Grabenkampf statt Wahlkampf in Venezuela

Seit einem Monat läuft in Venezuela die Kampagne für die Präsidentenwahl am 7. Oktober. Es wird mit harten Bandagen gekämpft

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Einen Monat nach Beginn des Wahlkampfes in Venezuela wird der Konflikt zwischen Amtsinhaber Hugo Chávez und seinem Herausforderer Henrique Capriles Radonski mit zunehmender Härte ausgefochten. Die Armut in dem Land, mögliche Interventionen und Pläne zur Destabilisierung - es gibt kaum ein Thema, das in dem Schlagabtausch ausgespart wird. Knapp acht Wochen vor der Abstimmung am 7. Oktober stellt sich damit auch die Frage, wie es nach der Wahl weitergeht.

Nach einem Drittel des Wahlkampfes, der am 1. Juli offiziell begonnen hatte, Venezuela aber eigentlich permanent beherrscht, steht das Thema der Armut im Fokus. Der smarte 40-jährige Capriles warf der linksgerichteten Chávez-Regierung zuletzt mehrfach vor, auf ihrem zentralen Gebiet, der Sozialpolitik, versagt zu haben. Obgleich die Chávez-Regierung seit ihrem Antritt Anfang 1999 die Erdöleinkünfte des Landes massiv in den Ausbau der Sozialsysteme gesteckt hat, gebe es nach wie vor 2,5 Millionen Menschen, die mit einer nur mangelhaften Ernährung auskommen müssen, sagte der Politiker der rechtspopulistischen Partei Primero Justicia.

Amtsinhaber Hugo Chávez. Bild: chavez.org.ve

Chávez würde dem Volk in diesem Zusammenhang "unverschämte Lügen" auftischen, schob Capriles nach: Auch 13 Jahre nach Beginn des als "Bolivarianische Revolution" bezeichneten Reformprozesses gebe es nach wie vor Straßenkinder in Venezuela.

Die Angriffe trafen Chávez. Sein Herausforderer sei "entweder ignorant oder ein großer Lügner, oder vielleicht doch eine Kombination aus beidem", entgegnete der 58-Jährige. Tatsächlich sei die Zahl der in extremer Armut Lebenden von 900.000 im Jahr 1998 auf derzeit 400.000 reduziert worden. Insgesamt würden noch 27 Prozent der Menschen in Armut leben, gestand der amtierende Präsident, um hinzuzufügen, "dass wir diese Quote in den kommenden Jahren auf Null senken werden".

Statistische Genauigkeit kann man im aufgeheizten Klima des Wahlkampfes kaum erwarten. Ein rascher Blick auf die Erhebungen des Nationales Statistikinstitutes (INE) geben dem Amtsinhaber jedoch Recht: Ende vergangenen Jahres gab INE-Präsident Elías Eljuri die extreme Armut mit 6,8 Prozent an. Die "einfache Armut" sei von 41 Prozent auf 27 Prozent gesenkt worden, sagte der Institutschef - und gab damit die gleiche Quote an, die Chávez nun nannte. "Das sind nachprüfbare Zahlen, die auch von der CEPAL, der UNO-Wirtschaftskommission für Lateinamerika, anerkannt sind", so Eljuri im Programm Contragolpe des staatlichen Fernsehkanals VTV.

Capriles präsentiert sich als Vertreter des "brasilianischen Modells"

Der Disput belegt zugleich eine neue Taktik der Opposition: Anders als in den vergangenen Jahren versucht sich Capriles als gemäßigte Variante des polarisierenden Chávez zu präsentieren. Die aggressive Kritik an der Sozialpolitik der amtierenden Regierung geht daher mit dem Entwurf eigener Sozialprogramme einher, die sich offensichtlich am brasilianischen Vorbild orientieren. Im Bundesstaat Miranda, dem Capriles als Gouverneur vorsteht, legte er ein Hungerbekämpfungsprogramm mit dem Titel "Hambre Cero" (Null Hunger) auf - eine offensichtliche Parallele zu dem Konzept "Fome Cero", das 2002 von dem damaligen brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva initiiert worden war.

Die Nachahmung des brasilianischen Modells trifft bei der dort regierenden Arbeiterpartei (PT) jedoch nicht gerade auf Begeisterung: "Wir amüsieren uns immer über Pressemeldungen, in denen Lula als Guter und Chávez als Böser dargestellt wird", sagte der führende PT-Politiker Valter Pomar, ein Vertreter des linken Parteiflügels, Ende Juni auf einer Konferenz der Linksfraktion im Bundestag. "Wir versuchen solche Darstellungen immer wieder zu entkräften", fügte Pomar dabei an. Vor allem in Venezuela würde sich die Opposition unter Cariles wiederholt als Verfechter des "brasilianischen Modells" präsentieren: "Es gibt aber keinen politischen Unterschied zwischen dem 'Lulaismus' und dem 'Chavismus' - es gibt zwischen uns nur eine uneingeschränkte Solidarität."

Herausforderer Henrique Capriles. Bild: hayuncamino.com

Neben dieser Imagekampagne der Opposition im laufenden Wahlkampf, wird die aktuelle politische Lage vor allem durch zwei Faktoren bestimmt: Zum einen ist es dem regierungskritischen Lager mit der Nominierung von Capriles erstmals gelungen, einen gemeinsamen Kandidaten aufzustellen. Zum anderen hatte die Krebserkrankung des Amtsinhabers die Debatte lange dominiert. Zu Beginn des Wahlkampfes aber erklärte Chávez die in Kuba behandelte Krankheit für besiegt. Seither erwähnte er sie nur zwei Mal.

Um die Wiederwahl muss sich Chávez indes wenig Sorgen machen. Nach einer Erhebung des Umfrageinstitutes Hinterlaces lag er mit 47 Prozent Ende Juli 17 Prozentpunkte vor Capriles, für den 30 Prozent der 1.500 Befragten stimmen würden. Doch damit ist die Geschichte nicht zu Ende.

Was geschieht nach dem Wahltag?

Eine der vorrangigen Fragen ist nämlich nicht das Ergebnis der Wahlen am 7. Oktober, sondern die Entwicklung am und nach dem Wahltag. Chávez beschuldigt die Opposition angesichts des wahrscheinlichen Wahlausgangs, das Ergebnis in Frage zu stellen, "um so Chaos anzuzetteln" und eine politische Krise zu provozieren. "Ein Teil der Bourgeoisie bereitet sich darauf vor, den Sieg des Volkes infrage zu stellen, um das Land in eine politische Krise zu stürzen und mit Gewalt zu überziehen", sagte er bei einer Wahlveranstaltung in der vergangenen Woche in Caracas.

Darauf weise auch die Festnahme eines US-Bürgers hin, der von Kolumbien aus offenbar illegal nach Venezuela eingereist ist. Der Fall passt Chávez gut ins Konzept: Der Mann lateinamerikanischer Herkunft habe im Pass Einreisevermerke aus Irak, Afghanistan und Libyen gehabt, so Chávez, bei seiner Festnahme habe er zudem ein Notizbuch "voller Koordinatenangaben" vernichten wollen. Bestätigungen von Ermittlungsbehörden für diese Darstellung gibt es zwar nicht, für das Regierungslager scheint der Fall aber klar: Die Festnahme weise auf eine Einsickerung von Paramilitärs aus Kolumbien hin. Tatsächlich waren in den vergangenen Jahren Dutzende dieser Milizionäre festgesetzt worden. Aber steht die Opposition hinter diesen Aktivitäten?

Der Generalsekretär des Oppositionsbündnisses MUD, Ramón Guillermo Aveledo, weist diese Anschuldigung entschieden zurück. Es handele sich dabei "um altbekannte kommunistische Parolen", so Avaledo, der sich selbst nicht gerade mäßigte: Die Regierung mache ihren Gegnern dauernd irgendwelche Vorwürfe oder bezichtige sie, Destabilisierungspläne zu verfolgen. Diese "Unterstellungen" seien ",eine bekannte Taktik des Faschismus und Stalinismus", sagte Aveledo gegenüber dem Sender Unión Radio. Die Äußerungen auf beiden Seiten belegen das angespannte Klima zwei Monate vor der entscheidenden Abstimmung.

Wahlkampf in Venezuela ist immer auch Medienwahlkampf

Die Kampagnenstrategen von Chávez versuchen Capriles und seine Mitstreiter nicht nur im Fall des mutmaßlichen Söldners mit ausländischen Interessen in Verbindung zu bringen. Der Kampagnenchef und Bürgermeister von Caracas, Jorge Rodríguez, warf dem Oppositionskandidaten unlängst auf einer Pressekonferenz vor, Kontakte mit dem ehemaligen kolumbianischen Präsidenten Álvaro Uribe zu unterhalten, den er als "Psychopathen, Mörder und Drogenhändler" bezeichnete.

Tatsächlich gereichen die Kontakte zwischen der Opposition und dem rechtsgerichteten Uribe Capriles nicht zum Vorteil. So erklärte der kolumbianische Ex-Staatschef unlängst, ihm habe für eine militärische Invasion in Venezuela "leider die Zeit gefehlt". Chávez reagierte auf seine bekannte Art. Uribe habe für einen solchen Schritt mitnichten die Zeit gefehlt, sondern die "cojones", also die Eier. Rodríguez präsentierte indes ein Foto, das Capriles’ Wahlkampfkoordinator Leopoldo López mit Uribe zeigt.

Solche Auseinandersetzungen werden in Venezuela verstärkt auch über die Medien geführt. So präsentierte sich Chávez bei einer Wahlveranstaltung zuletzt pressewirksam mit dem US-Schauspieler und zweimaligen Oscar-Gewinner Sean Penn, einem erklärten Unterstützer der linksgerichteten Regierung Venezuelas.

Angesichts der mehrheitlich regierungskritischen Privatpresse können auch solche PR-Aktionen wohl aber nur wenig ausrichten. Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Hinterlaces positionieren sich private Printmedien eindeutig gegen Chávez. Untersucht wurden von der Firma die Berichte von sechs privaten Zeitungen - El Nacional, El Universal, Últimas Noticias, Tal Cual, El Nuevo País und 2001 - zwischen dem 23. und 29. Juli. Im Fall von Chávez macht der Medienanalytiker Federico Ruiz Tirado 863 negative Adjektive, Attribute und Synonyme aus, in 311 Fällen fand er positive Termini. Bei Capriles zeigte sich das umgekehrte Bild: In 697 Fällen wurde er positiv beschrieben, gerade einmal 150 Mal mit negativen Bezeichnungen.