Türken in Deutschland träumen gleichzeitig von Integration und Rückkehr in die Türkei

Der Anteil der streng Religiösen steigt, fast die Hälfte wünscht, dass irgendwann einmal mehr Muslime als Christen in Deutschland leben

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Viele der in Deutschland lebenden Türken, wozu auch Deutsche mit türkischem Migrationshintergrund gehören, gefällt es hier nicht wirklich. 45 Prozent, Tendenz ansteigend, träumen davon, in die Türkei zurückzukehren, bei den 30-49-Jährigen wollen dies allerdings sogar 55 Prozent. Aber das scheint mehr Ausdruck einer Zerrissenheit zu sein, da nur 5 Prozent beabsichtigen, in den nächsten zwei Jahren in die Türkei zu gehen, weitere 12 Prozent sagen, sie würden dies in den nächsten zehn Jahren machen. 50 Prozent wollen nicht mehr zurückkehren, bei den 15-29-Jährigen haben 60 Prozent keine Sehnsucht nach der Türkei, bei den über 50-Jährigen sind es 64 Prozent. Mehr Männer als Frauen zieht es in die Türkei. Aber nur 10 Prozent geben an, dass sie mit den Deutschen nicht zurechtkommen, 39 Prozent zieht es in die Türkei, weil das Wetter dort schöner sei, 63 Prozent, weil die Türkei als Heimat gilt (Mehrfachnennungen waren möglich).

Das ist ein Ergebnis einer repräsentativen Studie der Meinungsforschungsinstitute Info GmbH (Berlin) und Liljeberg Research International Ltd. Sti. (Antalya). Befragt wurden 1011 Menschen mit türkischen Migrationshintergrund, 36 Prozent waren jünger als 30 Jahre, insgesamt leben 2,7 Millionen in Deutschland. Ein Viertel der Befragten hat Abitur, 9 Prozent haben studiert, die Hälfte ist berufstätig, mit 27 Prozent üben aber viele un- oderangelernte Tätigkeiten aus. Arbeitslos sind nur 10 Prozent, 17 Prozent beziehen Transferleistungen. Mit durchschnittlich 3,6 Personen pro Haushalt leben sie in größeren Familien als die deutschen (2,6 Personen) und haben mehr Kinder. Gegenüber den in der Türkei lebenden, deren Haushalte durchschnittlich 4,8 Personen umfassen, haben sie aber bereits einen Anpassungsprozess der Schrumpfung begonnen.

27 Prozent der Befragten wurden in Deutschland geboren, bei den 15‐ bis 29‐Jährigen sind es bereits 77 Prozent. Nur 15 Prozent sehen eher Deutschland als ihre Heimat (bei den 15-29-Jährigen sind es aber 26%), 2009 waren es noch 21 Prozent. Mit 45 Prozent empfinden die meisten sowohl Deutschland als auch gleichermaßen die Türkei als ihre Heimat, für 39 Prozent ist es eher die Türkei. Es gibt weiterhin Sprachschwierigkeiten, allerdings sagen fast alle Türken in Deutschland, dass die Kinder eine Kita besuchen (95%) und von klein an Deutsch lernen (91%) sollten. Fast ebenso viele wünschen, dass die Kinder zweisprachig aufwachsen, türkische Schulen werden nicht gewünscht. Das macht schon ziemlich deutlich, dass die Türken in Deutschland zwar noch zerrissen sind, aber keinesfalls in einer Parallelgesellschaft leben wollen, wie dies Manche unterstellen. Was Natur, Sehenswürdigkeiten und Kultur betrifft, finden die Befragten die Türkei besser. Sie gilt auch als toleranter, freizügiger und sympathischer. Deutschland punktet vor allem bei der besseren sozialen Absicherung, dem höheren Lebensstandard, der persönlichen Freiheit und Sicherheit, der modernen Verfassung und einem etwas besseren Bildungssystem. Wirtschaftlich sehen die Befragten keine Unterschiede. Eine gute politische Regierung wird eher in der Türkei gesehen. Die Autoren des Berichts gehen davon aus, dass viele der Befragten zu einer Verklärung der Türkei neigen würden, weil sie das Leben dort meist nicht kennen. Die meisten der Befragten neigen der SPD und den Grünen zu, die Union ist nicht sonderlich beliebt, obgleich 61 Prozent bei den türkischen Parteien die konservativ‐islamische AKP favorisieren.

Von den befragten TiD sind 37% streng religiös, nur 9% bezeichnen sich als "nicht religiös". Der Anteil der streng Religiösen ist seit 2010 tendenziell angestiegen. 44% beten mindestens einmal täglich, 34% üben sogar alle vorgeschriebenen fünf Gebete pro Tag aus. Der höchste Anteil von zumindest eher Religiösen (Skalenwerte 6‐10) findet sich berraschenderweise in der jüngsten Altersgruppe.

Mehr als 80 Prozent der Befragten - und damit mehr als früher - sagen, dass sie sich "unbedingt und ohne Abstriche in die deutsche Gesellschaft" integrieren wollen und "unbedingt und ohne Abstriche zur deutschen Gesellschaft dazugehören" wollen. Ebenso viele meinen, man könne ein guter Muslim und ein guter Deutscher sein. Man will aber auch die türkische Kultur erhalten und wünscht, dass die deutsche Gesellschaft "auf die Gewohnheiten und Besonderheiten der türkischen Einwanderer Rücksicht" nimmt. 47 Prozent fühlen sich in Deutschland unerwünscht, mit 63 Prozent sagen mehr als 2009, dass sie sich als Türken empfinden und dass sie sich wohler unter Türken als unter Deutschen finden. Nach Sarrazin und der sich verstärkenden Islamophobie ist das kein Wunder. So ist auch der Anteil derjenigen gestiegen (46%), die sich wünschen, dass irgendwann einmal mehr Muslime als Christen in Deutschland leben, allerdings scheint die erlebte Diskriminierung gesunken zu sein, bei Beschimpfungen am Arbeitsplatz und wegen der Religionszugehörigkeit gab es jedoch einen Anstieg. Stärker als "minderwertig" werden aber die Atheisten gewertet, dann erst kommen die Juden und die Christen. Der Anteil derjenigen, die sagen, dass der Islam sei die einzig wahre Religion sei (72%), ist ebenso gestiegen wie die derjenigen, die wollen, dass mehr Moscheen gebaut werden (55%).

Bei aller ambivalenten Integrationsbereitschaft bleiben die Türken in Deutschland konservativ, auch wenn weiterhin mit 68 Prozent die große Mehrheit für eine strikte Trennung von Staat und Religion eintritt. 48 Prozent sehen aber Homosexualität als Krankheit, fast ebenso viele wollen die Todesstrafe für schwere Verbrechen, allerdings sagen nur 28 Prozent, dass muslimische Frauen generell in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen sollten. Die Mehrheit (63%) ist weiterhin dafür, dass die Frauen keinen voreheähnlichen Sex haben sollten, bei den Männern lehnen dies nur 43 Prozent ab. Da ist klar, dass in den Köpfen Verwirrung herrscht.