"Die Kassenärzte jammern auf sehr hohem Niveau"

Wulf Dietrich, der Vorsitzende des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte" (VDÄÄ), über Bedarfsplanung im Gesundheitssystem, verfehlte Protestaktionen und das kommende Krankenhaussterben

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Professor Dietrich, Sie sind Vorsitzender des Vereins Demokratischer Ärztinnen und Ärzte. Als solcher müssten Sie doch eigentlich die Interessen Ihrer Kollegen vertreten. Warum sind Sie gegen die angekündigten Praxisschließungen?

Wulf Dietrich: Diese Arbeitsverweigerung ist völlig inakzeptabel. Die Ärzte sollten statt ihrem Einkommen zuerst das Wohl der Patienten im Sinn haben. Man darf den Konflikt nicht auf deren Rücken austragen.

Viele Kassenärzte klagen aber, ihre Arbeitsbedingungen hätten sich deutlich verschlechtert. Stimmt das denn nicht?

Wulf Dietrich: Die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) hat gerade einen Bericht über die Umsätze und Einnahmen im letzten Jahr herausgebracht. selbst nach diesen Zahlen sind die Einnahmen um 3,8 Prozent gestiegen. Die Kassenärzte jammern auf sehr hohem Niveau. Sie verdienen immer noch zwischen 80.000 bis 200.000 Euro mit Kassenleistungen, dazu kommen dann noch Zahlungen von Privatpatienten und die Individuellen Gesundheitsleistungen (IgeL).

Der Hintergrund ist der: Mit der letzten Gesundheitsreform 2009 wurden allen Akteuren im System Einkommenseinbußen abverlangt – den Ärzte, den Krankenhäusern, Apothekern und der Pharmaindustrie. Es wurde beschlossen, den sogenannten Orientierungswert für Krankenhäuser und Ärzte bis 2012 nicht zu erhöhen und die Apotheker mussten Rabatte einräumen. Jetzt meinen die Kassenärzte, sie hätten ein Recht auf das, was ihnen in den vergangenen drei Jahren entgangen ist. Der unabhängige Vorsitzende des Bewertungsausschuss Jürgen Wasem sagt dagegen, diese Einkommenseinbußen seien ein angemessener Beitrag, um das Gesundheitssystem zu stabilisieren, und scheinbar unterstützt auch der Gesundheitsminister Daniel Bahr diese Position.

Nun haben die Krankenkassen ja unerwartet tatsächlich einen Überschuss zur Verfügung, den man verteilen könnte.

Wulf Dietrich: Ja, aber die Gefahr besteht, dass dieses Beispiel Schule macht. Die Krankenhäuser und die Apotheker könnten mit dem gleichen Recht einen Ausgleich für die entgangenen Einnahmen fordern.

Es sollte eine Angleichung der Einkommen zwischen den Ärzten stattfinden

Bei der Abstimmung haben sich immerhin 75 Prozent für "Streikmaßnahmen" ausgesprochen - zeigt das nicht, wie groß der Unmut unter den Ärzten ist?

Wulf Dietrich: Sie müssen sehen, es wurden nur Fachärzte gefragt, Hausärzte beispielsweise nicht. Es ist eine relative kleine Gruppe der niedergelassenen Ärzteschaft, die jetzt mit Praxisschließungen droht. Gewerkschaften wie die IG Metall kommen bei Urabstimmungen auf 95 Prozent, wenn es um einen Streik geht

Wie groß sind die Einkommensunterschiede zwischen den verschiedenen Arztgruppen?

Wulf Dietrich: Es gibt sehr große Unterschiede. Psychotherapeuten beispielsweise verdienen vergleichsweise wenig. Hier sollte eine Angleichung zwischen den Ärzten stattfinden. Wir als Demokratische Ärzte halten das ganze bisherige Vergütungssystem für verkehrt. Man versucht jeden Handgriff mit Cent und Euro zu bewerten.

Die KBV hat Anfang des Monats überraschend die Verhandlung mit den Krankenkassen abgebrochen. Es gebe kein geteiltes Selbstverständnis mehr mit den Krankenkassen. Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

Wulf Dietrich: Das ist nicht zu akzeptieren. Der Ablauf ist gesetzlich vorgeschrieben: Bis zum November müssen drei Vertreter der Ärzteschaft und drei Vertreter des Spitzenverbandes der deutschen Krankenkassen den sogenannten Orientierungswert für das nächste Jahr festgelegen. Wenn sie sich nicht einigen können, kommt es zu einer Schlichtung durch den unabhängigen Vorsitzenden. Als der Schlichter sich dieses Jahr auf die Seite der Kassen gestellt hat, haben die Ärzte die Gespräche abgebrochen – mitten in den Verhandlungen! Die 270 Millionen, die festgelegt wurden, sind ja erst der Anfang. Die Verhandlungen laufen in drei Stufen ab: Der Orientierungswert ist sozusagen nur die Währung, mit der die Leistungen der Ärzte bewertet werden. In der zweiten Stufe wird dann die "Morbiditätsbedingte Gesamtvergütung" festgelegt, je nach Menge und Schwere der behandelten Krankheiten. Und erst danach finden auf regionaler Ebene zwischen den einzelnen Kassenärztlichen Vereinigungen die endgültigen Verhandlungen statt.

Warum haben die Vertreter der Ärzteschaft die Verhandlungen so abrupt abgebrochen?

Wulf Dietrich: Das ist schwer zu verstehen. Ich vermute, man will Stimmung für die kommenden Verhandlungen am Samstag zu machen. Man will die Kassen mit viel Geschrei unter Druck setzen, damit man in der nächsten Verhandlungsstufe, wenn es um die morbiditätsbedingte Vergütung geht, mehr herausschlagen kann. Die KBV argumentiert, dass Inflation und Praxisunkosten gestiegen sind. Ich kritisiere wohlgemerkt nicht die Höhe der Forderungen, das kann ich nicht beurteilen. Die Art und Weise der Auseinandersetzung ist nicht in Ordnung.

Die Ärzte vergreifen sich völlig im Ton

"Streiken" tun bekanntlich abhängig Beschäftigte. Sie weisen darauf hin, dass die Ärzte ansonsten ihre Selbstständigkeit als Freiberufler betonen. Nun sehen sie sich in einem "Arbeitskampf gegen die Kassen".

Wulf Dietrich: Das ist unsinnig. Die Ärzte sind keine Angestellten der Kassen und verweisen ja selbst bei jeder Gelegenheit auf ihre Selbstverwaltung. Frank Montgomery, der Vizepräsident der Bundesärztekammer, betont das immer wieder. Als der Bundesgerichtshof den niedergelassenen Ärzten die Annahme von Geschenken der Pharmaindustrie sozusagen erlaubt hat, hat er dieses skandalöse Urteil mit eben dieser Begründung begrüßt. Jetzt wollen die Ärzte streiken und rufen nach dem Staat!

Der Umgangston zwischen Kassen und Ärzten ist ungewohnt roh. Die Allianz deutscher Ärzteverbände hat unter dem Motto "Operation Shitstorm" zu einer Fax-Kampagne aufgerufen, um die Arbeit der Krankenkassen lahmzulegen. Man klagt vor Gericht, man spricht von einer Kriegserklärung. Wie ist diese Eskalation eigentlich zu erklären?

Wulf Dietrich: Das ist eine Wagenburgmentalität und die Polemik unerträglich. Während einer KBV-Versammlung am 1. September in Berlin wurde von einer "Machtfrage" und einer "Kassenräterepublik mit Spitzelmentalität" gesprochen. Die Ärzte vergreifen sich völlig im Ton. Es ist übrigens falsch, in diesem Zusammenhang von "der Ärzteschaft" zu sprechen. Montgomery spricht für weniger als die Hälfte der deutschen Ärzte. Selbst unter den Kassenärzten unterstützen die Hausärzte und Kinderärzte diese Kampagne nicht.

Seit 2006 kommt es deutlich häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen Ärzten und Kassen. Warum?

Wulf Dietrich: Die rosigen Zeiten sind eben vorbei, auch für die Ärzteschaft. Es kann nicht eine Berufsgruppe weiter machen wie bisher, wenn 20 Prozent der deutschen Bevölkerung inzwischen armutsgefährdet sind.

Um zu überleben, müssen Krankenhäuser ihre Fallzahlen vermehren

Die Budgets der Krankenhäuser und auch in einigen ambulanten Bereichen sind "gedeckelt". Ist Ihrer Meinung nach das deutsche Gesundheitssystem denn nicht unterfinanziert?

Wulf Dietrich: Es ist genug Geld da, es wird nur zu einem großen Teil an den falschen Stellen ausgegeben. Wir müssen schauen, wo es Überversorgung gibt und unnötige Behandlungen, gerade beim Einsatz von Medizintechnik. Schauen Sie sich München an, wo ich lebe! Hier gibt es beispielsweise extrem viele Herzkatheder-Operationen und MRT–Untersuchungen. In dieser Stadt werden so viele Herzkatheder gelegt wie in ganz Norditalien. Auf dem Land dagegen ist die Versorgung teilweise wirklich schlecht.

Die Fehl- und Überversorgung ist das Ergebnis davon, dass die medizinische Versorgung rein finanziell gesteuert ist. Wir haben in München einfach zu viele niedergelassene Ärzte. Viele von ihnen haben am Anfang hohe Schulden und müssen zusehen, dass sie ihre Ausgaben wieder rein bekommen. Wer 100.000 Euro oder mehr in die Kassenärztliche Zulassung, die Praxis und Geräte investiert, muss diese Geräte auch einsetzen, damit sie sich amortisieren. Es wäre viel vernünftiger, kleinräumig eine Bedarfssteuerung einzuführen: Wie viele Herzkathederplätze brauchen wir wirklich?

Der Präsident der Berliner Ärztekammer, Günther Jonitz, sagte kürzlich: "Ein Krankenhaus gefährdet seine Existenz heute stärker, wenn es schlechte wirtschaftliche Leistungen erbringt, als wenn es schlechte Medizin macht." Im letzten Jahrzehnt wurde massiv Personal in den Kliniken abgebaut, es gab eine rasante Kommerzialisierung. Hier scheint es keine Überversorgung zu geben.

Wulf Dietrich: Es wurde tatsächlich viel Klinikpersonal abgebaut, vor allem in der Pflege. Auf der anderen Seite sind die Fallzahlen stark gestiegen. Das liegt daran, dass mit der Einführung der Fallpauschalen die Anreize falsch gesetzt wurden. Wenn die Münchner Kliniken sagen würden: "Wir haben 20 Prozent zu viele Betten und bauen die ab", dann würden sie rasant pleite gehen. Um zu überleben, müssen Krankenhäuser ihre Fallzahlen vermehren, das liegt einfach an dem Vergütungssystem. Sie müssen immer mehr machen, um finanziell über die Runden zu kommen.

Etwa jedem sechsten Krankenhaus in Deutschland droht laut einer Studie des RKI die Insolvenz. Steht Deutschland ein großes Krankenhaussterben bevor?

Wulf Dietrich: Es werden Krankenhäuser schließen, aber unabhängig davon, ob sie gebraucht werden oder nicht. Auf der anderen Seite kann es sein, dass Überkapazitäten, die es tatsächlich gibt, nicht abgebaut werden. Das ist einfach das Ergebnis eines Verdrängungswettbewerbs.

Mit der Reform von 2003, als das gegenwärtige Abrechungssystem mit Fallpauschalen eingeführt wurde, wollte man eine Spezialisierung und Konzentration erreichen. War das falsch?

Wulf Dietrich: Die Absicht war nicht ganz verkehrt, wir haben im Vergleich mit anderen europäischen Ländern sehr viele Krankenhausbetten pro Kopf. Aber eine Klinik auf dem flachen Land kann nicht so wirtschaftlich arbeiten wie eine Klinik in einer dicht besiedelten Gegend. In der Gynäkologie beispielsweise hat das Krankenhaus in der Provinz höhere "Vorhaltungskosten", also Ausgaben für die notwendigen Apparate, als eine Klinik in einer Stadt, wo es viele werdende Mütter gibt. Aber beide Häuser bekommen die gleiche Summe. Wenn Krankenhäuser schließen, wird die Versorgung sich nicht danach richten, was die Bevölkerung braucht. Auch hier müssten wir uns am Bedarf orientieren.

Private Träger wie Helios oder die Rhön-Kliniken spielen eine immer größere Rolle bei der Versorgung. Wird diese Tendenz weiter gehen?

Wulf Dietrich: Ich glaube, dieser Trend erlahmt gerade. Jeder Kuchen hat nur ein bisschen Sahne oben drauf und die privaten Träger sind nur an der Sahne interessiert – sprich an den profitablen Teilen der Versorgung. Wenn Sie sich aussuchen können, welche medizinischen Leistungen sie anbieten, ist es einfach, gute Qualität und billige Preise anzubieten. Aber die Grundversorgung bleibt dann an den anderen hängen. In München wurde 500 Meter von der Innenstadtklinik ein neues Krankenhaus gebaut. Erfahrene Oberärzte wurden abgeworben und arbeiten jetzt dort. Die machen in ihren Spezialbereichen gute Medizin, aber keine Weiterbildung oder Ausbildung. Und wenn es schwierig wird, müssen die Patienten in die öffentliche Klinik nebenan.