Rezession treibt mehr Menschen in den Selbstmord

Grafik: Roberto De Vogli

Studien über die Entwicklung der Selbstmorde in Italien und Großbritannien belegen einen Zusammenhang zwischen der Selbstmordrate und der Wirtschaftskrise seit 2008

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In Krisenzeiten wachsen Angst und Hoffnungslosigkeit, das betrifft natürlich die Verlierer oder diejenigen, die sich dem Schicksal ausgeliefert fühlen. Nach einer EU-weiten Studie aus dem Jahr 2009 nimmt in Zeiten der Wirtschaftskrise die Zahl der Selbstmorde, Morde und Todesfälle durch Alkohol schon dann zu, wenn die Arbeitslosigkeit um ein Prozent wächst. Ab einem Anstieg der Arbeitslosigkeit um 3 Prozent zeigt sich ein leicht anderen Bild. Selbstmorde und Morde werden zwar auch mehr, besonders stark steigen Todesfälle an, die durch Alkoholmissbrauch verursacht wurden, während Tode durch Drogenkonsum ebenso stark zurückgehen. Alzheimer und Diabetes sinken ebenso wie Todesfälle durch Verkehrsunfälle (Mehr Selbstmorde in Zeiten von Wirtschaftskrisen). Die hohen Arbeitsloszahlen, wie sie derzeit in Griechenland, Spanien, Portugal oder Italien herrschen, hatte man damals noch nicht einbeziehen können.

Im April ist es nach dem Selbstmord eines 77jährigen Rentners, der sich vor dem Parlament in Athen erschoss, zu Tumulten gekommen. In seinem Abschiedsbrief soll er geschrieben haben: "Ich gehe, bevor ich meinem Kind zur Last falle und im Müll suchen muss." Die Rede ist von einer dramatischen Zunahme der Suizide. Eine Zeitung berichtete von einer Zunahme um mehr als 40 Prozent im letzten Jahr, andere Medien sprechen von einem Anstieg von 15-20 Prozent.

Ebenso wie in Griechenland soll es auch in Italien angesichts zunehmender Verarmung und Arbeitslosigkeit zu einem erheblichen Anstieg der Selbstmorde gekommen sein, während in Spanien, auch schon mitten in der Krise, zumindest 2010 weniger Selbstmorde als im Vorjahr gezählt wurden, so wenige, wie seit 17 Jahren nicht mehr. Schwierig ist die Rückführung steigender Selbstmorde und versuchter Selbstmorde auf die Krise, weil die Zahlen normalerweise relativ gering sind und damit Anstiege prozentual hoch erscheinen, durchaus aber auch normale Schwankungen sein können.

Für Italien haben nun Epidemiologen vom University College London unter der Leitung von Roberto De Vogli den Anstieg in einer Studie bestätigt, die im Journal of Epidemiology & Community Health erschienen ist. Die Wissenschaftler verweisen auf einen Protest von Witwen von Selbstmördern vor dem Finanzamt in Bologna. Die Sparmaßnahmen hätten ihre Männer in den Selbstmord getrieben, für die Wissenschaftler war dies die erste Bewegung von unten im Hinblick auf die psychische Gesundheit. Untersucht haben sie die Daten vom Italienischen Statistikamt.

Einen Beweis liefern die Daten nicht, aber eine statistische Wahrscheinlichkeit, dass der Anstieg der Selbstmorde deutlich 2008 in die Höhe gegangen ist, nachdem die Zahlen allerdings seit 2002 auch schon langsam zugenommen haben. Während sie bis zum Ausbruch der Finanzkrise jährlich um 10,2 Prozent angestiegen sind, schnellten sie 2008 um 53,9 Prozent in die Höhe, was nach den Wissenschaftlern hieße, es habe bei den insgesamt fast 450 Selbstmorden und Selbstmordversuchen 2008 290 zusätzliche gegeben, die auf die Finanzkrise zurückgeführt werden können. Allerdings scheint 2009 ein Höhepunkt erreicht worden zu sein, zumindest die Zahl der Selbstmorde ist 2010 wieder leicht zurückgegangen.

Obgleich de Vogli natürlich anmahnt, dass weitere Untersuchungen notwendig seien, steht für ihn doch fest, dass die Trends bei den Selbstmorden in Italien konsistent mit denen in anderen europäischen Ländern seien, "in denen die Zahl der Selbstmorde vor der Krise zurückgegangen ist und schnell beim Beginn des finanziellen Zusammenbruchs 2008 angestiegen sind".

Die Vermutung wird durch eine andere Studie britischer Wissenschaftler unter Leitung von Ben Barr von der University of Liverpool für Großbritannien bestätigt, die im British Medical Journal erschienen ist. Die Fragestellung war hier, ob die von der Wirtschaftskrise 2008-2010 am stärksten betroffenen Regionen die höchsten Selbstmordraten aufweisen, was wiederum bedeuten würde, dass die von der Regierung beschlossenen Sparmaßnahmen und die dadurch entstehende Arbeitslosigkeit dafür mit verantwortlich gemacht werden könnten. Für die Studie werteten die Wissenschaftler ebenfalls die statistischen Daten von 2000 bis 2010 aus.

Ähnlich wie in Italien sind die Selbstmorde in ganz Großbritannien 2008 von einem 20-jährigen Tiefstand um 7 Prozent bei den Männern (846 mehr als erwartet) und um 8 Prozent (155 mehr als erwartet) bei den Frauen angestiegen, um dann 2010 wieder leicht zu fallen. Sie liegen aber wie in Italien weiterhin deutlich über den Zahlen von 2007. Diese Studie macht zudem deutlich, dass mit sinkender Arbeitslosigkeit auch die Selbstmordrate sinkt, aber praktisch parallel mit einer steigenden Arbeitslosigkeit anwächst. Eine um 10 Prozent wachsende Arbeitslosigkeit bei Männern gehe mit einer 1,4 Prozent höheren Selbstmordrate einher, bei den Frauen war der Anstieg um 0,7 Prozent wegen der geringen Zahl nicht signifikant.

Grafik: Ben Barr et al./CC-Lizenz BY-NC-2.0

Arbeitslosigkeit ist allerdings nicht der einzige Grund, die Wissenschaftler gehen davon aus, dass zwei Fünftel der zusätzlichen Selbstmorde in der Zeit zwischen 2008 und 2010 direkt auf Arbeitslosigkeit zurückgeführt werden können.

Nach der Analyse korreliert auch die Höhe der Arbeitslosigkeit in den Regionen mit der der Selbstmorde. Berücksichtigt wurden dabei schnelle Veränderungen der Arbeitslosenzahlen, um Folgen einer Dauerarbeitslosigkeit auszuschließen. Im Vergleich zu 2007 wuchs die Zahl der arbeitslosen Männer zwischen 2008 und 2010 durchschnittlich um 25,6 Prozent, wodurch die Selbstmordrate um 3,6 Prozent gestiegen sei. Allerdings wurde nur die Zahl der gemeldeten Arbeitslosen berücksichtigt, die Zahl der faktischen Arbeitslosen dürfte höher sein.

Kürzungen der öffentlichen Haushalte, so die Wissenschaftler, können die Folgen der Rezession noch weiter verstärken und die Selbstmordrate erhöhen. Die Wissenschaftler weisen darauf hin, dass Sparmaßnahmen besonders in den sowieso schon benachteiligten Kommunen ausgeführt wurden, die höhere Selbstmordraten haben. Der Anstieg der Arbeitslosigkeit 2010 und 2011 habe mit Sparmaßnahmen der Kommunen zu tun. Die Gefahr sei, dass die "menschlichen Kosten einer weiter hohen Arbeitslosigkeit die angeblichen Vorteile von Haushaltskürzungen übersteigen könnten".