Last night a chatroom saved my life

Teil 1 - Einsam und allein

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"Das Internet lässt uns verdummen", "Das Internet verhindert Begegnung", "Das Internet ist für Faule" – nur ein paar der Thesen, die regelmäßig in den Medien auftauchen. Doch wo bleibt die andere Seite?

Momentan, also im September 2012, macht erneut ein Buch Schlagzeilen, welches sich mit den verhängnisvollen Auswirkungen des Internets befasst. Während anfangs noch ein teilweise verständlicher Aspekt (kleine Kinder sollten nicht zu viel mit dem Internet behelligt werden) im Buch vorkommt, geht es nahtlos über zu einer Kritik, die das Internet als allgemeine Verdummungsmaschine bezeichnet und ein sehr düsteres Bild malt, was die Intelligenz der Menschen angeht, die das Internet nutzen. Was nicht nur in Bezug auf das aktuelle Buch auffällt, ist, dass die Gegenschlagzeilen, die das Internet als Lernmaschine, als Intelligenzförderungsmaschine oder gar als Lebensretter ansehen, spärlich gesät sind. Dabei wären etliche Thesen, die stets dazu dienen, das Internet und/oder Telekommunikation im allgemeinen zu verdammen, durch mehr solche Schlagzeilen durchaus widerlegt.

Das Internet verhindert Begegnung

Da die Menschen zunehmend vor dem Computer sitzen, so lautet eine These, kommt es zu keiner Begegnung, zu keinem Austausch von Ansichten, Gedanken und Meinungen. Diese These überhöht die Begegnung vor Ort und stellt sie auf ein Podest, während die "virtuelle" Begegnung als unpersönlich und somit als weniger wertvoll bis wertlos angesehen wird. Hierbei wird nicht nur die Qualität des jeweiligen Austauschs ignoriert - es entfällt auch der Aspekt der Möglichkeit der Begegnung.

Nicht nur für bettlägrige oder anderweitig in ihrer Mobilität beschränkte Menschen bietet das Internet (verkürzt für die Möglichkeiten der Telekommunikation allgemein) erst die Chance, auch weiter entfernte Menschen (bzw. Menschen, die sie bisher noch nicht kennen) zu erreichen. Da die Begegnung vor Ort immer auch bedeutet, dass beide Menschen am selben Ort sein müssen, ist diese insbesondere in Zeiten von Flexibilität und Mobilität nicht immer machbar. Finanzielle, zeitliche und familiäre sowie berufliche Widerstände stehen da häufig im Weg.

Hinzu kommt, dass die Telekommunikation, die oft ohne Realnamen und Fotos auskommt, es möglich macht, in einen Dialog zu treten, ohne dass der Name und/oder das Aussehen bereits im Vorfeld zu Ressentiments oder gar zur Dialogverweigerung führen. Sowohl Prominente, die einmal ohne den Promibonus diskutieren und kommunizieren möchten, wie auch Personen, deren Aussehen andere Menschen verstören könnte, nutzen diese Möglichkeiten.

Das Internet macht einsam

Zusammen mit der "Keine-Begegnung"-These wird gerne davon gesprochen, dass das Internet einsam mache. Menschen würden zunehmend vor dem Computer sitzen und auf reale Begegnungen verzichten und den Dialog per se nicht mehr suchen. So führe das Internet dann zu Einsamkeit und zum "typischen Nerddasein", welches auch noch mit ungesunder Ernährung und Lebensführung verbunden sei.

Auch hier wird gleich in mehrerlei Hinsicht das Internet als Pauschalkampfbegriff genutzt - und es werden Menschen, die das Internet passiv nutzen, um zum Zwecke der Masturbation Pornografieseiten aufzurufen oder sich (selten gewordenen) reinen Klickspielen wie Moorhuhn hinzugeben, mit Menschen, die es beispielsweise beruflich nutzen, in einen Topf geworfen. Wird die These zerpflückt, so bleibt letztendlich nur die Feststellung, dass eine exzessive ausschließliche Nutzung des Internets zu Zwecken, die mit Austausch und Kommunikation nichts zu tun haben, zu Einsamkeit führen kann - was sich jedoch weitaus weniger dramatisch anhört.

"'Ich glaube, dass du damals wegen einer Internetsucht nicht zur Schule gegangen bist, du kannst doch nicht die ganze Schuld auf Herrn [Lehrer] H. schieben.' [Worte der Mutter]

Vielleicht seht ihr nach meiner langen Erklärung, warum mich das getroffen hat. Es stellt nicht nur das infrage, was mein bisher größtes Leid ausgelöst hat, es verteidigt nicht nur die Person, die dafür verantwortlich ist, es schiebt die Schuld dafür sogar noch darauf, was mir in dieser Zeit am meisten geholfen hat. Mehr als meine Eltern. Mehr als meine Mutter [...]

Das Internet, beziehungsweise die Leute, die mich damals aus dem größten Tief gezogen haben. Denen ich - vielleicht - mein Leben verdanke."

  • Einsamkeit als Anfang oder Ende Die These, das Internet mache einsam, geht stets von Einsamkeit als Endzustand aus. Und sie lässt außer Acht, dass das Internet genug Möglichkeiten bietet, der Einsamkeit, die im realen Leben bereits besteht, zu entfliehen. Hiermit sind nicht die Möglichkeiten des Wanderns in virtuellen Welten gemeint, vielmehr geht es darum, dass Menschen, die bereits einsam sind, durch das Internet eine Chance haben, online Kontakte herzustellen, an denen es im Realleben mangelt. Hierfür gibt es viele Gründe – fehlende Mobilität beispielsweise, wie bereits unter dem Aspekt "Begegnung" kurz angemerkt. Gerade auch Menschen, die eine lange Zeit im Bett verbringen müssen (gleichgültig ob zuhause oder im Krankenhaus) sind für die Möglichkeiten der Telekommunikation dankbar und nutzen sie, um mit anderen in Kontakt zu treten, die z. B. ähnliche Krankheiten haben oder ähnliche Unfälle hatten. Die Einsamkeit, die oft durch die Krankheit beziehungsweise die Zeit nach dem Unfall entsteht, kann so durchbrochen werden. Selbsthilfegruppen im Netz funktionieren ähnlich wie im realen Leben, bieten jedoch zusätzlich zur Anonymität auch die Chance, sich ohne Scham zu äußern und mit einem Mausklick wieder zu verschwinden, wenn es zu schwer wird. Gerade wenn jemand erst beginnt, für Probleme Lösungen zu suchen, die ihm peinlich sind, ist dies eine wichtige Möglichkeit, die im realen Leben schon durch den Aspekt, dass man sich real zeigen muss, nicht gegeben ist.
  • Einsamkeit innerhalb der Öffentlichkeit Bedingt durch Behinderungen gibt es viele Menschen, die selbst inmitten von Menschenansammlungen einsam sind, die zwar die Öffentlichkeit suchen, aber von dem, was als "normales Leben" gilt, abgeschottet sind. Gerade diejenigen, die an sogenannten unsichtbaren Behinderungen leiden ziehen sich oft wegen der Ignoranz der sie umgebenden Bevölkerung zurück. Als Beispiel seien hier Hörbehinderte genannt, die oftmals in Unkenntnis ihrer Behinderung als dumm oder unhöflich angesehen werden, da sie z. B. auf Ansprache nicht reagieren und bei Gesprächen manches nicht sofort verstehen. Für den Betroffenen, der sich insofern mit einem alle zwei bis drei Minuten wiederholten "Ich bin hörbehindert, bitte achte auf Folgendes, wenn du mit mir weggehst ..." abfinden, ist oft der Rückzug ins Private die einzige Möglichkeit, sich von dem Ausgestoßensein zu erholen. Auch hier führt die bereits vorhandene Einsamkeit zum Internet als Hilfe. Nicht nur die angesprochenen Selbsthilfegruppen sind ein Ausweg, auch die Tatsache, dass Email und Chat ohne Hörfähigkeit auskommen und dennoch eine schnelle Kommunikation gewährleisten, ist hilfreich. Informationen können in kurzer Zeit ausgetauscht werden, ohne dass ein Gefühl des Ausgegrenztseins aufkommt.
  • Hilfe durch Fremde In einem sehr persönlichen Text schreibt der ws_pirat, wie er in der Schule durch einen Lehrer gedemütigt wurde und wie sich dies auf sein Leben auswirkte, wie er Trost und Unterstützung nicht durch seine Eltern, Mitschüler oder andere Lehrer erfuhr, sondern von Menschen, die er durch das Internet kennenlernte. Er schreibt auch, wie seine Mutter seine Beschäftigung mit dem Internet und den Onlinespielen dort als Problem ansah und gerade das, was ihrem Sohn half, als Quelle des Übels deutete, während sie der eigentlichen Ursache gegenüber weiterhin ignorant blieb: Doch nicht nur Mobbingopfer suchen den Kontakt zu Gleichgesinnten im Internet. Die vielen Foren, die Themen aller Art behandeln (und in denen sich die bereits angesprochenen Selbsthilfegruppen finden lassen) dienen auch Menschen mit Suizidgedanken als Ausweg. Anders als von der Politik und den Medien kolportiert, sind diese Foren nicht voller Menschen, die sich zum gemeinsamen Suizid verabreden, vielmehr sind sie mehrheitlich Anlaufstelle für jene, die nicht wissen, mit wem sie überhaupt über suizidale Tendenzen sprechen sollen. Eltern geraten oft sofort in Panik, gleiches gilt für Partner oder Freunde; dann wird sofort der Gang zum Therapeuten angeraten, statt sich mit den Hintergründen zu befassen und das Thema nicht nur auf ein "der will sich töten" zu reduzieren. Gerade Selbstmordgedanken bieten ein breites Spektrum von Ansatzpunkten dafür, welche Probleme jemand derzeit oder bereits seit Langem hat – die Art und Weise, wie er aus dem Leben treten möchte (bzw. wovon er fantasiert, denn oftmals sind solche Gedanken auch nur Fantasien, die nicht umgesetzt werden sollen), wer sich am Grab einfindet, wer evtl. mit ihm stirbt, lässt viele Probleme offenbar werden, die sonst nicht angesprochen werden. Doch selten nimmt sich jemand Zeit dafür, mit dem Betroffenen zu reden, weshalb dieser letztendlich Hilfe eher bei ihm Unbekannten findet, die nicht sofort Polizei oder Krankenwagen benachrichtigen oder ihn gar verspotten bzw. seine Fantasien mit einem "reiß dich zusammen" abhandeln. Auch hier kann das Internet mit seinen Möglichkeiten der anonymen Kommunikation ein Segen für die Betroffenen sein.

Das Internet wird unser Untergang sein

Der Alarmismus, der in Bezug auf das Internet an den Tag gelegt wird, zeigt, dass "Das Internet" bisher von jenen, die es verteufeln, nicht verstanden wurde. Mal ist die Rede von Foren, mal von Chats, mal von Facebook und Co., ohne dass überhaupt differenziert wird. Auch wird nicht überlegt, dass es nicht den Internetnutzer gibt, sondern eine Vielzahl von Menschen mit den verschiedensten Gründen für die Nutzung von Telekommunikation. Es ist zynisch, gerade diejenigen, die versuchen, mittels Telekommunikation einer Einsamkeit zu entgehen, als Zeichen dafür zu sehen, dass Telekommunikation einsam macht. Die Verteufelung des Mediums spiegelt deshalb das wieder, was im Blogbeitrag des ws_pirat zu lesen war: Nicht mehr die Menschen, die andere einsam werden lassen, sind das Problem, sondern "das Internet".

Teil 2: Infos auf Knopfdruck lassen uns verdummen