"Jungen Menschen ohne Ausbildung droht ein Leben in prekären Verhältnissen"

Laut einer DGB-Studie suchen immer noch mehr als 2 Millionen junge Menschen einen Ausbildungsplatz, 16,1% der Ausbildungslosen haben Abitur

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Am 1. September hat das neue Ausbildungsjahr begonnen. Die Arbeitgeber und die Politik sind sich einig: Für junge Auszubildende ist die Situation rosig. Der immer wieder heiß diskutierte Fachkräftemangel hat die Betriebe erreicht und viele Unternehmen suchen händeringend nach Auszubildenden. Trotzdem sind immer noch 2,2 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 34 ohne eine abgeschlossene Berufsausbildung. Der deutsche Gewerkschaftsverband DGB hat über diese Gruppe eine neue Studie veröffentlicht. Telepolis sprach mit dem Leiter der Abteilung Bildungspolitik und Bildungsarbeit des DGB und Studienautoren Matthias Anbuhl über die Probleme dieser Menschen, einen Ausbildungsplatz zu finden.

Was war ihre hauptsächliche Intention bei der Studie?

Matthias Anbuhl: Seit mehr als einem Jahrzehnt gibt es in unserem Bildungssystem einen festen Sockel von abgehängten Menschen. Mehr als zwei Millionen junge Menschen haben keinen Berufsabschluss. Das sind rund 15 Prozent dieser Altersgruppe. Trotz aller Bildungsgipfel ist es in den vergangen Jahren nicht einmal im Ansatz gelungen, diese Quote signifikant zu senken. Gleichzeitig gibt es den Trend in der Arbeitswelt zu immer höheren Qualifikationen. Damit wird es in der Zukunft immer schwieriger für ungelernte Menschen dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Mit dieser Studie wollen wir das Augenmerk genau auf diese Menschen richten: Wie setzt sich die Gruppe der Ausbildungslosen zusammen? Welche politischen Maßnahmen können helfen.

Was bedeutet es für jemanden, wenn er ohne eine Berufsausbildung seine berufliche Karriere startet?

Matthias Anbuhl: Junge Menschen ohne Berufsabschluss haben schlechte Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Von den 2,2 Millionen jungen Ausbildungslosen, sind nur 1,2 Millionen erwerbstätig. Schaffen es die jungen ungelernten Arbeitskräfte Arbeit zu finden, sind sie überdurchschnittlich häufig von prekären Arbeitsverhältnissen betroffen. Sie landen oft in Mini- und Gelegenheitsjobs. Von den Ungelernten im Alter von 20 bis 34 Jahren arbeiten 17,7 % in geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Bei den Gleichaltrigen mit Berufsabschluss sind es nur 5,4 %. Jungen Menschen ohne Ausbildung droht ein Leben in prekären Verhältnissen. Sie sind in aller Regel kaum in der Lage, selbst ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Gerade hat die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen vor millionenfacher Altersarmut von Normalverdienern gewarnt. Für Geringverdiener – und dazu zählen die Ungelernten in aller Regel - gilt dies allemal.

Gibt es nicht auch Möglichkeiten ohne eine Berufsausbildung eine Karriere zu starten?

Matthias Anbuhl: Eine gute Berufsausbildung ist sehr wichtig für die eigene Karriere. Junge Menschen ohne Berufsabschluss haben schlechte Perspektiven auf dem Arbeitsmarkt. Dieser Trend wird sich weiter verschärfen: Sämtliche Prognosen sagen voraus, dass der Bedarf an ungelernten Arbeitskräften in der Wirtschaft weiter sinken wird.

Der Übergang von der Schule in die Ausbildung ist ein zentrales Problem

In Ihrer Studie stellen sie fest, dass 81,9 % der jungen Arbeitskräfte ohne Berufsausbildung einen Schulabschluss haben. Ich wäre jetzt eher davon ausgegangen, dass jemand, der keine Berufsausbildung hat, im Vorfeld auch keinen Schulabschluss gemacht hat. Wie erklären Sie, dass junge Menschen mit erfolgreich abgeschlossener Schule keine Berufsausbildung beginnen?

Matthias Anbuhl: In der Tat: 1,8 Millionen junge Menschen ohne Berufsabschluss verfügen über einen Schulabschluss. 800.000 sogar über einen mittleren oder höheren Abschluss. Im Klartext: Das Gros der Ungelernten bringt eigentlich alle schulischen Voraussetzungen mit, um sofort eine betriebliche Ausbildung zu beginnen. Und trotzdem fallen diese Menschen nach der Schule aus dem System. Das zeigt, dass der Übergang von der Schule in die Ausbildung ein zentraler Ansatzpunkt ist. Noch immer gibt die Wirtschaft jungen Menschen mit Haupt- oder Realschulabschluss zu wenige Chancen. So spricht auch der Nationale Bildungsbericht von einer faktischen Abschottung der Hälfte der Ausbildungsberufe für junge Hauptschulabsolventen. Hier müssen die Arbeitgeber ihrer gesellschaftlichen Verantwortung wieder gerecht werden.

Zudem hat sich neben der betrieblichen Ausbildung ein wahrer Dschungel an teilweise sehr zweifelhaften Maßnahmen, wie Einstiegsqualifizierungen oder Praktika, gebildet. Wenn die jungen Menschen einmal dort geparkt sind und sich von Maßnahme zu Maßnahme hangeln, haben sie es schwer, wieder den Sprung in eine reguläre Ausbildung zu schaffen.

Damit meinen Sie jetzt die sogenannte Generation Praktika?

Matthias Anbuhl: Damit meine ich die Jugendlichen in den Warteschleifen zwischen Schule und Ausbildung. Das sind zurzeit rund 300.000 Menschen. Diese Maßnahmen werden auf dem Ausbildungsmarkt nicht akzeptiert. Junge Menschen, die sich in den Warteschleifen befinden, sind oft stigmatisiert. Hier werden die Weichen für spätere Ausbildungslosigkeit gestellt.

Stichwort höherer Schulabschluss. Laut Ihrer Studie haben 16,1% der Ausbildungslosen Abitur. Eigentlich müsste erwartet werden, dass es gerade dieser Gruppe doch leicht fallen sollte, einen Ausbildungsplatz zu ergattern?

Matthias Anbuhl: Das stimmt. Es ist eines der besonders frappierenden Ergebnisse dieser Studie, dass der Anteil der Menschen mit Hochschulreife und der Schulabbrecher im Grunde auf einem ähnlichen Niveau liegt. Hier besteht echter Forschungsbedarf.

Kluft zwischen der Klage über den Fachkräftemangel und der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe

Die ganze Welt redet doch eigentlich vom Fachkräftemangel. Das klingt jetzt aber nicht gerade danach. Viele Unternehmen beklagen sich doch, dass die Jugendlichen keine ausreichende Schulbildung mitbringen würden und damit auch keine guten Bewerber zur Verfügung stehen. Wo mangelt es denn?

Matthias Anbuhl: Zwischen den Klagen der Wirtschaft über den Fachkräftemangel und der Ausbildungsbereitschaft der Betriebe klafft noch immer eine beträchtliche Lücke. So liegt die Quote der Ausbildungsbetriebe mit 22,5 Prozent auf einem historischen Tiefststand. Wir haben 1,8 Millionen junge Menschen, die über einen Schulabschluss verfügen, aber keine abgeschlossene Ausbildung haben. Die müssten eigentlich das vorrangige Potential für Betriebe sein, die Fachkräfte suchen. Allerdings gibt es auch schon erste Tarifverträge, die die Gewerkschaften forciert haben – zum Beispiel in der Metall- und Elektroindustrie und in der chemischen Industrie. Da absolvieren die Jugendlichen erst ein Qualifizierungsjahr, und haben – wenn sie sich bewähren - anschließend einen Anspruch auf den Einstieg in eine reguläre betriebliche Ausbildung.

In der Studie fällt auf, dass es sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern gibt. Bei der Anzahl der Jugendlichen ohne Abgeschlossener Berufsausbildung liegt Sachsen mit nur 9,2 % vorne und auf dem letzten Platz Bremen, mit 24,2 %. Was machen die Sachsen besser?

Matthias Anbuhl: Da fehlen uns detaillierte Zahlen. Es gibt sicher einige Erklärungsansätze – wie die demografische Entwicklung in den ostdeutschen Ländern –, aber letztlich bewegen wir uns hier im Bereich der Spekulation. Ich kann aber nur jede Landesregierung und jeden Landtag auffordern, das Thema der Ausbildungslosigkeit ganz nach oben auf die Agenda zu setzen.

Was glauben Sie, müsste getan werden, um mehr Jugendlichen eine Ausbildungschance zu eröffnen?

Matthias Anbuhl: Es müsste Dschungel der Warteschleifen im Übergangssystem zwischen Schule und Ausbildung gelichtet werden. Diese Maßnahmen bieten den jungen Menschen kaum eine Perspektive auf einen Berufsabschluss. Jugendliche, die nur aufgrund fehlender Ausbildungsangebote keinen betrieblichen Ausbildungsplatz finden, benötigen keine berufsvorbereitende Maßnahme und keine Einstiegsqualifizierung. Sie brauchen eine Ausbildungsgarantie: Diese jungen Menschen sollten deshalb spätestens sechs Monate nach Beginn des Ausbildungsjahres einen Rechtsanspruch auf eine außerbetriebliche Ausbildung erhalten

Solche Möglichkeiten gibt es doch? Beispiel Berufsvorbereitungsjahr oder Zwei-Jährige-Berufsfachschulen in Baden-Württemberg. Sie fordern eine Lösung, die es bereits gibt?

Matthias Anbuhl: Wenn sich junge Menschen dauerhaft auf dem Arbeitsmarkt behaupten wollen, brauchen sie eine mindestens dreijährige Berufsausbildung. Bei den Berufsfachschulen in Baden-Württemberg bleibt das den jungen Auszubildenden leider verwehrt. Schon dieser Punkt unterscheidet sich von unserem Modell.

Herr Anbuhl, ich danke Ihnen für das Gespräch.