Der Bourne Übermensch

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Neugeborener im Überlebenskampf: "Das Bourne-Vermächtnis" ist klassischer als seine Vorgänger

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Es war kein anderer als der republikanische US-Präsident Dwight D. Eisenhower, der einst, in seiner lesenswerten "Farewell-Adress", zum Ende seiner Präsidentschaft 1961, vor dem "militärisch-industriellen Komplex" gewarnt hat. Dieser in allen seinen Konsequenzen spielt die Hauptrolle in Das Bourne Vermächtnis, von jenem anderen, dem filmindustriellen, auch ein bisschen militärischen Komplex, einmal abgesehen. Ein neuer Hauptdarsteller, ein neuer Regisseur, neue Ideen - alles steht auf Anfang beim vierten "Bourne"-Film. Im Zentrum findet man wieder geheime CIA-Agenten, gehirngewaschene Kampfmaschinen und "Manchurian Candidates" wie es Bourne einst war, nur noch geheimer und noch gefährlicher. Und: Ohne Identität geht's auch.

"Das Bourne Vermächtnis" (i.O: "The Bourne Legacy") beginnt mit einem Mann unter Wasser. Er ist fast nackt, die Kamera nimmt ihn von unten auf und zeigt das Tageslicht über ihm. Er wirkt wie ein Fötus im Fruchtwasser, bereit durch die Oberfläche hinaus ans Licht zu treten, geboren zu werden...

Das erinnert und soll erinnern an jene Szene vor zehn Jahren, als Jason Bourne an die Küste des Nordatkantik geschwemmt wurde. Ein Neubeginn auch hier, wieder einmal; Bourne Reloaded. Ausgangspunkt dieses neuen Films ist allerdings ein späterer Zeitpunkt, etwa der gleiche, an dem einst der zweite Bourne-Film, "The Bourne Supremacy" (Die Bourne Verschwörung), einsetzte. Es gibt Wechselbeziehungen und Berührungspunkte zwischen beiden Filmen, insofern ist dies kein Sequel und schon gar kein Prequel, sondern ein Parallel.

Im dritten "Bourne"-Film, "The Bourne Ultimatum", war ein Journalist des britischen "Guardian" dem bösen CIA-Programm auf die Spur gekommen, und kurzerhand über den Haufen geschossen worden. Dies hatte einen Skandal zur Folge und Muffensausen bei der CIA: Die Verantwortlichen beschließen, die entsprechenden eigenen Agenten zu eliminieren ("to burn the program to the ground"). Einer von ihnen ist Aaron Cross (Jeremy Renner). Cross kommt der Absicht auf die Schliche, flieht mithilfe der ob ihrer Rolle als Biomanipulatorin von Schuldgefühlen getriebenen Ärztin Marta Shearing (Rachel Weisz) und wird nun gejagt...

Der Spion der aus der Kälte kam: Von Alaska nach Manila

Wir begegnen Cross zunächst in Alaska. Deutlich zu kühl angezogen, fast nackt, fast wie oben beschrieben neugeboren, kämpft er dort mit Wölfen, badet in Eiswasser, taucht, klettert über Felsen, lebt in einer Höhle, macht Feuer - ein existentieller Zustand, in der der homo sapiens wieder zum Höhlenmenschen zurückgeführt wird, zum Halbaffen. Für uns "ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham", wie Nietzsche schrieb. Und so, mehr schmerzliche Scham als Gelächter, wird auch der Mensch für diesen Mr.Cross sein, wenn er erst einmal herausgefunden haben wird, wer er wirklich ist: ein Übermensch nämlich.

Identitätssuche auch hier - wer bin ich? Diese moderne Krankheit, die vielleicht die universale, anthropologisch erzwungene des Menschen ist (der Mensch sei das "Mängelwesen" schrieb Gehlen; wie wenn sein Mangel der des Wissens um sich sebst wäre?), sein moralischer Imperativ: "Werde der Du bist!", um diese Aufforderung des Sokrates zu erfüllen, muss man, so will es die allgemeine Ansicht, erst einmal wissen, wer man ist. Und so geht sie los, die Selbstzermarterung, die Suche nach Außen, dann nach Innen, die Psycho-Analyse, die Aufwertung des Ichs, dann des Es, und alles mündet schließlich in die Selbst-Verwirklichung, zu der es meistens nie kommt, weil die Reise dahin zu lang war und zu erschöpfend. Bourne hat nach drei Folgen kapituliert, doch er hat das Ziel nie infrage gestellt.

Wie aber, wenn genau das zu tun wäre? Wie aber, wenn es nicht um Selbst-Findung und Selbst-Verwirklichung ginge, sondern um Selbst-Bestimmung? Nicht um Blutsverwandschaft, sondern um Wahlverwandschaft, auch im Individuellen? Aaron Cross beginnt in "Bourne Vermächtnis" diesen Weg zu gehen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass er von ihm wieder abkommen wird in den nächsten Folgen, aber erst einmal schlägt er ihn ein.

Essentieller Bestandteil dieses Weges sind Drogen. Blaue und grüne Tabletten, die eine zur Steigerung der Physis, die andere für Psyche und Intelligenz. Direkt nach den zwei Olympiaden von London, und noch während die Suppe des Fall Armstrong vor sich hin blubbert, ist das eine erfrischend andere Sicht auf die Dinge. In Stichworten: Drogen und Doping als Mittel der Befreiung, der Selbststeigerung. Selbstdesign als Ausweg aus der verwalteten Welt. Warum eigentlich nicht? Natürlich wird man jetzt einwenden, das Drogen und Doping im Film zunächst einmal Mittel der Gefangenschaft, der Gehirnwäsche und der Versklavung sind.

Aber so einfach ist es eben nicht: Wir sehen eine positive und "starke" Figur, die "drogenabhängig" ist, und deren Stärke in dieser Abhängigkeit ruht. Vor allem: Im Laufe des Film erfährt Croos mehr über seine wahre Identität: Tatsächlich ist er Kenneth J. Kitsom, ein Gefreiter (PFC ) der U.S. Army, der offiziell im Irakkrieg für tot erklärt worden war. Sein IQ war unterdurchschnittlich und wurde erst durch den chemischen Cocktail der Biomanipulatoren auf Hochtouren gebracht. Jetzt fürchtet Cross, nach Absetzen der Drogen wieder auf das alte Deppenniveau zurückzufallen. Vielleicht ist diese positive Sicht auf Drogen und Doping das progressivste Element dieses interessanten Mainstream-Films.

Unfreiheit ist der Preis der Sicherheit, Unsicherheit ist der Preis der Freiheit

Im Licht der letzten zehn Jahre entfaltet die legendäre Fernsehserie "Auf der Flucht" eine unverhoffte prophetische Kraft. Es wird immer wärmer werden um Cross, nicht nur, weil ihn Rachel Weisz begleitet, und nicht nur, weil die Filmemacher so klug sind, ihren Figuren (und uns) die Realisierung einer Liebesbeziehung zu ersparen, obwohl die natürlich im Raum steht. Es wird auch wärmer, weil dieser Spion, der aus der Kälte kam, schließlich über Chicago nach Manila kommt und erst hier Trost findet. Er reist durch das moderne Universum aus allgegenwärtiger Biometrik, Überwachungstechnik, Genmanipulation und Waffentechnologie, durch unsere Welt also, und es hat eine tiefe Logik, dass er im Süden und in Asien sein Refugium findet, weg von Amerika, weg von Europa.

Unfreiheit ist der Preis der Sicherheit und wenn man Pech hat, dann wird man halt zum Kollateralopfer um der höheren Sache willen - das ist Aaron und Marta passiert, darum müssen sie in den Süden. Auch dort hat die Krake CIA/militärisch-industrieller Komplex ihre Fangarme, aber, das erzählt dieser Film, man kann ihnen auf den Philippinen noch entkommen. Unsicherheit ist der Preis der Freiheit, und wenn man Pech hat, kann man auch hier an die Falschen geraten. Aber mit Glück kann man durchs Netz schlüpfen, und auf einem chinesischen Boot in den Sonnenuntergang fahren. Es ist nämlich alles eine Frage der Perspektive. Im Westen (und im Norden) liegt von den Philippinen aus betrachtet nämlich China.

Das wahre Vermächtnis Bournes: Der zynische Blick auf die Welt

Vor zehn Jahren wurde Jason Bourne an der Küste des Nordatkantik angeschwemmt, zum zweiten Mal, denn "The Bourne Identity" (Die Bourne Identität) war seinerzeit das Remake einer älteren Verfilmung von Robert Ludlums gleichnamigem Roman. Mit diesen Anfängen hatten schon die Fortsetzungen nichts mehr zu tun. Aber Ludlums Prämisse - ein Mann, der per Gehirnwäsche zur CIA-Kampfmaschine ausgebildet wurde, rast auf der Suche nach seiner verlorenen Identität und den schmutzigen Geheimnissen seiner Vergangenheit durch Europa, dabei gejagt von seinen Ex-Kollegen wie seinen Ex-Feinden - trug auch in unseren viel komplizierteren Zeiten, zumal sich unser schöner demokratischer Westen im "Krieg gegen den Terror" dermaßen kompromittierte, dass man ihm fast alles zutraute.

Die "Bourne"-Filme wirkten immer auf sonderbare Weise entleert. Das lag vielleicht an ihrem identitätslosen Helden, der mit Matt Damon auch von einem eher blassen Antihelden-Typ dargestellt wurde. Es lag vielleicht auch daran, dass der Film den modischen Stil der "Nuller-Jahre" auf die Spitze trieb, in denen jüngere Action-Regisseure ihre Filme durch Tempo und Formalismus um all jene Widerständigkeit Subversion beraubten, die eigentlich den Reiz des Genres auch da noch ausmachen, wo es durch seine Gewaltverherrlichung reaktionär wird.

Die Antihelden-Figur und der zynische Blick auf die Welt ist das wahre "Bourne Vermächtnis". Hier kämpft nicht mehr Gut gegen Böse, West gegen Ost, sondern das Individuum gegen den Staat und "das System". Cross, der neugeborene Bourne, ist auch ein Wutbürger, ein Empörter und seine Mitstreiterin, die Ärztin erst recht.

Ist es wirklich Zufall, dass der Held Cross heißt? Wie das Kreuz Christi. An die Bibel erinnert auch sein Vorname: Aaron war bekanntlich der ältere Bruder des Moses und sein Rivale. Und bei Cross kann man auch an das Verb "to cross" denken: durchbrechen oder kreuzen bedeutet das, im übertragenen Sinn auch: Jemandem in die Quere kommen.

Was erzählt uns der Film über Hollywood? Die Liebe Hollywoods zum kostenfreundlichen Franchiseing und zur Fortsetzung erfolgreicher Reihen geht inzwischen so weit, dass sie auch den Tod der Hauptfigur überstehen: "Bourne" bleibt "Bourne", selbst wenn Bourne gar nicht mehr im Film auftaucht. "Bourne" ist ein Label geworden für jenen Typ des Actionfilms, in dem die Story in Schnittgewittern derart zerhäckselt wurde, dass dem Zuschauer jede Chance auf Orientierung und Raumgefühl genommen war. Der Vorteil des "Hineingezogenwerdens" wurde dabei erkauft mit Verlust an Überblick. Im Nachhinein fühlte man sich oft wie durch den Schleudergang gezogen. Mit diesem Prinzip bricht nun Regisseur Tony Gilroy deutlich. Gilroy war Drehbuchautor der ersten Bourne-Filme, daher kennt er sich mit dem Stoff und dem speziellen Bourne-Ton aus.

Aber er ist auch Regisseur von "Michael Clayton" und "Duplicity", zwei großartigen Politthrillern, die zum Besten gehören, was das US-Kino in den zehn Jahren seit 9/11 hervorgebracht hat. Schaut man sich alles einmal daraufhin an, sind Verwandschaften unübersehbar: Die Motive Paranoia, Identitätssuche, die Spannung zwischen subjektiver und öffentlicher Sicht der Dinge....Gilroy inszeniert sorgfältiger und klassischer. Statt Wackelbilder gibt es präzise Martial-Arts-Kamerabewegungen und deutlich mehr Klarheit.

Manager des Todes

Gilroy gelingt es also in diesem Film einen neuen Helden zu etablieren, und sein Film hat das Zeug, zum Ausgangspunkt einer neuen Film-Serie zu werden. Während Riemer das Zeug zum Action-Star hat, ist die beste Figur in diesem Film aber Edward Norton als CIA-Schurke Eric Byer, der Cross aufspüren und töten soll.

Diese Figur ist ein großartiger Manager des Todes, ein Mann, für den das Killen ein bürokratischer Akt ist, und dem das Drehbuch Sätze schenkt wie: "We are the sin eaters. What we do is morally indefensible and absolutely necessary." (Sinngemäß: "Diese Tat ist moralisch völlig verwerflich und absolut notwendig.") So gelingt Gilroy ein nicht nur spannender, sondern tiefsinniger Spionage-Thriller, der uns etwas über uns selbst und unsere Zeit erzählt, ein Film, der den kühlen Agenten-Nahaufnahmen von Graham Greene und John le Carré viel näher steht als den Herzschlag-Bildern von "24" - dies alles lohnt insgesamt den Besuch, selbst dann, wenn man sich für Matt Damons "Bourne" nur lau erwärmen konnte.

"Das Bourne Vermächtnis" hat Energy und Drive. Jeremy Renner ist besser als Matt Damon, der immer wie ein ausgerissener Pfadfinder wirkt. Der Film gibt der "Bourne"-Franchise einen neuen Sinn, und erklärt uns zugleich, wo wir stehen: Es geht nicht mehr um Identität, sondern es geht ums Überleben. Das der Franchise, das des Helden, und natürlich unser eigenes.