Sinkt mit weniger Erwerbstätigen die Arbeitslosigkeit?

Nach einer aktuellen Studie hat der demografische Wandel kaum Einfluss auf die Entwicklung der Arbeitslosigkeit

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Die deutsche Bevölkerung gehört zu den ältesten weltweit, und der demografische Wandel ist noch längst nicht abgeschlossen. Der Arbeitsmarkt wird sich unter diesen Umständen kontinuierlich verändern, doch ob die geburtenschwachen Jahrgänge bessere Rahmenbedingungen vorfinden als die viel zitierten Baby-Boomer, lässt sich noch nicht abschätzen.

Eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) widerspricht jedenfalls der These, dass die Arbeitslosigkeit mit dem Altern der Bevölkerung zwangsläufig sinken wird (s.a.: Länger arbeiten).

Demografische Verschiebungen

Die nackten Zahlen sind im Statistischen Jahrbuch 2011 nachzulesen. Demnach leben in Deutschland 17 Millionen Menschen, die älter als 65 Jahre sind. Sie stellen mittlerweile rund 20 Prozent der Gesamtbevölkerung, während ihr Anteil im Jahr 1950 noch bei 10 Prozent lag. Im selben Zeitraum halbierte sich die Zahl der Geburten. 1950 wurden in Ost- und Westdeutschland 1,1 Millionen Kinder geboren - 2010 waren es nur noch 678.000. Prognosen des Statistischen Bundesamtes gehen davon aus, dass Deutschland bis 2060 etwa 17 Millionen Einwohner verlieren könnte.

Diese Entwicklung verschiebt auch die Altersstruktur auf dem deutschen Arbeitsmarkt, der im Langzeitvergleich der Jahre 1991 bis 2010 interessante Daten liefert. So nahm die Zahl der Erwerbspersonen um 1,86 Millionen Menschen zu, obwohl die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um 1,18 Millionen sank. Nach Berechnungen des IAB, die frühere Analysen in der Tendenz bestätigen, schrumpfte die Erwerbsquote der 15- bis 19-Jährigen derweil von 40 auf 30,5 Prozent. Im gleichen Zeitraum schnellte die Erwerbsquote der 55- bis 59-Jährigen um 18 Prozentpunkte nach oben – und die der 60- bis 64-Jährigen stieg sogar von 20,8 auf 44,2 Prozent.

Die Autoren Alfred Garloff, Carsten Pohl und Norbert Schanne bieten einleuchtende Erklärungen an. Längere Ausbildungszeiten auf der einen - und ein ganzes Ursachenbündel auf der anderen Seite.

Dazu zählen die Bereitschaft zu längerer Erwerbstätigkeit, die insgesamt höhere Erwerbsbeteiligung von Frauen während und nach der Familienphase, eine bessere Gesundheit, der Wunsch nach Aufbesserung der Altersrente, aber auch die Veränderung der politischen Rahmenbedingungen.

Garloff/Pohl/Schanne: IAB-Kurzbericht 10/2012

Frühverrentungen und Vorruhestandsregelungen seien durch die rot-grüne "Reformpolitik" der Jahre 2002 bis 2005 erkennbar zurückgegangen, gleichzeitig habe sich der Anstieg der sogenannten "atypischen Beschäftigung" auf die Erwerbsquote älterer Arbeitnehmer ausgewirkt.

Das Arbeitsvolumen

Die bloße Zunahme der Erwerbspersonen sagt nichts darüber aus, in welchem Umfang die Beschäftigten einer Tätigkeit nachgehen und ob es sich im Einzelfall um eine angemessen entlohnte und insgesamt zufriedenstellende Arbeit handelt. Neuere Untersuchungen zeigen allerdings, dass das Arbeitsvolumen der abhängig Beschäftigten im wiedervereinigten Deutschland kontinuierlich abgenommen hat.

Eine IAB-Studie aus dem Jahr 2011 belegt den eigenwilligen Tatbestand, dass die Zahl der beschäftigten Frauen zwischen 1991 und 2010 um 16 Prozent anstieg, während das von ihnen geleistete Arbeitsvolumen nur um 4 Prozent wuchs. Der rasante Ausbau des Teilzeit-, Mini- und oft auch Billiglohnsektors betraf aber auch die männlichen Beschäftigten.

Im Jahr 2010 arbeiteten 52,1 Prozent der weiblichen Beschäftigten in Teilzeit (1991: 30,7 %). Bei den Männern waren es 17,6 Prozent, wobei sich ihre Teilzeitquote in den Jahren 1991 bis 2010 um 13,7 Prozentpunkte erhöht hat.

Susanne Wanger: IAB-Kurzbericht 9/2011

Weniger Erwerbstätige, weniger Arbeitslosigkeit?

Bis 2030 soll sich die Erwerbsbevölkerung, die 2010 bei 54 Millionen lag, noch einmal deutlich verringern. Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes gehen von rund 45 Millionen Personen aus – trotzdem brechen für die verbliebenen Beschäftigten wohl keine paradiesischen Zeiten an, in denen sie unbegrenzt zwischen attraktiven Jobangeboten wählen und ihr Einkommen mehr oder weniger selbst bestimmen könnten. Alfred Garloff, Carsten Pohl und Norbert Schanne sehen keinen signifikanten Zusammenhang zwischen dem schnellen Altern der Gesellschaft und der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt.

Hätte sich die Altersstruktur der Erwerbspersonen gegenüber 1991 nicht verändert, wäre unter sonst gleichen Bedingungen die Arbeitslosenquote des Jahres 2010 mit rund 0,19 Prozentpunkten nur marginal höher gewesen. Positive Impulse für den Arbeitsmarkt gingen auch von der Veränderung der Erwerbsbeteiligung aus, die mit 0,07 Prozentpunkten aber noch geringer ausfielen. Auch in Zukunft ist davon auszugehen, dass der Altersstruktureffekt quantitativ kaum Bedeutung für die Arbeitsmarktentwicklung haben dürfte. So ergibt sich nach unseren Berechnungen aufgrund dieses Effekts bis 2030 ein Rückgang der Arbeitslosenquote um lediglich 0,14 Prozentpunkte.

Garloff/Pohl/Schanne: IAB-Kurzbericht 10/2012

Hängt die Zukunft des Arbeitsmarktes also eher von weltwirtschaftlichen Entwicklungen, dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage und dem schwer zu prognostizierenden Abgleich von Arbeitgebererwartungen und Arbeitnehmerprofilen ab?

Rente mit 69

Der Rückgang der Erwerbsbevölkerung, die Belastung der Sozialkassen und der immer wieder beschworene Fachkräftemangel halten das Thema in den Schlagzeilen. Schon die Kommissionsteilnehmer, die vor zehn Jahren im Auftrag der rot-grünen Reformstrategen aktiv wurden, geizten nicht mit düsteren Zukunftsprognosen – stets besorgt, dass die Verknappung des Humankapitals den Interessen der Wirtschaft schaden könnte.

Das Erwerbspersonenpotenzial (Erwerbstätige, registrierte Arbeitslose und stille Reserve) wird also deutlich sinken. Bis zum Jahr 2015 fehlen nach Schätzungen im ungünstigsten Fall rund 7 Millionen Erwerbspersonen, wenn man von einem Anstieg des Arbeitskräftebedarfs von knapp 3 Millionen ausgeht.

Hartz-Kommission 2002

Eine Folge war die "Rente mit 67", die ebenfalls dazu beitragen dürfte, etwaige positive Effekte des demografischen Wandels auf die Absenkung der Arbeitslosigkeit einzudämmen. Einer der Entscheidungsträger von damals hat das neue Renteneintrittsalter mittlerweile erreicht und bekennt sich in einem launigen Interview weiter zu der unpopulären Maßnahme, die auch von der amtierenden Bundesregierung (mit gelegentlicher Ausnahme der CSU) getragen wird.

Die Entscheidung für die Rente mit 67 war richtig und sie gilt weiter. Wir werden relativ gesund älter und können länger arbeiten als die Menschen vor 50 Jahren. Natürlich gilt das nicht für jeden und nicht in allen Berufen, aber die Mehrheit der Arbeitnehmer kann 2029 bis 67 arbeiten.

Franz Müntefering

Die OECD, das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung oder die deutschen Wirtschaftsweisen sehen noch größeren Handlungsbedarf, weil die alternde Gesellschaft ihre Aufgaben ohne eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit nicht erfüllen könne. Der Sachverständigenrat gehe davon aus, dass die steigende Lebenserwartung ab 2045 ein gesetzliches Renteneintrittsalter von 68 Jahren und im Jahr 2060 von 69 Jahren erfordere, sagte der Wirtschaftsweise Wolfgang Franz im Januar.

Die Landesverbände der Jungen Union aus Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und dem Saarland gehen noch einen Schritt weiter. "Wir wollen ernsthaft prüfen, das gesetzliche Rentenalter auf 70 zu erhöhen", erklärte der baden-württembergische Vorsitzende Nikolas Löbel im Juli auf der Südwestkonferenz des CDU-Nachwuchses in Heidelberg.

"Der Bundesregierung liegen keine umfassenden Kenntnisse vor ..."

Berlins Regierender Bürgermeister beurteilt die Sachlage ganz anders. "Man findet kaum jemanden, der mit über 60 Jahren noch arbeitet. Solange die alte Altersgrenze von 65 Jahren nicht erreichbar ist, bleibt die Diskussion um deren Heraufsetzung bigott und greift zu kurz", meinte Klaus Wowereit vor wenigen Tagen und kündigte einen neuen Vorschlag der SPD an, der auf dem Bundesparteitag im November präsentiert werden soll.

Die jüngste IAB-Studie widerlegt Wowereits These durchaus eindrucksvoll, beantwortet aber ausdrücklich nicht die Frage, wie es um die Qualität der Arbeitsplätze älterer Beschäftigter bestellt ist.

Auch ein Blick in das allemal raffinierte Auskunftsersuchen von Bündnis 90/Die Grünen, die die Bundesregierung im März 2011 zu "alterns- und altersgerechten Arbeitsbedingungen" befragen wollten, hilft nicht weiter. "Der Bundesregierung liegen keine umfassenden Kenntnisse über die Anzahl der alters- und alternsgerecht ausgestalteten Arbeitsplätze vor", hieß es in der reichlich orientierungslosen Antwort.

Für die Gestaltung von alters- und alternsgerecht ausgestalteter Arbeitsplätze bedarf es unterschiedlicher Maßnahmen, die von den spezifischen Bedingungen und Anforderungen der Betriebe, der Größe und Branche sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und den jeweiligen Tätigkeiten abhängig sind.

Antwort der Bundesregierung "Alterns- und altersgerechte Arbeitsbedingungen"

Dabei wird es Zeit, dass die sich die politischen Verantwortungsträger intensiver mit Fragen dieser Art auseinandersetzen. Die IG Metall hat vor kurzem eine Kampagne gestartet, die auf das Vorfeld der niedersächsischen Landtagswahl und der Bundestagswahl 2013 zielt. "Gute Arbeit - gut in Rente" diskutiert die schrittweise Anhebung der Regelaltersgrenze als "grandiose Fehlentscheidung", die Arbeitslosigkeit und Altersarmut fördere. Statt starrer Altersgrenzen fordert die Gewerkschaft Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretungen zum Dialog auf, um einen "demografischen Interessenausgleich" zu erreichen. 2013 dürfte die Rentenfrage auf der Liste möglicher Wahlkampfthemen weit oben stehen, zumal in diesem Zusammenhang über das vorherige Lohnniveau gestritten werden kann. Hier passen denn auch die Argumentationslinien des Regierenden Bürgermeisters besser zusammen.

Entscheidend, um Altersarmut zu vermeiden, sind vernünftige Löhne, die im Erwerbsleben gezahlt werden. Wer mit einer 40-jährigen Erwerbsbiografie nicht in der Lage ist, ein vernünftiges Rentenniveau zu erreichen, hat keinen ausreichenden Lohn bekommen.

Klaus Wowereit