Vermeintliche Selbstbestimmung führt zur Selbstausbeutung

Eine "ethnologische" Feldstudie in US-Banken zeigt, wie perfide in "wissensbasierten Organisationen" Anpassungsleistungen bis zum körperlichen Zusammenbruch freiwillig erbracht werden

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In der Wall Street wird das große Geld gemacht und gelegentlich auch verloren. Die Zocker, die teils mit Milliarden spielen und blitzschnell entscheiden müssen, so lange die Arbeit nicht Computerprogrammen überlassen wird, die in Millisekunden handeln und gewaltige Finanzströme hin- und herschieben, haben es nicht leicht. Da riecht es nicht nur nach Testosteron und Angstschweiß, sondern es wird auch, angetrieben von Gier nach immer Mehr, bis zur Erschöpfung gearbeitet, wenn man die Betätigung an der Börse so nennen will.

Alexandra Michel, Professorin für Management an der University of Southern California hat in einer ethnografischen Langzeitstudie, wie sie es nennt, junge Investmentbanker in zwei Abteilungen von zwei Banken über eine Periode von neun Jahren beobachtet, um das Verhältnis der Banker zu ihren Körpern zu erkunden. Für ihre Studie Transcending Socialization, die in der Zeitschrift Administrative Science Quarterly veröffentlicht wurde, untersuchte jeweils zwei Gruppen in beiden Banken, durfte aber die Zahl der beobachteten Personen aus nicht näher geschilderten Gründen nicht genauer nennen, es habe sich jeweils um eine zweistellige Zahl gehandelt.

Um zu erfahren, wie sie durch die Arbeit in den Banken sozialisiert werden, wählte sie junge Banker aus, die ihren Job begannen. Sie waren durchschnittlich 28 Jahre alt, zur Hälfte Männer und Frauen und hatten einen MBA-Abschluss (Master of Business Administration). Weil sie selbst früher an der Wall Street tätig gewesen ist, wäre sie von den Bankern als Kollegin betrachtet und in Aktivitäten einbezogen worden. Sie beobachtete die einzelnen Banker, führte Hunderte von Interviews und sprach auch mit anderen Bankern, Freund, Familienangehörigen und Kunden.

The more you let people monitor themselves, the harder they work.

Bank A director

Überraschen wird es nicht, auch wenn die Banken mit Autonomie und einem ausgeglichenen Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit werben, dass in dem Job der Stress ziemlich groß ist, zumal es ja auch darum geht, erstmal eine Karriere aufzubauen - und dabei zu vergessen, auf den Körper zu achten. Fatal ist offenbar, dass die Arbeitszeit als selbstbestimmt erachtet wird "I could not work for an organization that required me to come at 9 A.M. and leave at 5 P.M. I want to be in control of my schedule."), obwohl die zu erbringende Leistung vom Unternehmen vorgegeben wird und der Zwang besteht, sich an die Vorgaben anzupassen. Der direkte Zwang von außen wird durch Selbstkontrolle ersetzt, die indirekt verstärkt wird, beispielsweise dadurch, dass Kollegen wegen mangelnder Leistung entlassen, Überstunden geschätzt werden, man in Großraumbüros arbeitet, Dienste zu 24/7 zur Verfügung stehen, Freizeitaktivitäten, Kinderbetreuung, Mahlzeiten etc. während und in der der Arbeit angeboten werden etc., wodurch Arbeit und Freizeit verschwimmen. Gearbeitet wird bis zu 120 Stunden in der Woche, selbst wenn nichts Dringendes zu tun ist.

This is like an artificial world. Instead of going home, after 5:00 P.M. people here just switch into leisure clothes, turn on the music, and the firm orders dinner for you. Ironically, you end up working a lot more because it is so convenient.

Bank B associate

In den ersten drei Jahren geht das noch, es wird Leistung erbracht und der Arbeitgeber profitiert. Der Körper wird diszipliniert und missachtet, die Arbeit steht ganz im Vordergrund. Ab dem vierten Jahr zeigen sich erste Probleme, die Leistung nimmt ab, der Körper wird zum Gegner. Folge sind teils schwere körperliche und emotionale Störungen, die von Herzproblemen über Alkoholismus und Medikamentenmissbrauch bis zu Schlaflosigkeit, Essstörungen oder Rückenschmerzen reichen. Auch die Ausbildung von Ticks wie Fingernägelkauen ist nicht selten. Andere versuchen, durch Shoppen oder Pornografie Stress abzubauen.

I wouldn't call it control; I am at war with my body.

Bank A VP

Ab dem sechsten Arbeitsjahr zwingen allerdings vermehrte Zusammenbrüche die Banker, ihren Körper stärker zu beachten und das Verhalten zu ändern. Michel bezeichnet dies als Wiedererlangung der Kontrolle über den Körper. Davon profitieren dann wieder angeblich die Arbeitgeber, weil die Kreativität, die Urteilskraft und die Ethik zunehmen. Allerdings schaffen die Kehrtwende dies nur 40 Prozent, für 60 Prozent bleibt der Körper der Gegner, der die Leistung behindert.

Es wird zwar ab dem sechsten Jahr weiterhin fast so viel gearbeitet. Während die ersten Jahre 100 Prozent mehr als 80 Stunden die Woche arbeiteten, sind es ab dem sechsten Jahr immer noch mehr als 90 Prozent. Freizeit und Familie kommen weiter zu kurz, aber viele setzen sich über die immanenten Regeln und Anforderungen der Banken hinweg.

Für Michel sind die Banker nur ein Teil der Angestellten in "wissensbasierten Organisationen". Sie würden die höchstmögliche Kontrolle erreichen, nämlich "die Herzen, die Psyche und die Energie" der Angestellten beherrschen. Die könnten erst nach Jahren der Herrschaft der Organisation und der eigenen Psyche entkommen, um auf ihren Körper zu hören, was Michel offenbar als anstrebenswert erachtet. Warum die Banker trotz aller Leiden an ihrem Job festhalten, klärt die Ethnologin der wissensbasierten Organisationen nicht auf, nur nebenbei wird einmal erwähnt, dass das hohe Einkommen und das Prestige eine wichtige Rolle spielen. Lieber ruiniert man also seinen Körper, als sich einen anderen Job zu suchen, in dem man weniger verdient. Dazu kommt, dass sich die Banker mit ihrer Arbeit identifizieren: "Work is not what they do, but who they are."