"Komplementarität" statt Gleichheit

Tunesien: Islamisten versuchen eine Neukonzeption der Rechte der Frauen

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"Der Staat garantiert den Schutz der angestammten Frauenrechte unter dem Prinzip der Komplementarität mit dem Mann in der Familie und als Partnerin des Mannes bei der Entwicklung des Heimatlandes." Dieser Text, der in einen Artikel der neuen Verfassung über die Rechte der Frauen aufgenommen werden soll, sorgt in Tunesien und bei tunesischen Migranten in Frankreich für Unruhe. Verschiedene Frauenverbände, darunter Amnesty, äußern sich empört gegen die Aufweichung des Prinzips der Égalité, die mit diesem Passus und dem Konzept, das dahintersteht, unternommen wird.

Im Orginal lautet der entsprechende Passus so:

l'Etat assure la protection des droits de la femme, de ses acquis, sous le principe de complémentarité avec l'homme au sein de la famille et en tant qu'associée de l'homme dans le développement de la patrie.

Überliefert wird der Wortlaut von einer Abgeordneten der linken Partei Ettakatol, Selma Mabrouk. Der Vorschlag kommt von der größten Partei der verfassungsgebenden Nationalversammlung, der islamistischen Ennahda-Partei. Er ist bislang nur in einem Gremium, der Kommission für Rechte und Freiheiten, angenommen worden. Dort sollen Vorschläge für verschiedene Artikel der neuen Verfassung erarbeitet werden. Das Plenum der Nationalversammlung hat über den Vorschlag zur Neufassung des Artikels 27 über die Rechte der Frauen noch nicht abgestimmt.

Laut der Abgeordneten Mabrouk wird dem oben zitierten Satz im Verfassungsartikel ein weiterer hinzugefügt: "Der Staat stellt die Chancengleichheit für die Frauen in allen seinen Verantwortlichkeiten sicher. Der Staat garantiert, dass er die Gewalt, die sich gegen Frauen richtet, welcher Art sie auch ist, bekämpfen wird ("L’État garantit l’égalité des chances pour la femme dans toutes les responsabilités. L’État garantit la lutte contre la violence faite aux femmes, quelle qu’en soit la sorte.").

Es sind solche Stellen, die sich einer allzu simplen, mit drastischen Konturen gezeichneten Schwarz-Weiß-Malerei entziehen. Und es ist wahrscheinlich, dass der Vorsitzende der Mehrheitspartei Ennahda, Rached Ghannouchi, auch diesen Passus im Auge hat, wenn er betont, dass das Prinzip der Gleichheit der Frauen in der neuen Verfassung eingeschrieben bleibe. Um allerdings gegenüber den Kritikern hinzuzufügen, dass auch er der Auffassung ist, dass das Prinzip der Gleichheit nun im Prinzip der Komplementarität verkörpert werde. Dieses Prinzip soll sich auf alle Lebensbereiche erstrecken: auf Haushalt, Arbeitsplatz und überall im aktiven Leben.

Doch tut Ghannouchi hier naiv bzw. setzt er auf Verschleierung. Denn freilich geschieht mit dem Konzept der Komplementarität eine Bedeutungsverschiebung. Es ist ein Unterschied, ob Frauen und Männer als Individuen gleiche Rechte zugeschrieben werden oder aus der Perspektive der gegenseitigen Ergänzung juristisch verstanden werden. Anwälte und Richter wissen um die Spielräume, die ihnen solche Konzepte im Grundgesetz geben.

Aus der Formulierung, wie sie im eingangs zitiert wurde, lässt sich auch für Laien eine Tendenz heraus spüren, die der Frau als Partnerin des Mannes eine ergänzende Rolle zuweist und dem Mann eine Art Richtlinienkompetenz. Es wird immerhin nicht statuiert, dass auch der Mann eine ergänzende, komplementäre Rolle spielt. Von "complémentarité avec la femme" ist in dem Passus nicht die Rede; es gibt auch kein "vice versa", das auf eine Balance aufmerksam macht und deren Bedeutung eindeutig herausstellt.

Angesichts dessen, dass die Unabhängigkeit der Judikative von politischen und gesellschaftlichen Geisteshaltungen nur in Lehrbüchern gefordert wird, in Wirklichkeit aber häufig konservative Wertvorstellungen bei richterlichen Entscheidungen eine erhebliche Rolle spielen, dürfte der Wechsel von Egalité zur Complémentarité tendenziell eher zum Nachteil der Frauen ausgelegt werden, so die Sorge. Dass sich der Islamismus in vielen Spielarten derzeit in Tunesien breitmacht, beruhigt da nicht.

Doppelzüngig

So weisen denn auch Kritiker, wie der Menschenrechtsaktivist Khamais Ksila, auf eine Doppelzüngigkeit der Ennahda hin. Die Partei würde mit zwei Diskursen operieren. Einerseits würde sie - unter dem Druck der Öffentlichkeit - betonen, dass man die angestammten Rechte der Frauen stärken wolle. Anderseits würde die Partei keine Gelegenheit auslassen, um das bereits Erreichte zurückzufahren und "den Zweifel zu säen", um dann Formulierungen zu finden, die genug großen Interpretationsspielraum lassen, die den erreichten Status unterminieren, weil sie Angriffsmöglichkeiten zulassen.

Auch die Präsidentin der tunesischen Amnesty-Organisation, Sondès Garbouj, sieht eine solche Taktik am Werk, die, wie sie präzisiert, sich auch den Unterschied zwischen Französisch und Arabisch zunutze mache. Denn das Problematische des Begriffes "Komplementarität" zeige sich insbesondere beim arabischen Begriff.

Man sagt "complémentaire de l’homme" auf französisch; im Arabischen heißt das dem Mann beigefügt ("annexée à l’homme") […]. Wenn man die Frau als Anhang definiert, dann ist alles erlaubt.