(Hoffentlich) kein Ende der Debatte

Die Auseinandersetzung um das Einzelfallurteil zu Beschneidungen ist wichtig - doch sie sollte auf andere Bereiche mit Bezug zur körperlichen Unversehrtheit Minderjähriger ausgedehnt werden

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Freie Erziehung

Während die Debatte um die religiös bedingte Beschneidung von minderjährigen männlichen Personen sehr intensiv geführt wurde, spricht man über andere Körperverletzungen, die an Minderjährigen mit Hilfe oder mit Zustimmung der Eltern begangen werden, kaum. Wer mit dem Stichwort "Ohrlöcher" ankam, dem wurde schnell mitgeteilt, es sei doch ein großer Unterschied, ob ein Teil des Sexualorganes weggeschnitten oder lediglich ein Ohrläppchen durchstochen wird. Außerdem ginge es im einen Fall um eine Körperverletzung aus religiösen, im anderen aber um eine aus modischen Gründen.

Barbara Streisand. Bild: Allan Warren. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Nun hat das Landgericht Köln nur zu einem speziellen Fall Stellung genommen - dennoch wäre es sinnvoll gewesen, die Debatte auf grundsätzliche Aspekte der Kindererziehung auszudehnen. Hierbei ist das Wort "Debatte" entscheidend, denn gerade in Diskussionen, die sich dieser Aspekte annahmen, verwahre man sich fast reflexartig dagegen, durch noch mehr Verbote in die Erziehung der Eltern einzugreifen.

Einige verstiegen sich in die Aussage, Erziehung sei per se etwas, wo der Staat sich herauszuhalten habe - ohne dass beachtet wurde, dass eine solche Ansicht das Jugendschutzgesetz in vielen Bereichen genauso ad absurdum führen würde wie die allgemeine Schulpflicht. Die Grenzen der Erziehung sind gerade in Deutschland bereits durch vielerlei Gesetze geregelt, sodass die Frage ob Kindskörper ohne medizinische Notwendigkeit verletzt werden dürfen, keine Frage sein dürfte. Dennoch haben sich etliche Akzeptanzen im Laufe der Zeit herausgebildet, die bestimmte Körperverletzungen gesellschaftlich tragfähig machten.

Nur ein bisschen Körperverletzung

Wird die Debatte einmal von dem Thema der Religionsausübung getrennt, so führt sie durchaus weiter. Die prinzipielle Debatte muss daher auch losgelöst von der Debatte um die Beschneidung geführt werden, da diese letztendlich immer in eine religiöse Teildebatte mündet und durch Totschlagargumente wie "Antisemitismus", "Religionsfeindlichkeit" etc. schnell gestoppt werden kann. Die religiösen Belange sind daher hier explizit ausgeklammert.

Dies engt die Debatte keineswegs ein, sondern macht sie erst in ausreichender Offenheit möglich, da es für Körperverletzungen am kindlichen Körper noch genug andere Gründe gibt. Auch die Impfproblematik sei aufgrund ihrer Vielschichtigkeit hier einmal außen vor gelassen da hier medizinischen Gründen vorliegen. Es bleiben z. B. die modischen Gründe, denen allzu oft die Präventionskomponente hinsichtlich psychischer Schäden durch Mobbing und Verspottens hinzugefügt wird.

Gerade dieser Logik folgt z. B. auch die hessische Piratenpartei, wenn sie sich für die "Korrektur von Fehlbildungen, die zu psychologischen Problemen führen" ausspricht bzw. diese explizit von der Strafbarkeit in Bezug auf Körperverletzungen ausnehmen will. Ein Beispiel hierfür wären abstehende Ohren und dergleichen. Doch abgesehen von den Fällen, in denen tatsächlich eine solche Korrektur abstehender Ohren medizinisch notwendig wäre, ist die Mehrzahl der Ohrenkorrekturen ebenso eine modisch oder ästhetisch begründete Körperverletzung wie auch das Ohrlochstechen.

Das auf den ersten Blick durchaus hehre Ziel des Schutzes der Kinder vor psychischen Problemen (die durchaus auch mit physischen Problemen einhergehen können) durch die Angleichung des Äußeren an gesellschaftlich anerkannte Normen führt letztendlich in die Sackgasse der Anpassung um jeden Preis, die gerade auch in Zeiten von günstigen Schönheitskorrekturen und Ritalin die Frage aufwirft, in welcher Gesellschaft wir leben möchten. Wird Andersartigkeit in körperlicher Hinsicht als Grund für psychische Schwierigkeiten nicht nur angesehen, sondern als Ursache bekämpft, anstatt die Reaktion auf sie zu verändern, so führt dies zum Normaussehen, da letztendlich die Möglichkeit entfällt, sich mit eben dieser Andersartigkeit auseinanderzusetzen.

Cindy Crawford. Bild: Ian Smith. Lizenz: CC-BY-SA-2.0

Ein Blick auf die perfekt aussehende Promiwelt zeigt, dass es gerade jene auf viele reizvoll wirken, die nicht ganz dem Ideal entsprechen. Ob Madonnas Zahnlücke, Kate Hudsons Segelohren, Barbara Streisands Nase oder Cindy Crawfords Muttermal - oft ist es gerade die fehlende Perfektion, die auffällt. "Das Außergewöhnliche macht die Menschen schön. Perfekte Gesichter sind einfach nur langweilig!" wird Keira Knightley zitiert und selbstverständlich heißt das nicht, dass Menschen von klein auf zu diesem Schluss kommen. Doch wie, wenn nicht dadurch, dass sie mit dem Unperfekten konfrontiert werden (bzw. lernen, damit zu leben), soll diese Erkenntnis in ihnen reifen?

Madonna. Bild: David Shankbone. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Die chirurgische Ohrenanlegung dient lediglich kosmetischen Zwecken. Es ist medizinisch nicht notwendig. Sieht man es als Prävention, dann öffnet man die Tür zur weiteren Normangleichung Minderjähriger weit. Interessant hierbei ist, dass im gleichen Atemzug mit dem Finger auf die USA gezeigt wird, wo Jugendliche teilweise in sehr jungen Jahren bereits Nasen-, Brust- oder sonstige Schönheitskorrekturen an sich vornehmen lassen. Dabei geschehen diese letztendlich oft genug aus ähnlichen Gründen wie das Ohrenanlegen - nämlich als Angleichung an ein Schönheitsideal bzw. der Abwendung von Spott (z. B. bei ungleich großen, übermäßig großen oder kleinen Brüsten, Höcker-, Kartoffel- oder Himmelfahrtsnasen, schiefen Zähnen, Fettleibigkeit und dergleichen mehr). Wieso es hier bestimmte Ausnahmen geben soll wie z. B. die Ohrenangleichung ist mehr als fragwürdig.

Geht man prinzipiell davon aus, dass Körperverletzungen nur aus medizinisch notwendigen Gründen erlaubt werden sollen, dann darf die Annahme, dass der Verzicht auf die Körperverletzung es ermöglicht, dass es zu (psychischen) Verletzungen des Kindes kommt, nicht der Grund dafür sein, dass diese Körperverletzung erlaubt wird. Auch der bereits eintretende Spott bei abstehenden Ohren dürfte dann kein Grund für eine nichtmedizinisch notwendige OP sein.

Warum erst abwarten?

Sollen Körperverletzungen erlaubt sein um ggf. psychische Schwierigkeiten aufgrund von Intoleranz zu vermeiden, so stellt sich weiterhin die Frage, wieso erst gewartet werden soll, bis eine solche Körperverletzung notwendig ist. Diese Logik führt deshalb direkt zu der Frage der "Designerbabys". Julian Savulescu, der Direktor des Oxford Centre for Neuroethics und des Oxford Uehiro Centre for Practical Ethics, sprach sich vor kurzem dafür aus, dass Eltern eine Verpflichtung dahin gehend haben, der Natur etwas nachzuhelfen, was die Qualität des Nachwuchses angeht:

"Wenn durch PID und Selektion bei der künstlichen Befruchtung bereits Embryonen ausselektiert werden dürfen, die ein hohes Risiko für schwere Erbkrankheiten haben, dann sei das weitere genetische Design nur eine 'natürliche" Folge'" - so Savulescus Ansicht. Eine Selektion, so führt er weiter aus, würde zu einer besseren Gesellschaft führen. Damit spricht der Wissenschaftler nur das aus, wozu letztendlich die Akzeptanz von rein modisch begründeten Operationen an Minderjährigen zur Vermeidung von Spott führen dürfte: Die Vermeidung von Kindern, die durch ihre Andersartigkeit zu Spott und Häme führen. Dies ist die pervers anmutende Logik einer Gesellschaft, die nicht die eigene Intoleranz als Problem sieht, sondern jene, die sich nicht dem Diktat der Gleichförmigkeit unterwerfen (lassen).