Obamas Abu Ghraib?

In einem Militärkrankenhaus in Kabul sollen afghanische Soldaten von korruptem Personal vernachlässigt und in "Auschwitz-ähnlichen" Zuständen vor sich hinvegetiert haben

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Die medizinische Versorgung der Patienten biete "einige der schlimmsten Dinge die ich je gesehen habe”, sagte Jason Chaffetz sichtlich betroffen, nachdem er einige der über 70 Fotos zu sehen bekam, auf denen Patienten des Militärkrankenhauses abgebildet sind. Der 45-jährige Abgeordnete des US-Repräsentantenhauses führt den Vorsitz im Unterausschuss für Auslandseinsätze und Nationale Sicherheit des "House Oversight and Government Committee”, das vor wenigen Wochen die Untersuchung ansetzte: "Was ist passiert und was lief falsch im Dawood National Military Hospital in Afghanistan?"

Das Krankenhaus gilt eigentlich als "Kronjuwel” des afghanischen Gesundheitssystems. Es wurde 2005 von der US-Regierung finanziert, die auch gleich das afghanische Personal durch ein US-Militärprogramm ausbilden ließ. Umgesetzt wurde das Erlernte offenbar nicht. Augenzeugen erheben schwere Vorwürfe gegen das Krankenhauspersonal. Demnach sollen Angestellte Benzin aus Generatoren gestohlen, Medikamente auf dem Schwarzmarkt oder gleich nach Pakistan verkauft haben. Ärzte sollen Operationen an Soldaten ohne Schmerzmittel oder Anästhetikum durchgeführt haben, Schwestern hätten sich nur gegen Bestechung um Patienten gekümmert.

Die Bilder, von denen Chaffetz dem Ausschuss nur einige wenige vorführte, sind die Bilanz - und sie sind extrem. Sie zeigen halbverhungerte Soldate, in deren offenen und infizierten Wunden Maden herumkrabbeln; Patienten, die an Blutvergiftungen leiden, nicht behandelt werden und kurze Zeit darauf verstarben; ein schwarz angelaufener Fuß, der Zeichen von Wundbrand aufweist und wohl amputiert werden muss, weil der Arzt, so die Bildunterschrift, das Problem tagelang ignorierte; bei einem anderen Soldaten ist die Haut an den Nähten Zentimeter breit und ovalförmig aufgeplatzt, so dass offenes Fleisch zu sehen ist.

Colonel Mark Fassl, ehemaliger Generalinspekteur für die NATO-Ausbildungsmission in Afghanistan, der sich ein Bild vor Ort machen konnte, sprach im Ausschuss von Exkrementen auf dem Boden des Krankenhauses. Er hätte gesehen, wie literweise Blut aus den Wunden der Soldaten triefte. Außerdem fehlte es an den einfachsten hygienischen Hilfen wie Seife; kurz vor Wintereinbruch hätte es keine Beheizungsmöglichkeiten gegeben. In seiner Zeugenaussage beschreibt der inzwischen im Ruhestand befindliche US-Militärrichter und Anwalt Colonel Gerald Carozza die Zustände im Krankenhaus als "Auschwitz-ähnlich".

Aus den Unterlagen, die dem Ausschuss vorliegen, geht auch hervor, dass die Vorwürfe bereits im Sommer 2010 aufgetaucht sind (das Wall Street Journal berichtete 2011 über das Krankenhaus). Gleichwohl, so Chaffetz, lieferte die US-Regierung weiterhin Medikamente an die Afghanische Armee nach Kabul, und zwar allein in einem Zeitraum von 18 Monaten im Wert von über 150 Millionen US-Dollar. Mit dem Budget, so der Vorsitzende, müsse eine US-Marine Einrichtung hierzulande normalerweise drei Jahre auskommen.

"Er nennt mich Bill"

Auf der Suche nach dem Grund, warum es nicht viel früher zu einer Untersuchung kam, fiel der Name William Caldwell. Der US-General war 2010 verantwortlicher Befehlshaber für das 11.2 Milliarden US-Dollar schwere NATO-Trainingsprogramm für Afghanistan. Sowohl Fassl als auch andere amerikanische Offiziere hatten Caldwell auf die Situation im Dawood-Krankenhaus aufmerksam gemacht. Fassl reichte sogar beim US-Verteidigungsministerium einen Antrag auf Untersuchung ein, zog diesen jedoch zurück, als ihn der General dazu aufforderte - aus politischem Kalkül, so der Vorwurf. Er hätte nicht gewollt, dass die schlechten Nachrichten vor den Zwischenwahlen im November 2010 an die Öffentlichkeit kämen, schreibt Carozza. Und Fassl spekulierte über Caldwells persönliche Nähe zum Präsidenten als weitere Erklärung. Nachdem Caldwell wegen der bevorstehenden Wahlen eine Untersuchung ablehnte, soll er gegenüber Fassl hinzugefügt haben: "Er nennt mich Bill." Und mit "Er", so Fassl, meinte Caldwell den Präsidenten.

Ganz unbeteiligt könnte Obama tatsächlich nicht sein, wenn die Vermutung stimmt, die Chaffetz in einem Brief Mitte Juli an Verteidigungsminister Leon Panetta äußerte. Er beklagte darin, dass einzelne Personen im Ministerium möglicherweise Dokumente zurückgehalten haben, um die Arbeit seines Ausschusses zu behindern, berichtet die Internetseite Buzzfeed, die aus dem Brief zitiert.

Freilich ist der Dawood-Skandal weit mehr als ein Paradebeispiel krimineller Machenschaften und politischen Machtkalküls. Er zeigt vor allem die Grenzen des Einflusses, mit denen die Weltmacht USA beim Wiederaufbau des Landes und der Implementierung einer Demokratie in Afghanistan konfrontiert ist. Immer noch wird viel zuviel hinter geschlossenen Türen entschieden.

Ob General Caldwell seinem Präsidenten durch die angebliche Vertuschungsaktion einen Gefallen getan hat, darf bezweifelt werden. Die Halbzeitwahlen 2010 verlor Obamas Regierung auch ohne die schlechte "PR" aus Dawood auf ganzer Linie. Jetzt geht es für ihn persönlich um die Wiederwahl. Selbst wenn die schlechte Wirtschaftslage das Thema Nummer Eins im Land ist - Romneys Wahlkampfteam wird die Untersuchung verfolgen und gegebenenfalls zu nutzen wissen.