recht, dass bis 2012 kein Atomkrieg stattfindet - aber die Sowjetunion gab bereits drei Jahre nach seiner Niederschrift den Geist auf und existiert schon lange nicht mehr. Zutreffender scheinen seine Vorhersagen zur Bildungsentwicklung: Schulen lehren heute tatsächlich mehr Berufs- und weniger Allgemeinbildung als früher und internationale Vergleichstests bemängeln unter anderem jene fehlenden Lesekompetenzen, die Wolfe schon 1987 am Horizont erblickte. Geradezu unheimlich realistisch wirkt Wolfes Einschätzung, dass eine kleine gebildete Elite mittels "soziologischer Simulation" über eine große ungebildete Masse und eine kleine gebildete Gegenkultur herrscht. Auch, dass computergenerierte Figuren und Hintergründe im Fernsehen nicht mehr von echten Menschen zu unterscheiden sind, trifft zumindest für manche Filme und Serien zu.

Komplett falsch lag der mittlerweile hochbetagte Brooklyner dagegen mit seiner Vorhersage, dass es wegen neu entdeckten Krankheiten 2012 kaum mehr Sex außerhalb der Ehe geben würde. Stattdessen sank die Bedeutung der Institution (zumindest in den alten Industrielandern) weiter. Auch seine Vorhersage, dass es Schadensersatz für eheliche Untreue geben wird, erfüllte sich nicht. Und während Asimov die Weltbevölkerung mit 8 bis 10 Milliarden zu hoch schätzte, ging Wolfe mit unter 6 Milliarden von einer zu niedrigen Geburtenrate (oder einer zu hohen Sterberate) aus. Richtig lag Wolfe mit der Vermutung, dass es Menschen geben wird, die im Weltraum leben. Allerdings war das 1987 keine besonders wagemutige Aussage - schließlich gab es damals schon die Raumstation Mir. Aber auch heute existiert noch keine dauerhaft besetzte Mondbasis. Politisch scheint man von solch einem Vorhaben sogar weiter entfernt als 1987.

Dave Wolverton (der mittlerweile unter seinem Fantasy-Pseudonym David Farland bekannter ist als unter seinem bürgerlichen Namen) ging 1987 richtigerweise davon aus, dass Technologie aus Ländern mit "aufgeblähten" Wirtschaftssystemen in Länder abwandert, die 1987 zur so genannten Dritten Welt zählten. Die Männerrechtsbewegung, die er sich für 2012 als gesellschaftliche Kraft ausmalte, liegt allerdings noch in ihren Geburtswehen - auch wenn über die von ihm angesprochenen Vaterrechte heute öfter zu lesen ist als früher. Wolvertons Ausführungen zur Rolle der Gentechnologie für den Fortschritt in Medizin, Rohstoffgewinnung und Nahrungsmittelproduktion wirken dagegen aus heutiger Sicht zu optimistisch: Weder lassen sich mit genetisch modifizierten Bakterien Allergien und andere Immunkrankheiten heilen, noch hat man damit Aids besiegt.

Roger Zelaznys Vorhersage eines bargeldlosen Zahlungsverkehrs hat sich nur teilweise erfüllt. Bargeld spielt auch heute noch eine wichtige Rolle - zum Beispiel dann, wenn Griechen, Spanier oder Deutsche Geld an ihren Finanzämtern vorbei ins Ausland bringen. Anderswo lag der Autor des Herrn der Träume haarsträubend falsch: Die Menschen sind trotz biotechnologischer Fortschritte nur sehr bedingt gesünder als früher (was in den USA auch daran liegt, dass heute ein sehr viel kleinerer Anteil beim Arbeitgeber voll krankenversichert ist als in den 1980er Jahren) - und sie haben keineswegs mehr Freizeit als damals, sondern sehr viel weniger. Telearbeit sorgt vor allem für unbezahlte Überstunden und in Büros und Fabriken arbeitet es sich trotz (und teilweise auch wegen) Computern nicht wesentlich angenehmer als 1987. Ebenso wenig hat man die Fertigung von Gütern in den Weltraum verlagert. Geradezu grotesk wirkt nach den Kriegen im Irak und in Afghanistan Zelaznys Ankündigung, dass die Rüstungsetats schrumpfen würden. Lediglich mit der Vorstellung, dass sein dann aktuelles Buch sowohl in elektronischer als auch in gedruckter Form erscheinen würde, wäre der Nebula- und Hugo-Award-Gewinner goldrichtig gelegen - wenn ihn nicht schon 1995 der Tod ereilt hätte.

Der einzige Autor, der damals die Staatsschulden als ähnliche Zeitbombe wie die Umweltverschmutzung erkannte, ist der 2006 verstorbene Jack Williamson. Er machte 1987 allerdings keine Prognosen, sondern drückte lediglich die Hoffnung aus, dass Computer zu einer Befreiungstechnologie werden, dass die Geburtenrate durch Vernunft sinkt und dass sich die Menschheit durch die Gentechnologie selbst verbessert.

Der Physiknobelpreisträger Sheldon Glashow, der ebenfalls an der Aktion teilnahm, lag mit der Vorhersage richtig, dass aus Ronald Reagans Star-Wars-Programm nichts werden würde und dass die Gefahr eines Atomkrieges 2012 weitgehend gebannt sein dürfte. Einige tausend Kilometer zu weit östlich lag er mit der Vorstellung, dass Japan 2012 Europa und die USA wirtschaftlich beherrscht und deshalb ein Interesse daran hat, diese Volkswirtschaften als Kunden am Laufen zu halten. Beim medizinischen Fortschritt war er dagegen - wie viele andere - viel zu optimistisch. Möglicherweise war es gerade die Verlagerung von Forschung aus staatlichen Einrichtungen und die massenhafte Gewährung von Monopolrechten, die dazu führte, dass wider dem damaligen allgemeinen Erwarten Diabetes, Gicht, Multiple Sklerose und Parkinson heute ähnlich große Probleme verursachen wie vor 25 Jahren.

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