"Der Putin ist an allem schuld"

Pussy Riot, Kirche, Gangster und der postsowjetische Patriotismus

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So lautet der Refrain eines derzeit aktuellen Songs, der im russischsprachigen Web die Massen zu amüsieren scheint. Die satirische Auseinandersetzung mit der entsprechenden Einstellung vieler Vertreter der Opposition, der in Russland eher kleinere Teile der Bevölkerung aus der Großstadt-Mittelschicht angehören, spiegelt für die meisten anderen Bürger eine eher befremdliche Seite des Protests. Und der Spott im Bezug auf diese Haltung ist beim genauen Hinschauen nicht wirklich unbegründet. Schließlich hat es etwas ähnliches schon öfter gegeben: Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war der Zar an allem schuld, dann Leon Trotsky, dann Stalin. Nach 1991 schließlich Michail Gorbatschow und nun ist es Wladimir Putin, der für alles Übel und den zweifellos ungeheuren Umgang mit der links-feministischen Punk-Band "Pussy-Riot" Verantwortung tragen soll.

Doch um die wahren Hintergründe und damit das Geschehen in Russland zu begreifen, muss man erst ein Paar Missverständnisse, die bei einem deutschsprachigen Beobachter entstehen dürften, aus dem Weg räumen.

Die Berichte in den meisten westlichen und manchen russischen Medien gießen, anstatt aufzuklären, nur noch mehr Öl ins Feuer des Konflikts (Pussy Riot soll büßen), der die russische Bevölkerung wieder einmal tief spaltet. Der Prozess, der zwei unterschiedliche Lager der russischen Gesellschaft aufeinander hetzt, wird zur Farce, bei der beide Parteien immer wieder in einen mittelalterlich anmutenden Justizskandal mit freundlicher Unterstützung der Richterin Marina Syrowa hineingezogen werden. Unter den entstandenen Bedingungen kann man allen beteiligten Seiten die Anstiftung zu einem ideologischen Streit und die Instrumentalisierung des Prozesses vorwerfen, bei dessen Interpretationen viele der entscheidenden Aspekte auf der Strecke bleiben.

"Scheiße, Scheiße, heilige Scheiße"

Vielleicht sollte man zuerst damit anfangen, ein realistischeres Bild des Vorfalls in der Christus-Erlöser Kathedrale am Roten Platz zu zeichnen. Wie es ungefähr aussah ist beinahe jedem bekannt. Kaum bekannt hingegen ist, was die Punk-Band "Pussy-Riot" genau gesungen und damit provoziert hat.

Der deutsche Leser mag glauben, dass er über den Inhalt des Songs bereits informiert sei. Doch auch diejenigen, welche die auf der Free Pussy Website (oder auch anderswo) verfügbare Übersetzung gelesen haben könnten, erfahren meist nur eine Teilwahrheit, in der "das Gebet" vielleicht durch mangelnde Sorgfalt, schlechte Deutschkenntnisse oder aus anderen Gründen ausgerechnet an den brisantesten Stellen um einiges milder und schlichtweg falsch von den Unterstützern der Band wiedergegeben wurde.

Also, um was geht es da eigentlich? Ist der Song etwa nicht gegen Putin? Ganz verkehrt ist es sicher nicht. Im Prinzip kritisieren sie in ihrem Gebet die Allianz zwischen der Macht und der Kirche, vor allem aber den Patriarchen und bitten die Jungfrau darum, den Präsidenten zu vertreiben. Sein Name kommt vor allem in dem zweimal wiederholten Satz: "Mutter Gottes, Jungfrau, vertreibe Putin, vertreibe Putin, vertreibe Putin" vor, sowie ein weiteres Mal.

Es gibt darüberhinaus aber deutlich mehr Text, der die vielen Gläubigen in Russland empörte. So heißt es zum Beispiel in dem anderen Refrain laut "offizieller" Version: "Göttlicher Dreck, Dreck, Dreck". Das ist falsch. Tatsächlich lautet die genaue literarische Übersetzung: "Scheiße, Scheiße, heilige Scheiße." Und weiter: "Patriarch Gundjaj glaubt an Putin". Der Punkt ist jedoch - obwohl der Patriarch mit seinem bürgerlichen Namen wirklich Gundjajew heißt -, dass das Wort "Gundjaj" eine ähnliche Bedeutung wie "der Näselnde" hat.

Die nächste Zeile: "Besser würde der Hund an Gott glauben", heißt im Original "Besser würde er, die Hure, an Gott glauben". Und zu guter Letzt, der Satz vom Anfang: "Alle Bittsteller kriechen zur Verbeugung". Naja, eigentlich heißt es "Alle Gemeindemitglieder kriechen zur Verbeugung". Dieser Satz soll laut Erzpriester Wsewolod Tschaplin direkt alle Gläubigen gekränkt haben.

Viele Stimmen in der russisch-orthodoxen Kirche

Es mag vielleicht jemandem unwichtig erscheinen, ob das nun der Hund oder die Hure, Dreck oder Scheiße und noch was auch immer heißen mag. Wenn man aber bedenkt, dass dieses "Gebet" in der Hauptkathedrale eines mittlerweile teils sehr gläubigen Landes am für Normalsterbliche geschlossenem Ambon vor dem Altar vorgetragen wurde, dann kann man eventuell die Aufregung der Menschen verstehen, die zu dieser Kirche stehen und an diesem Platz ihren wichtigsten spirituellen Ritualen beiwohnen. Es ist auch vorstellbar, dass sie durch die Aktion den Status der Kirche und ihren Glauben als verunglimpft empfinden konnten. Denn "heilige Scheiße" am "heiligen Ort" zu singen und den "näselnden Patriarchen" als "an Putin glaubende Hure" zu bezeichnen, geht teilweise selbst den härtesten Putin-Gegnern unter den Gläubigen zu weit.

Dabei kann diese Kirche auch viel Schlimmeres verzeihen - wie sie im Fall des Erbes des Geheimdienstes FSB quasi getan hat (und baut nun eine Kathedrale in guter Nachbarschaft und auf die Initiative der Leitung und Studenten der Moskauer FSB-Akademie). Und das obwohl dessen Vorgänger - der KGB - jahrzehntlang für die Verfolgung, sowie für zehntausende Opfer in der Zeit von Stalins Repressionen gewissermaßen mitverantwortlich war. Dass der Geheimdienst die Kirche auf unterschiedliche Weise um Vergebung bittet, ist wohl selbstverständlich, worauf die Kirchenvertreter ihrerseits versprechen, für die Vergebung dessen Sünden zu beten. Trotzdem, absolute Einstimmigkeit der Geistlichen ist auch hier nicht gegeben.

Die russisch-orthodoxe Kirche ist eben eine komplexe und sehr mächtige volksnahe Kraft, die immer wieder mit mehreren Stimmen spricht, die auch im aktuellen Konflikt unterschiedlicher Meinung sind. Laut den obersten Kirchenvertretern wären sie bereit, "Pussy-Riot" zu vergeben, wenn die Damen büßen und um Vergebung bitten würden, was die Inhaftierten wohl noch nicht direkt getan haben und nur als eine Art Handlungsoption über ihre Anwälte verkünden ließen. Und zwar im Bezug auf die Entschuldigung für die verletzten Gefühle der Gläubigen.

Glaubensbedingte Massenhysterie und Vereinnahmung

Doch dagegen demonstrieren viele ihrer Unterstützer (u.a. Artemy Troitsky), die die jungen Mütter am liebsten als Märtyrerinnen sehen würden und dazu ermuntern, weiterhin die "Fuck Off" Position zu halten. Somit bauen manche der Oppositionellen auf eine schon traditionsreiche Weise ihr universelles Feindbild auf. Dabei nutzen sie die aufgewirbelte glaubensbedingte Massenhysterie, die zum großen Teil gar nichts mit dem Aufruf zum Vertreiben Putins, sondern mit Pussy-Riots "Blasphemie" zusammenhängt, als Kulisse für ein absurdes PR-Theater aus, in dem nach außen nicht die eigentlichen Ankläger oder ihre Überzeugungen, sondern der herbeigezogene Hauptschuldige für die Schikane der Freiheitskämpferinnen verantwortlich gemacht wird.

Die Aktion von "Pussy-Riot" kam just zu dem Zeitpunkt, als die Stimmung der "Konservativen" ohnehin unter hoher Spannung stand. Diese Menschen, die sich und ihren Glauben in letzter Zeit immer wieder als Opfer der Verunglimpfung sehen, wünschen sich nun, dass das Gericht hart durchgreift (obwohl zumindest einige von ihnen auf ironische Weise gegen Putin sind und ihn, wie viele Nationalisten, für einen jüdischen-, westlichen-, Freimaurer- etc... -Agenten halten). Sie reagieren auch sehr empfindlich und teils extrem aggressiv auf jede Art von Bevormundung durch klingelnde Vermittlung europäischer Wertesysteme, woraufhin sich einige weiter radikalisieren.

Die Nationalisten

Hier muss man anmerken, dass auch der Begriff "Nationalisten" im heutigen Russland eine sehr ungenaue Bezeichnung ist - denn darunter fallen unter anderem die relativ wenigen extremen Neonazis, die den europäischen Gesinnungsgenossen geistig nahe stehen und sich zu "nordisch-heidnischen" Kulturformen bekennen, wobei sie sowohl die Kirche als auch Putin strickt ablehnen. Auch die Spinnerfraktion, wie die "National-Bolschewistische Partei" des Schriftstellers Eduard Limonov, nutzt den Begriff "National", wobei es sich in Wirklichkeit um eine durchgedrehte internationale Punk-Bewegung handelt, die mit den anderen Nationalisten oft nichts gemeinsam hat (so existiert die "NBP" z.B. auch in einer israelischen Version).

Und es gibt schließlich den größten Teil der russischen National-Patrioten, die keine Hakenkreuz-Tattoos tragen und in deren Reihen sich neben Vertretern aller Bevölkerungsschichten auch viele Kosaken, Gläubige und Veteranen des zweiten Weltkrieges befinden.

Zu den Gemeinsamkeiten mancher dieser grundverschiedener Gruppen gehört jedoch eine gefährliche Eigenschaft: die extreme Gewaltbereitschaft ihrer radikalsten Anhänger. Während sich die Neonazis vornehmlich mit der wilden, mörderischen Jagd auf Illegale, "Ausländer" und ihre persönlichen Gegner wie Anwälte, Richter, Journalisten und AntiFa beschäftigen, ziehen die christlich-orthodoxen Palladine vor allem gegen teils kriminelle Einwanderer-Gruppen, kirchenkritische Aktivisten, Künstler und Homosexuelle in den Kampf.

Die "friedlichen Patrioten"

Doch die Mehrheit derer, die heute gegen Angriffe auf die Kirchen protestieren, zählt zu einer friedlichen Kategorie der russischen Patrioten. Wie die meisten Russen gehen sie nicht für den Regimewechsel auf die Straßen ("Pussy-Riot" beziehen sich darauf in ihrem Text mit "Der Gürtel der Jungfrau ersetzt keine Demonstrationen". Es gab 2011 nämlich eine 39-tägige Reise der Reliquie Gürtel der Jungfrau durch Russland, zu deren Stationen Millionen von Pilgern strömten - wesentlich mehr als zu den Protesten gegen Putin).

Bestimmt hoffen all diese Menschen auch auf ein würdiges Leben, von dem viele noch weit entfernt sind, und so demonstrieren sie für ihren einzig verbliebenes identitätsstiftendes Kulturmerkmal, nämlich für ihren russisch-orthodoxen Glauben. So gingen am 22 April dieses Jahres über zehntausend Gläubige vor der selben Kathedrale auf die Straße, um ein Zeichen gegen die Gewaltangriffe auf russische Kirchen und Zerstörung bzw. Beschädigung ihrer heiligen Reliquien zu setzen, und nahmen an einem öffentlichen Gottesdienst teil.

Der postsowjetische Patriotismus, seine Gegner

Die Geschichte der vielschichtigen "Volksfront" hat ihren Ursprung in den Jahren des von Gorbatschows ahnungsloser Naivität getriebener "Perestroika" hervorgerufenen Zerfalls der UdSSR. In nur ein paar Jahren verschwand die Kulturbasis der Sowjets, die Träume vom Kommunismus und dem "irdischen Paradies" zerbarsten und ließen die Bevölkerung verzweifelt und orientierungslos um ihr Überleben kämpfen. Die Angehörigen der jungen Polit-Elite, die wie Raubtiere das Volkseigentum skrupellos zerfleischten und sich die unermesslichen Reichtümer aneigneten, wurden zu den ersten Oligarchen.

Über Nacht verarmten sämtliche Beamte, Mittelschicht, Arbeiter und Intelligenz. Ihre Anlagen und Wertpapiere waren auf einmal nichts mehr wert, ihre langjährigen Ersparnisse wurden zu Makulatur. Plötzlich war alles erlaubt und keiner schien irgendetwas kontrollieren zu wollen. In kürzester Zeit rissen die traditionsreichen Mafia-Klans aus dem Kaukasus und die neu entstandenen russischen Banden aus der Provinz die Gewaltherrschaft in den Städten Russlands an sich und stürzten auf die Überreste, die die übersättigten Alpha-Tiere liegen gelassen haben.

Das Volk wurde zum Futter oder zum Abfall. In dieser Zeit der Wild-West-Anarchie und des Machtvakuums wendeten sich Millionen von Menschen an die Kirche. Der Glaube half vielen von ihnen die schlimmsten Zeiten russischer Geschichte seit dem zweiten Weltkrieg durchzustehen. Doch gleichzeitig mit der massiven Zuwendung der Mehrheit, wuchs die Kritik an der Religiosität unter den Intellektuellen und in der Kunst.

Seit Anfang der neunziger Jahre - noch lange vor Putins Aufstieg und erst kurze Zeit nach dem letzten Putsch, veranstaltete einer der bedeutendsten russischen Künstler der Gegenwart und überzeugter Atheist - Avdey Ter-Oganyan - in Moskau eine Performance nach der anderen, die teilweise Konflikte mit den Ideologen des russischen Nationalismus, wie Alexander Dugin provozierten. Avdey, der die postsowjetische Kunstszene entscheidend prägte und den Werdegang einiger ihrer wichtigsten Akteure, wie z.B. Marat Guelmann, mit seinem aufklärerischen Engagement wesentlich unterstützte, führte damals einige provokative Kunstaktionen durch, die in Europa und nun seit ein paar Jahren auch im Russland unter Strafe stehen.

Eine seiner kleineren Aktionen, mit der er die Vermarktung der Glaubenssymbole verspottete, löste auch schon damals keine Begeisterung, sondern massive Empörung aus. Kurz danach wurde er von religiösen Fanatikern und volkstümlichen Patrioten dafür scharf attackiert. Schließlich, von den Regierungsstellen noch rechtzeitig gewarnt, dass sein Leben in akuter Gefahr sei, musste der Künstler Hals über Kopf seine Heimat verlassen.

Mafia-Banden

Es war die Zeit bürgerkriegsähnlicher Zustände, in der die tschetschenische gegen die russische oder die georgische Mafia auf den Straßen der Großstädte mit Maschinengewehren und Panzerfäusten um Macht und Einflussbereiche kämpfte, in der ein Menschenleben überhaupt keinen Wert mehr hatte und die gepanzerten Autos und Häuser der neuen Reichen regelmäßig in die Luft gejagt wurden. Es dauerte fast zehn Jahre, bis 1999 der junge Wladimir Putin das Ruder von seinem angeschlagenen Chef, Boris Jelzin, überreicht bekam und sich an die Reorganisation der Machtstrukturen machte. Nur wenige Jahre später setzte die Regierung ihr Gewaltmonopol, zuerst auf den Straßen Moskaus und Sankt Petersburgs, einigermaßen durch und fing an, mithilfe von Öl- und Gas-Milliarden, das von Kriegen, Korruption und organisierter Kriminalität zerrissene Land langsam wieder aufzubauen.

In dieser Lesart würden sehr viele der Russen aus der heute besonders regierungskritischen Mittelschicht ihren Wohlstand, ihre Sicherheit und sogar ihr Überleben paradoxerweise eben dem Mann verdanken, den sie jetzt so gerne stürzen würden. Doch der russischen Opposition fehlt mehrheitlich der Pragmatismus bei der Auswahl ihrer Angriffsziele. Und so, anstatt mit ihrer großen medialen Macht die Lösung vieler wichtiger Probleme zu fördern, konzentrieren sich jetzt einige wieder auf den imaginären "bösen Zaren".

Die Oligarchen als Opfer des "kriminellen Systems"?

An dieser Stelle bietet sich einer der Schlussgedanken aus dem Buch "Das Gespräch mit einem Barbar", des 2004 ermordeten amerikanischen Journalisten und Chefredakteurs der russischsprachigen Ausgabe von "Forbes", Paul Klebnikov, an. Genau wie vor 1917 oder nach 1986 sind es maximal ein paar tausend Menschen, die den Regimewechsel vor allem im eigenen Interesse heraufbeschwören. Die verträumte Intelligenz, die der Illusion glaubt, dass eine einzige Person das gesamte System und dessen Flöhe hüten kann, tritt für die Revolution ein, ohne sich über die Folgen solcher Vorgänge im Klaren zu sein.

Nun erweisen sie sich heute als nützliche Idioten für diejenigen, die als Oligarchen der ersten Stunde für den schrecklichen Zerfall, maßlose kriminelle Gewalt und Chaos der neunziger Jahre die meiste Verantwortung tragen und sich auf der Flucht vor der russischen Strafverfolgung größtenteils in Europa niederließen. Doch mit der Macht ihres Geldes, internationalem PR und auf Kosten von "Pussy-Riot" schaffen sie in den Augen der westlichen Öffentlichkeit, sowie bei der nach Westen starrender Ober- und Mittelschicht Russlands, sich zu den Opfern des "kriminellen Regimes" zu stilisieren. Mit dem vordefinierten Hauptfeind an seiner Spitze.