Großbritannien: Arbeitsfähig bis zum Ableben

Die britische Regierung will die Zahl der Sozialhilfeempfänger drücken - mit Hilfe eines privaten Dienstleistungskonzerns. Warum eigentlich wird der Hass auf die Faulheit immer größer, je schlimmer die Arbeit wird?

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Stephen Hill war beruflich Kraftfahrer und wohnte mit seiner Familie in Nordengland, in Derbyshire, da, wo England so richtig provinziell ist. Vor zwei Jahren verschlimmerten sich seine gesundheitlichen Probleme. Ständig fühlte er sich erschöpft, berichten seine Angehörigen. Schließlich konnte er nicht mehr zur Arbeit gehen und beantragte Employment Support Allowance (ESA). Von dieser staatlichen Beihilfe leben vor allem Behinderte und chronisch Kranke - Menschen, die nicht arbeitsfähig sind. Ob sie dazu berechtigt sind, wird unter anderem mit medizinischen Tests festgestellt. Schnell stellte sich bei dieser Untersuchung heraus, dass Stephen Hill an einer schweren Herz-Kreislauf-Erkrankung litt. Man riet ihm, möglichst schnell einen Arzt aufzusuchen.

Die Antwort auf seinen Antrag war dennoch - negativ! Eine schwere kardiovaskuläre Erkrankung sei "unwahrscheinlich", hieß es im Bescheid des Arbeitsamts. Hill legte Widerspruch ein, mit Erfolg. Aber schon nach wenigen Wochen nach der ersten Zahlung wurde er erneut für denselben medizinischen Test einbestellt. Wovon sollte er leben? Hatten die Mediziner recht, war er vielleicht doch gesund? Auch beim zweiten Mal kamen die Prüfer zum gleichen Ergebnis; er sei nicht wirklich krank und daher arbeitsfähig. Vier Wochen später starb Stephen Hill an einem Herzinfarkt, als er sein Auto reinigte.

Ende Juli brachte das renommierte Fernsehmagazin "Panorama" der BBC diesen Fall an die Öffentlichkeit. Die Reportage mit dem Titel "Disabled or faking it? weckte vielfach Empörung. Viele Briten beginnen nun zur Kenntnis zu nehmen, dass Hills Tod weder der einzige, noch der erste Fall einer krassen und fatalen Fehleinschätzung war. Die Boulevardzeitung Daily Mirror recherchierte und fand heraus, dass zwischen Januar und August 2011 1.100 ESA-Empfänger starben, kurz nachdem die Behörden sie als bedingt arbeitsfähig eingestuft hatten.

Reform des Behindertenrechts

Die Employment Support Allowance ist in Großbritannien die wesentliche Beihilfe für Arbeitsunfähige und entspricht ungefähr der deutschen Sozialhilfe. Die Reform dieser Transferleistung beherrscht seit Jahrzehnten die britische Sozialpolitik. Seit Tony Blairs Regierung wurde das System mehrmals neu strukturiert und Zuständigkeiten umverteilt. In der jetzigen Form existiert ESA seit 2008, als die damalige Labour-Regierung zwei Transferleistungen zusammenlegte und die heute praktizierte Arbeitsfähigskeitsbeurteilung;;www.direct.gov.uk/en/MoneyTaxAndBenefits/BenefitsTaxCreditsAndOtherSupport/Illorinjured/DG_172012 (Work Capability Assessment, WCA) einführte.

Auf der Grundlage dieser medizinisch-psychologischen Untersuchung entscheidet das Ministerium, ob die Empfänger tatsächlich zu keiner Arbeit in der Lage sind. Sie werden entweder der "Unterstützungsgruppe" (support group) zugeteilt oder der "arbeitsbezogen Aktivitätsgruppe" (work-related activity group), wo sie mit Trainingsmaßnahmen an eine Lohnarbeit herangeführt werden sollen - beziehungsweise gelten unmittelbar als arbeitsfähig. Ungefähr 2,5 Millionen Briten erhalten ESA, das sind sieben Prozent der Bevölkerung in arbeitsfähigem Alter. Sie alle wurden bereits oder werden noch getestet.

Aus der Zeit der letzten Regierung stammt auch der Vertrag, den das Ministerium für Arbeit und Renten (DWP) mit dem französischen Dienstleistungsunternehmen Atos schloss. Seitdem führen Angestellte der Firma Atos Healthcare das WCA durch. Die liberal-konservative Regierung machte nach ihrem Amtsantritt 2010 dort weiter, wo Labour aufgehört hatte, verschärfte massiv die Anforderungen, um aus dem Arbeitsleben entlassen zu werden und stärkte die Rolle des Privatunternehmens.

Das hauptsächliche und offen eingestandene Ziel dieser Umstrukturierung ist, die Zahl der Empfänger zu senken. Nach Ansicht der Reformer sollte das auch kein Problem sein, weil viele Leistungsempfänger durchaus zum Arbeiten in der Lage seien, wenn sie nur etwas mehr Druck und / oder Unterstützung bekämen. Die bisherigen Ergebnisse decken sich durchaus mit dieser Erwartung. Durchschnittlich jeder dritte ESA-Bezieher erhält eine Ablehnung.

Diese Entscheidung hat für sie handfeste Konsequenzen. Sie müssen fortan dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen und bekommen eine niedrigere Rate ausgezahlt. Andererseits ist jeder dritter Widerspruch erfolgreich. Werden die Arbeitsunfähigen von Anwälten beraten, steigt der Anteil nach Angaben von Anwälten noch einmal deutlich. Ähnlich wie die deutschen Hartz-Gesetze führt die britische "Sozialreform" zu einer Flut von Klagen und Verfahren vor Sozialgerichten, einem Berg von ausstehenden Gerichtsentscheidungen und teils monatelangen Wartezeiten für die Kläger. Laut einer aktuellen Statistik des Arbeitsministeriums findet ein Viertel der Ausgemusterten keine Stelle, bezieht aber dennoch keine Unterstützung.

Heftige Kritik der Betroffenen

Behinderten- und Sozialverbände, beispielsweise die Multiple Sclerosis Society oder Mind, ein Interessenverband von psychisch Kranken, liefen von Anfang an Sturm gegen dieses Verfahren. Das Disability Benefits Consortium, ein Zusammenschluss von Selbsthilfegruppen und Wohlfahrtsorganisationen, bemängelt unter anderem, die Tests seien unfair und die Prüfer nicht ausreichend geschult. Dabei sind die Kritiker gar nicht grundsätzlich gegen den Versuch, Behinderte und chronisch Kranke ins Berufsleben zu integrieren. Aber sie verlangen Arbeitsstellen, die für die Betroffenen zumutbar und attraktiv sind.

Die WCA-Prozedur und die Firma Atos sind unter britischen Behinderten mittlerweile regelrecht verhasst. Sie kritisieren vor allem, der Test sei zu unflexibel und "mechanistisch". Das wäre nicht wirklich verwunderlich, denn das Assessment wird mehr oder weniger von einer Maschine durchgeführt. Atos hat zu diesem Zweck das Computerprogramm "Logic Integrated Medical Assessment (LiMA) entwickelt, das Fragen generiert und die Antworten mit einem Scoring-Verfahren bewertet. Aus Informationen wie "Wie hoch können Sie Ihr Bein heben?" oder "Können Sie eine leere Pappschachtel bewegen?" errechnet der Computer das Ausmaß der Arbeitsunfähigkeit.

Dafür beschäftigt die Firma ausschließlich Mitarbeiter "mit medizinischer Ausbildung", Ärztinnen und Krankenschwestern, darunter übrigens viele Einwanderer. Sie spielen allerdings in dem etwa zwanzigminütigen Verfahren lediglich die Rolle eines Sensors, der die Maschine mit Informationen füttert, und stellen sicher, dass die Probanden den Anweisungen tatsächlich folgen. In der oben erwähnten BBC-Reportage lässt sich eine Atos-Angestellte so zitieren: "Manchmal gibt es Leute, denen man ESA zubilligen will. Aber wenn man sich genau an die Vorgaben hält, geht das nicht. Sie kriegen einfach keine Testpunkte, und dann sitzen sie in der Falle." Auch Malcolm Harrington, ein Experte für Gesundheitspolitik, der im Auftrag der Regierung das WCA evaluiert und Verbesserungsvorschläge gemacht hat, äußert sich ähnlich: "Stellenweise ist das System zu starr und unflexibel. Man muss Menschen in die Überprüfungen einbeziehen." Auf die Kritik am WCA reagierte das Arbeitsministerium mit zahlreichen organisatorischen Maßnahmen. Die Umsetzung der Empfehlungen von Harrington, der führte tatsächlich dazu, dass die Zahl der als arbeitsfähig Eingestuften leicht sank. Auch die Metrik der Software wurde wiederholt neu justiert. Die Qualität der Testergebnisse scheint trotzdem nicht wesentlich besser geworden zu sein. Im Mai dieses Jahres forderten Hausärzte auf der Jahresversammlung der British Medical Association, den Test abzuschaffen. Die standardisierte Überprüfung sei "ungenügend" und würde "dem Wesen und der Komplexität der Bedürfnisse von Menschen, die behindert oder chronisch krank sind ... nicht gerecht", heißt es in einer einstimmig angenommenen Resolution.

Welchen Unterschied macht es, wenn ein privates Unternehmen "hoheitliche Aufgaben" übernimmt?

Die liberal-konservative Regierung setzt bekanntlich auf Privatisierung (Durch Privatisierung aus der Krise?, um das britische Staatsdefizit zu senken. Immer mehr exekutive und Verwaltungsaufgaben werden an private Anbieter übertragen, oft an große und international tätige Dienstleistungskonzerne wie Serco, G4S, Capita - oder eben an Atos. Ob sich das in diesem Fall wenigstens finanziell lohnt, ist nicht so einfach herauszufinden. Klar ist, dass Atos Healthcare für die Durchführung der WCA bis zum Jahr 2015 jährlich etwa 100 Millionen Pfund bekommt.

Kritiker monieren, dafür sei die Qualität der Beurteilungen ziemlich schlecht (zur Erinnerung: jeder dritte Bescheid muss zurückgenommen werden). Das National Audit Office, vergleichbar mit dem Bundesrechnungshof, bemängelte vor zwei Wochen, dass keine wirksamen Vertragsstrafen vorgesehen seien, wenn der Anbieter seine Verpflichtungen nicht nachkommt. Andererseits kursieren Gerüchte, die Verträge zwischen Atos und der Regierung enthielten Zielvorgaben über die Zahl der Negativ-Beurteilungen. Ob das wirklich stimmt? Anfragen von Journalisten nach dem britischen Informationsfreiheitsgesetz, die Einsicht in die Verträge zwischen dem britischen Staat und Atos Healthcare nehmen wollten, wurden abgelehnt, die Verträge würden Geschäftsgeheimnisse berühren.

Zur Nostalgie besteht dennoch kein Anlass: Dass der Staat aktiv dafür zu sorgen würde, dass allen Bürgern ein würdiges oder wenigstens erträgliches Leben möglich wird, war immer eine Utopie beziehungsweise Ideologie. Immer schon kontrollierte der Sozialstaat im exakt gleichen Maß, wie er unterstützte. Diese Aufgabe erfüllten die Beamten des Sozialstaats immer schon mit einer gehörigen Portion Willkür. Heute entscheiden die Beschäftigten von Atos über die Rechte von Bedürftigen, während sie selbst unter enormen Druck stehen. Vielfach haben sie nur befristete Verträge. Sie müssen sich vertraglich zu Stillschweigen verpflichten und zwar über das Ende ihrer Anstellung hinaus. Die einzige Interviewpartnerin von Atos Healthcare, die die BBC-Reporter finden konnten, gab außerdem zu Protokoll, als Arbeitgeber sei die Firma "unter Medizinern die unbeliebteste überhaupt". Für Whistleblower und eine humane Auslegung des Sozialrechts sind das keine guten Voraussetzungen.

Immer mehr (Lohn-)Arbeit

Seit den 1970er Jahren sind immer mehr Briten offiziell arbeitsunfähig und bestreiten ihren Unterhalt mit Transferleistungen. Die Menge der Bezieher von Invalidity Benefits, Incapacity Benefits und heute ESA stieg massiv an. Von 1979 bis 2004 wuchs ihre Zahl von etwa 800.000 auf 2,6 Millionen. Danach ging sie leicht zurück, hält sich aber (sozusagen historisch betrachtet) auf hohem Niveau.

Psychische Erkrankungen wie beispielsweise Depression und Drogenabhängigkeit spielten dabei eine immer wichtigere Rolle. Heute sind solche Diagnosen in über einem Drittel der Fälle die Begründung für die Arbeitsunfähigkeit und damit die häufigste Ursache überhaupt. Auch deshalb mussten sich die Empfänger immer öfter gegen den Verdacht wehren, sie seien Simulanten beziehungsweise Sozialbetrüger.

Wie ist der gewaltige Anstieg zu erklären? Der Anteil von bewussten Betrügern liegt allerdings laut Statistiken des Arbeitsministeriums lediglich bei einem halben Prozent. Sicher aber wurde die Sozialhilfe als Arbeitsunfähiger desto attraktiver, je schwerer der britische Sozialstaat den Arbeitslosen das Leben machte. Dazu kommen die Veränderungen der Arbeitswelt: die fortschreitende Verdichtung und Flexibilisierung der Arbeit und vielfach der Trend zur "Responsibilisierung", die den Beschäftigten organisatorische Verantwortung aufbürdet und sie im Extremfall sogar für den kommerziellen Erfolg verantwortlich macht. Offenbar ist das Arbeitsleben für immer mehr Menschen unerträglich.

Dabei arbeiten die Briten insgesamt keineswegs weniger als früher, im Gegenteil. Mit sieben Prozent ist der Anteil der arbeitsunfähigen Erwachsenen im Vergleich mit anderen industrialisierten Staaten nicht übermäßig hoch. Seit den 1980er Jahren stieg die Beschäftigungsquote langfristig, sieht man von den Konjunkturschwankungen ab, stetig an. Heute gehen fast 80 Prozent der Menschen zwischen 16 und 65 einer Lohnarbeit nach. Addiert man zu dieser Zahl die sieben Prozent der nicht-arbeitsfähigen Transferempfänger, bleiben nicht viele übrig. Sie finden keinen Job, bereiten sich auf die Lohnarbeit vor, indem sie studieren oder eine Ausbildung absolvieren, oder erziehen Kinder.

Die "Labour Market Participation Rate" erfasst ausschließlich Lohnarbeit, nicht aber Haus- und allgemein Reproduktionsarbeit. Wer Kinder erzieht, Alte pflegt und den Haushalt macht, gilt merkwürdigerweise "als ökonomisch inaktiv". Insofern spiegelt die wachsende Beschäftigungsrate auch die Tatsache wider, dass immer mehr gesellschaftliche Aufgaben professionell und kommerziell abgewickelt werden, beispielsweise als bezahlte Kinderbetreuung, Pflege der Eltern in Altersheimen, Fertigmahlzeit aus dem Kühlregal … Auf den ersten Blick scheint es paradox: Die angebliche Untätigkeit und Faulheit wird als soziales und politisches Thema seit den 1980er Jahren immer beherrschender, während Lohnarbeit die Gesellschaft immer mehr tiefer durchdringt.

Die öffentliche Kritik bleibt brav

Seit einigen Wochen wird die öffentliche Kritik an Atos und dem Arbeitsministerium lauter. Das spiegelt sich auch in der Berichterstattung: Nachdem jahrelang ausschließlich Geschichten über Sozialbetrüger im Stil der "Florida-Rolf"-Saga zu lesen waren, etabliert sich nun ein neues journalistische Genre: die Reportage, die vom tragischen Schicksal eines Schwerbehinderten erzählt, den private Prüfer und Arbeitsämter drangsalieren.

Seit Blairs Regierung dominiert die politische Rhetorik des "aktivierenden Sozialstaats": Man dürfe die Empfänger nicht einfach "beiseiteschieben", sondern müsse sie "unterstützen" und "integrieren". Dieses Fördern und Fordern geht mittlerweile so weit, dass die Behörden ESA-Empfänger theoretisch zu unbezahlten Praktika verpflichten können. Arbeitsminister Chris Grayling verteidigt den verstärkten Druck: "Wir wissen alle, dass Arbeiten besser für die Gesundheit und das Wohlbefinden ist. Ich stehe zu meiner Überzeugung, dass wir die Menschen nicht einfach abschreiben dürfen."

Dass jeder Job besser ist als gar keiner, ist vermutlich keine mehrheitsfähige Ansicht. Aber die Kritik bleibt in aller Regel sehr brav, insofern sie kaum je die Sinnlosigkeit und Brutalität des Arbeitslebens anspricht. Immer nur schüren englische Boulevardmedien und Regierung die Wut auf "Faulenzer" und Schmarotzer", unter anderem mit einer aufwändigen Kampagne gegen "Beihilfe-Diebe". In ihrem Rahmen wurden unter anderem Telefon-Hotlines und Internetseiten eingerichtet, mit denen Bürger die Behörden informieren können, wenn sie Hinweise Verdacht auf Sozialbetrug haben, auf Wunsch "auch anonym".

Wie viele Briten dieser Aufforderung zur Denunziation tatsächlich nachkommen, ist unklar. Sicher ist, dass viele mit der Ausweitung des Arbeitszwangs durchaus sympathisieren - und zwar desto mehr, je schwerer die Wirtschaftskrise das Land trifft! Eine Ende des letzten Jahres veröffentlichte Umfrage des National Centre for Social Research ergab eine regelrechte neoliberale Welle von unten: Etwa die Hälfte der 3.300 Befragten stimmten der Aussage zu, die Beihilfen für Arbeitslose seien zu hoch. 1983 waren es noch 35 Prozent.

Bei aller berechtigten Skepsis gegen Meinungsumfragen - die zunehmende Verarmung und Bedrohung durch Verarmung lässt die Briten keineswegs einheitlich nach links marschieren. Dabei scheint gerade unter unsicher Beschäftigten mit geringem Einkommen die Sympathien und Verständnis für Menschen, die keiner Lohnarbeit nachgehen (können), seltener als früher zu werden. Eine mögliche Erklärung: Je mehr sie selbst unter Stress und schlecht bezahlter Plackerei leiden, desto ungerechter finden sie, dass andere Menschen davon verschont bleiben.