Crowdsourcing und Cloudworking: Schöne neue Arbeitswelt

Wie die Technologien des Web 2.0 unser Arbeitsleben grundlegend umkrempeln werden

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Der Menschheit ergeht es unterm Kapital wie dem berühmten Zauberlehrling, der die Geister nicht mehr kontrollieren konnte, die er herbeirief. Sind sie erst einmal im Prozess der Kapitalverwertung voll inkorporiert, scheinen sich seine größten Errungenschaften und Erfindungen gegen den Menschen zu wenden, zu einer feindlichen und unüberwindlichen Macht anzuwachsen, die durch marktvermittelte objektive "Sachzwänge" allen Lohnabhängigen das Leben zur Hölle machen.

Diese konstitutive Tendenz kapitalistischer Herrschaft - auf deren Fundament die bürgerlichen Ideologien des Kulturpessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit blühen - charakterisierte auch die widersprüchliche Entwicklung des Internets, das einerseits einen ungeheuren Schub der Globalisierung und Rationalisierung kapitalistischer Warenproduktion beförderte, aber andrerseits seiner inhärenten Struktur nach das Kapitalverhältnis bereits zu transzendieren schien: Nichts ist augenscheinlich absurder und widersinniger, als innerhalb der Weiten des World Wide Web die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse durchsetzen zu wollen. Der Windmühlenkampf der Politik und Kulturindustrie um die Durchsetzung des "Copyright" kann nur unter sukzessiver Verstümmelung des freien Informationsflusses im Netz fortgesetzt werden - und er bildete einen wichtigen Impuls bei der Formierung der europäischen "Piratenparteien".

Abseits der Sphäre der digitalen und immateriellen Güter hat aber schon der Vernetzungsschub des Internet 1.0 (das primär die passive Nutzung der neuen Informations- und Kommunikationskanäle ermöglichte) die ungeheure Dynamik der Globalisierung der kapitalistischen Warenproduktion überhaupt erst technisch ermöglicht, bei der globale Produktionsketten in einem zuvor ungekannten Ausmaß aufgebaut und tatsächlich erfolgreich koordiniert werden konnten. Die damit einhergehenden Rationalisierungsschübe ließen eine verstärkte globale Verdrängungskonkurrenz in den meisten Industriezweigen um sich greifen, mit der im Rahmen der neoliberalen Offensive der vergangenen Jahrzehnte bereits eine umfassende Umwandlung des Arbeitslebens und eine Verstärkung des Leistungsdrucks einhergingen.

Mittels umfassender Flexibilisierung der Arbeitsabläufe, einer Dezentralisierung der Produktion, der Abschmelzung der Kernbelegschaften und dem korrespondierenden Aufbau einer Klasse prekarisierter Tagelöhner reagierten etwa viele deutsche Konzerne durchaus erfolgreich auf die zunehmende Verdrängungskonkurrenz auf den Weltmarkt. Gesamtgesellschaftlich eingebettet ist die erste Phase dieser webbasierenden Umwandlung des Arbeitslebens in die neoliberal verbrämte totale Mobilisierung der Gesellschaft anhand der Wirtschaftsinteressen - alle Ressourcen und Gesellschaftsbereiche der als "Leistungsgemeinschaft" ideologisierten Nation sollen im Rahmen dieses totalitären Ökonomismus in den Dienst an der Front der zunehmenden Weltmarkt- und Standortkonkurrenz gezwungen werden.

Dennoch blieben die grundlegenden Strukturen des Arbeitslebens weitgehend unangetastet. Die überwiegende Mehrheit der Lohnabhängigen macht sich immer noch jeden Morgen auf den Weg an ihren physisch tatsächlich gegebenen Arbeitsplatz, der sich in einem Betrieb, einem Bürokomplex oder einer sonstigen Institution befindet, die jenseits der Wohnung liegen. Die Trennung zwischen der Privatsphäre des Lohnabhängigen und dem Arbeitsleben blieb gesamtgesellschaftlich betrachtet größtenteils bestehen. Zudem dominieren allen Prekarisierungswellen zum Trotz immer noch abhängige Beschäftigungsverhältnisse die Arbeitswelt im heutigen Spätkapitalismus.

Selbst in der rasch anschwellenden Zeitarbeitsbranche, die besonders in Deutschland schnell wuchs, handelt es sich um eben solche mit Arbeitsverträgen kodifizierten Formen abhängiger Lohnarbeit. Lohnarbeit wird auch im krisengeschütteltem Kapitalismus immer noch überwiegend an Arbeitsplätzen außerhalb der Privatsphäre verrichtet, wie es seit der Durchsetzung der Industrialisierung der Fall ist. All dies dürfte aber künftig zur Disposition stehen, denn die kommenden Umbrüche könnten die bisherigen Rationalisierungs- und Globalisierungsschübe zu einem bloßen Prolog degradieren.

IBM als Vorreiter der webbasierenden Prekarisierung

Wohin die Entwicklung tendiert, zeigte IBM-Personalchef Tim Ringo in einem unachtsamen Moment im April 2010 auf, als er im Gespräch mit der Fachzeitschrift Personnel Today eine Reduzierung der fest angestellten Stammbelegschaft des IT-Riesen von knapp 400 000 auf weltweit nur noch 100 000 Angestellte bis 2017 diskutierte, die unter Anwendung der webbasierenden Rationalisierungsstrategie des Crowdsourcing vollführt werden könnte: "Es gäbe keine Gebäudekosten, keine Renten und keine Kosten für das Gesundheitswesen, was enorme Einsparungen bedeutet", so Ringo begeistert.

Bei diesem Crowdsourcing wird eine ursprünglich innerhalb des Unternehmens vollführte Tätigkeit ausgelagert und an eine Gruppe (Crowd) von prekären Lohnabhängigen oder Kleinstbetrieben ausgelagert, die diese Tätigkeit dann projektbezogen und in Konkurrenz zueinander verrichten, sobald die Unternehmensleitung diese ausschreibt (im Kapitaljargon als "call", als Aufruf, bezeichnet). Ringo machte in dem Interview auch klar, dass die rund 300.000 in den Planungen zum Abschuss freigegebenen IBM-Angestellten eigentlich "nicht gefeuert" würden, da man sie hiernach als "Auftragsnehmer" weiterbeschäftigen würde: "Ich denke, Crowdsourcing ist sehr wichtig, du hast einen Kern von festen Angestellten, aber die große Mehrheit wird ausgelagert." Selbstverständlich wurde dieser allzu offenherzige Vorstoß des Personalmanagers von der Konzernführung im April 2010 umgehend dementiert. Und selbstverständlich geht IBM nun daran, mit ersten Flexibilisierungsoffensiven eben dieses Konzepts umzusetzen.

Anfang Februar versetzten Pressemeldungen über geplante massive Stellenstreichungen bei IBM-Deutschland die Belegschaft des IT-Unternehmens in helle Aufregung. Bis zu 8.000 der rund 20.000 in Deutschland angestellten IBM-Mitarbeiter würden in den nächsten Jahren ihren Arbeitsplatz verlieren, ließen Spitzenmanager gegenüber dem Handelsblatt durchsickern.

Die Konzernleitung hüllte sich bezüglich des anstehenden Kahlschlags einen geschlagenen Monat in Schweigen, bis IBM-Deutschland-Chefin Martina Koederitz sich am 1. März zu einem lustlosen Dementi durchrang. Die Meldungen über den Personalkahlschlag seien "spekulativ", das Unternehmen plane "im Moment" keine Massenentlassungen. Am 30. März folgte das Dementi des Dementis, als Koederitz, angesprochen auf den Stellenabbau im Gespräch mit den VDI Nachrichten darauf insistierte, auch künftig "neue Technologien zu erproben", die die "Arbeitsumgebung auch in Zukunft intelligenter, smarter und flexibler gestalten". IBM habe etwa schon in den 1980er Jahren angefangen, "Heimarbeitsplätze zu entwickeln", betonte die IBM-Chefin.

Tatsächlich pflegt die Führungskaste des Hochtechnologie-Konzerns ein elitäres Selbstbild, bei dem IBM als ein Schrittmacher neuer Business-Strategien und Arbeitsstrukturen firmiert, die dann von der gesamten Branche übernommen würden. Diese Ideologie der permanenten Innovation, bei der sich IBM immer wieder "neu erfinden" müsse, gründet in der erfolgreichen Transformation des Unternehmens von einem Hardware-Hersteller zu einem hochprofitablen Software- und Dienstleistungskonzern. "Big Blue" gilt in dieser Hinsicht in der Branche als Vorbild: Gerade ist etwa der krisengeplagte Hardwarekonzern HP bemüht, mittels einer massiven Entlassungswelle eine ähnliche Transformation wie IBM zu vollführen.

Das Damoklesschwert der Massenentlassungen schwebt also weiter über der deutschen IBM-Belegschaft, für die Koederitz nicht einmal die genaue Mitarbeiterzahl angeben will, da dies angeblich angesichts der hochgradigen globalen Verflechtung des Konzerns kaum noch möglich sei. Der Hinweis der deutschen IBM-Chefin auf die "Heimarbeitsplätze", an deren Entwicklung IBM federführend beteiligt gewesen war, bietet auch einen Ausblick auf die Zukunft der derzeitigen Belegschaft, sollte sich die Konzernführung durchsetzen. Die neusten Webtechniken sollen hierbei eine Klasse prekarisierter Tagelöhner hervorbringen, deren Wohn- und Arbeitsplätze verschmelzen würden.