Der Prozess des Jahrhunderts: Showdown in Venedig

Pulp

Anatomie einer Gesellschaft, Teil 4

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Was bisher geschah: Es kommt heraus, dass der Marchese und seine Freunde nicht nur Orgien feiern, sondern auch keine Steuern zahlen. - Prinz Moritz von Hessen gerät in Verdacht, der "Dritte Mann" zu sein. - Der Außenminister tritt zurück. - Gegen Ugo Montagna, Piero Piccioni und Saverio Polito wird Haftbefehl erlassen. - Piccioni präsentiert nach mehreren Anläufen sein Alibi Nr. 5, mit Alida Valli in der Hauptrolle. - Das Establishment schlägt zurück: Giuseppe Sotgiu, Verteidiger von Silvano Muto und Galionsfigur der Kommunisten, wird seinerseits in einen Sexskandal verwickelt. - Piccioni und Montagna kommen frei. - Tazio Secchiaroli wird zum bekanntesten Paparazzo von Rom. - Die Montesis lassen sich davon abbringen, in einem Film mitzuspielen, der Marchese tut nur so, als ob er einen produzieren wollte und der Schwarze Schwan dreht tatsächlich einen, den aber keiner sehen will (oder kann) …

Teil 3: Besser als Agatha Christie und Edgar Wallace: The plot thickens

Bleiben wir noch einen Moment beim Film. Wie sollte man die Montesi-Affäre auf die Leinwand bringen? Alberto Lattuada und Mike Hodges geben die Antwort: als gallige Komödie. Lattuada wirft mit La spiaggia (Der Strand) einen bitterbösen Blick auf eine Elite, die dem eigenen Vorteil und dem Geld die Moral unterordnet. Der Film mit einer nackt im Meer badenden Existentialistin kam auf dem Höhepunkt der Montesi-Affäre in die italienischen Kinos und löste einen Skandal aus. Die schöne Prostituierte Anna Maria macht mit ihrer kleinen Tochter Urlaub an der ligurischen Küste, wo sie von einer heuchlerischen Bourgeoisie begeistert aufgenommen und dann - als durch einen dummen Zufall enttarnte Hure - wie eine Aussätzige behandelt wird, ehe sich alles wieder umdreht, weil die untreuen Ehefrauen und die ins Bordell gehenden Ehemänner ihr Verhalten an dem misanthropischen Millionär ausrichten, dessen Reichtum an diesem Strand den Ton angibt.

La spiaggia

Lattuada wurden moralische Verworfenheit und kommunistische Propaganda vorgeworfen. Die feine Gesellschaft Italiens reagierte mit ungläubigem Staunen darauf, dass ausgerechnet Piero Piccioni, der Sohn des Außenministers, die Musik zu La spiaggia geschrieben hatte (unter seinem Künstlernamen Piero Morgan). Bis dahin hatte man die Reihen fest geschlossen gehalten. Jetzt wussten die konservativen Meinungsmacher nicht mehr genau, ob sie Piccioni jun. gegen Vorwürfe in der Montesi-Affäre in Schutz nehmen oder ihn wegen seiner Mitwirkung an Lattuadas Film attackieren sollten.

Fast zwanzig Jahre später, Anfang der 1970er, erinnerte sich Mike Hodges an die Affäre, als er über Erfolge der Neofaschisten bei italienischen Regionalwahlen las. Das inspirierte ihn zu einem seiner besten Filme, Pulp. Gedreht wurde auf Malta, weil an jedem der vorab ausgesuchten Schauplätze in Italien mit der örtlichen Mafia neu verhandelt werden musste, was auf die Dauer zu enervierend (und zu teuer) war. Michael Caine spielt den früheren Bestattungsunternehmer Mickey King, der jetzt in einem Land am Mittelmeer lebt und Krimis schreibt, oder - genauer - diktiert, woraus Hodges einen der witzigsten Filmanfänge der 1970er macht.

Pulp

King erhält den Auftrag, als Ghostwriter die Memoiren des mit der Mafia verbandelten Gangsterdarstellers Preston Gilbert (Mickey Rooney als Mussolini-Verschnitt) zu verfassen. Das ruft einen als Priester getarnten Killer auf den Plan, der das Erscheinen der Autobiographie verhindern soll. Luciano Pigozzi, der "italienische Peter Lorre", tritt als Hellseher auf; Robert Sacchi, der Doppelgänger von Humphrey Bogart, mimt einen CIA-Agenten; und Leopoldo Trieste, als Ivan Cavalli in Fellinis Der weiße Scheich noch selbst Leidtragender der durch die Trivialliteratur in die Welt gesetzten Phantasien, gibt Kings mit einer Blasenschwäche geschlagenen Verleger. Die Spur führt zum Politiker Prinz Cippola (die Hitler- bzw. Mussolini-Figur in Thomas Manns "Mario und der Zauberer" heißt Cipolla) und zurück in die Vergangenheit, zum Grab einer tot aufgefundenen jungen Frau am Strand. Dieses Grab ist das emotionale Zentrum der Geschichte. Am Ende sorgt die CIA dafür, dass alles vertuscht wird, während Cippola und seine Freunde Jagd auf ein Wildschwein machen wie Montagna und seine Freunde in Capocotta. Pulp ist halb Farce und halb Tragödie. Damit trifft Hodges genau den richtigen Ton für einen Film über die Montesi-Affäre. Wenden wir uns zunächst wieder der Farce zu.

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Wilma, Wanda oder doch die Rote Gianna?

Viel Arbeit haben die Advokaten. Anna Maria Caglio strengt mehr als ein Dutzend Zivilklagen an und wird ihrerseits - nur eine Auswahl - von Montagna, Piccioni, Ex-Polizeipräsident Polito und Graf Francesco di Campello verklagt. Letzterer hat eine Villa in der Nähe von Capocotta und nimmt Anstoß daran, dass die Handlungsreisende der Wahrheit Muto erzählt hat, dass ihr der Marchese erzählt hat, dass die Gräfin di Campello eine dumme Gans ist, mit der er mal geschlafen hat. Polito wird von Rachele Mussolini verklagt, der Witwe des Duce. 1942, nach der Absetzung und Verbannung Mussolinis, hat er das Ehepaar auf die Insel La Maddalena eskortiert und sich Rachele dabei, sagt sie, mit offener Hose genähert. Polito klagt gegen die Republik, die ihm die Pension streichen will, die er dafür erhält, dass 1943 bei einem Autounfall sein Verstand aus dem Gleichgewicht geraten ist. Der Unfall soll außerhalb der Dienstzeit stattgefunden haben; das Problem mit der mentalen Balance wird nicht bestritten. Leone Piccioni schreibt in einem Artikel, dass Augusto Torresin das Telefonat seines Bruders Piero mit Alida Valli erfunden hat und wird von diesem genauso verklagt wie die Epoca, die den Artikel abgedruckt hat. Leone seinerseits verklagt den Hellseher Del Duca, weil der geschrieben hat, dass Piero Wilma vergewaltigen wollte, worauf diese gestorben sei, und Del Duca verklagt eine Zeitung, die ihn einen Scharlatan nennt.

Die Montesis verklagen mehrere Zeitungen, die behaupten, dass die Regierung etwas vertuschen wollte (das würde bedeuten, dass Wilma an Orgien teilgenommen hat) sowie den Autor Indro Montanelli und seinen Verleger Leo Longanesi. Montanelli hat das Buch Addio, Wanda! geschrieben. Untertitel: "Kinsey-Report über die Situation in Italien". Auf Einladung der amerikanischen Botschafterin Clare Booth Luce stattet der berühmte Sexualforscher Italien einen (fiktiven) Besuch ab. Er soll die Ursachen für die sexuelle Lethargie der Italiener ergründen und Vorschläge machen, wie das Land seine moralischen, ökonomischen und politischen Probleme überwinden könnte, um dann schnurstracks der NATO beizutreten, was für die USA aus geostrategischen Gründen sehr wichtig wäre. Am Schluss beschwört Kinsey die Botschafterin: "Im Namen des Atlantischen Paktes, wählen Sie! Das Italien mit bleichem Antlitz oder das Italien mit gesunder Gesichtsfarbe? Das Italien von Wanda, oder das Italien von Wilma Montesi?" In Italien, so Kinsey, "gibt es das Laster. Es gibt Capocotta. Es gibt Mädchen, die an den Stränden sterben. Jungfrauen, jawohl, aber nur auf einer Seite." "Eine Seite" ist wörtlich zu nehmen. Wilma war Jungfrau, als sie starb. Da sind sich die Experten einig. Weil aber viele von Orgien in Capocotta und einem Sexualverbrechen ausgehen, widmen sich die Zeitungen - meist durch die Blume und doch so, dass es allgemein verständlich ist - auch dem Liebesleben der jungen Italienerinnen. Da erfährt der geneigte Leser von Anal- und Oralverkehr und von anderen Möglichkeiten der lustvollen Betätigung, bei denen das Hymen intakt bleibt. Wer oder was aufgeklärt wird, weiß man bei Kriminalfällen immer erst am Schluss.

Adriana Bisaccia, neben Caglio die zweite "Tochter des Jahrhunderts", will sich nicht mehr äußern, wird als Verkäuferin in einem Laden in Rom gesichtet und dann als Vertreterin einer Parfümfirma auf Sizilien. Ihr Schweigen ist zu verschmerzen, weil sich andauernd Verrückte, Selbstdarsteller und Exhibitionisten melden, um der Öffentlichkeit etwas mitzuteilen. Berichtet wird über alles. Ein Tänzer, der sich Rudolf Valentino nennt, ist - sagt er - mit Wilma auf einem Floß hinaus aufs Meer gefahren, wo sie ins Wasser sprang und ertrank, weil sie vergessen hatte, dass sie nicht schwimmen konnte. Rudy verbringt einen Tag im Knast und geht dann in den Petersdom, wo er sich aus Enttäuschung darüber, dass man ihm nicht glauben will, die Pulsadern aufschneidet. Üblicherweise wird ein Gotteshaus, in dem Blut vergossen wurde, geschlossen und neu geweiht. Aber von Leuten wie Rudy (er überlebt) hat die katholische Kirche so die Nase voll, dass sie tut, als wäre nichts gewesen.

Auch mit den eigenen Leuten hat es der Vatikan nicht leicht. Dr. Sepe erhält einen Brief, der mit "Gianna la Rossa" unterzeichnet ist. Die Rote Gianna schreibt, dass sie alles über den Tod von Wilma Montesi weiß und einen weiteren Brief bei einem Dorfpfarrer in der Provinz Parma deponiert hat. Der Priester ist schnell gefunden. Don Tonino Onnis berichtet Sepe, dass am 16. Mai 1953 eine große, schöne, etwa 30-jährige Frau mit roten Haaren zu ihm in die Sakristei kam, ihn um eine Schreibmaschine bat, den fraglichen Brief in die Maschine tippte und ihm ein versiegeltes Kuvert übergab. Nachdem Don Onnis’ Bischof den Umschlag geöffnet, das darin enthaltene Dokument studiert und festgestellt hat, dass das Beichtgeheimnis nicht berührt ist, wird es Sepe übergeben. "Wenn diese Zeilen gelesen werden", schreibt die Rote Gianna, "werde ich tot sein. Ich will, dass man weiß, dass ich keines natürlichen Todes gestorben bin, sondern dass ich von Marchese Montagna und Piero Piccioni umgebracht wurde."

Don Tonino Onnis

Sie sei in einen Strudel des Lasters geraten, fürchte täglich um ihr Leben und habe erfahren müssen, dass Menschen wie sie oder Wilma gegen das Geld und den Einfluss von Montagna und Piccioni nichts ausrichten können und beseitigt werden, wenn sie nicht mehr nützlich sind. Um anderen jungen Mädchen dieses Schicksal zu ersparen, werde sie versuchen, ein Drogengeschäft anzubahnen und Montagna und Piccioni bei der Übergabe des Rauschgifts verhaften zu lassen. Soweit der Brief. Die landesweite Suche nach der mysteriösen Rothaarigen bleibt erfolglos. Sie lässt ein letztes Mal von sich hören, als der Bischof den jungen Dorfpfarrer auffordert, seine Nerven zu beruhigen und darauf einen Drohbrief von ihr bekommt. Nicht nur der Bischof glaubt, dass Don Onnis und die Rote Gianna ein und dieselbe Person sind.

Andererseits ist Rom in den 1950ern tatsächlich ein Zentrum des internationalen Drogenhandels, und Parma ist ein Hauptumschlagplatz in Norditalien. Falls Don Onnis die Rote Gianna erfunden hat, könnte ihn ein echter Fall inspiriert haben. Die rothaarige Corinna Versolatto war Garderobendame im Piccolo Slam, bis der berüchtigte römische Nachtclub 1952 von der Polizei geschlossen wurde, unter anderem wegen Drogenhandel. Dort verkehrten Filmstars und so gut wie alle Hauptfiguren der Montesi-Affäre. Corinna ging 1952 zurück in ihre Heimatstadt Triest, arbeitete für die Militärregierung (Triest stand bis 1954 unter internationaler Verwaltung) und hatte Kontakte zu einem Drogenring. Als sie an einer Überdosis starb, wurde viel darüber spekuliert, ob sie als Polizeispitzel eingeschleust worden und aufgeflogen war oder ob sie umgekehrt die Regierung für die Drogendealer ausspioniert hatte. Unter den vielen Telefonnummern in ihrem Adressbuch wurden auch die von Montagna und Piccioni gefunden.

Fest steht, dass sich der Rauschgifthandel unter dem Einfluss der Mafia zu einem Geschäft mit enormen Gewinnen entwickelt hatte, begleitet von einer bis dahin nicht gekannten Brutalität. Der aus den USA deportierte, bis kurz vor Wilma Montesis Tod im zwanzig Kilometer von Torvaianica entfernten Tor San Lorenzo residierende Frank Coppola gilt als Schlüsselfigur beim Einstieg der Mafia im Immobiliensektor, wo Drogengeld gewaschen wurde. Es ist schwer vorstellbar, dass Montagna bei seinen Transaktionen nicht mit der Mafia in Berührung kam. Ein abgelegenes, durch ein bewachtes Tor gesichertes Jagdrevier in Küstennähe wie Capocotta war eigentlich ideal für den Rauschgiftschmuggel und für andere Geschäfte, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen mussten. Zwei Monate nach Beginn seiner Untersuchungen beschloss Dr. Sepe, die Rauschgiftspur nicht weiter zu verfolgen. Wie bei so vielem im Fall Montesi kann man über die Gründe nur spekulieren. Hielt er die Hinweise in dieser Richtung für unerheblich? Bei Ermittlungen, wo er sich mit jeder noch so abstrusen Aussage intensiv beschäftigte? War er an einen toten Punkt gekommen? Wollte sich der sonst so unerschrockene Sepe nicht mit mächtigen Leuten anlegen, die auch dann ein Interesse daran haben mussten, dass die Verbindung zwischen Rauschgift, Mafia, pharmazeutischer Industrie, Politik, Verwaltung und Immobilienbranche nicht zu hell beleuchtet wurde, wenn Wilma Montesi nie etwas mit ihren Geschäften zu tun gehabt haben sollte? Man weiß es nicht.

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