Griechenland im Sparirrsinn

Sonnenuntergang in Athen. Bild: W. Aswestopoulos

Reale Politiker und reale Bürger: Eine ganz normale Woche der Eurorettung

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Während die EU-EZB-IWF Troika in Athen mit der Troika der griechischen Regierung um die neuen Sparmaßnahmen feilscht, kommen immer mehr Details ans Tageslicht, welche die Staatsfinanzkrise immer surrealer erscheinen lassen Die IWF-geführte Troika zerpflückte bei ihrem aktuellen Kontrollbesuch das von Finanzminister Yannis Stournaras vorgestellte Sparpaket (Die letzte Runde im Sparpoker. Knapp die Hälfte der Sparmaßnahmen, die von der aus drei Parteien bestehenden Regierung geplant sind, erschien den Prüfern fragwürdig. Nicht bemängelt wurden die Lohn- und Rentenkürzungen. Auf Widerspruch stieß die Absicht der Griechen, weniger für Rüstungsmaterial auszugeben als bisher. Stattdessen soll weiter bei den öffentlichen Personalkosten gespart und gleichzeitig die Privatwirtschaft im Sinn der Troika reformiert werden.

Es geht wie jedes Quartal aufs Neue mal wieder um die Zahlung einer Tranche des Rettungsschirms für das Land. Die Auszahlung der im Juni fällig gewesenen einunddreißig Milliarden Euro aus dem zweiten Hilfspaket wird immer weiter verzögert, weil die IWF-Troika stets mit neuen Forderungen aufwartet. Von dieser Tranche fließen 23,8 Milliarden sofort zu den in Griechenland operierenden Privatbanken. Diese erhalten wegen des beim Schuldensschnitt erlittenen Schadens insgesamt 50 Milliarden aus dem 130 Milliarden Euro schweren zweiten Rettungskredit.

Die leer ausgegangenen staatlichen Banken werden privatisiert. Als erste traf es die Agrotiki Bank, deren "gesunder Teil" für weniger als 95 Millionen Euro an die Piräus Bank ging. Immerhin verfügte Agrotiki über fast 75 Milliarden Euro Einlagen. Der Verkauf belastet über die verbleibende Bad Bank den Staatsetat mit knapp 155 Millionen Euro für die ersten drei Jahre und 155 Millionen Euro für jedes folgende Jahr. Ebenfalls nicht von der Tranche gesegnet wird die griechische Postbank. Bei ihr zweifelte Finanzminister Stournaras im Parlament an der Überlebensfähigkeit, was nach einem massiven Kurssturz die Börse zur Suspendierung der Bankaktie bewegte.

Weitere 4,6 Milliarden Euro der Tranche gehen sofort an Zinszahlungen für Staatsschulden, zwei Milliarden sind bereits für die Zwischenfinanzierung der verzögerten Auszahlung futsch. Mit den restlichen 1,9 Milliarden sollte die griechische Wirtschaft "angeworfen" werden. Tatsächlich werden bei Erhalt des Gelds 1,3 Milliarden Euro an private Gläubiger und Lieferanten des griechischen Staats gezahlt. Allerdings steht die Regierung bei diesen bereits mit mehr als sechs Milliarden Euro nicht bezahlten Rechnungen in der Kreide. Die restlichen 600 Millionen Euro sollen in den Staatshaushalt wandern. Schon jetzt konnten die griechischen Rentenzahlungen nur durch Abschöpfung von Rücklagen des halbstaatlichen Energieriesen DEI erfolgen.

Mittlerweile zweifelt Premierminister Antonis Samaras wieder offen am Erfolg des Troika-Plans. Der Premier, der vor wenigen Wochen beim Besuch in Berlin seine Treue zum Sparplan verkündete, meldete im Interview mit der Washington Post Bedenken an, ob sein Land nach sechs aufeinander folgenden Jahren Wirtschaftsrückgang noch drei weitere Jahre mit Rezession durchhalten kann. Samaras bat über die Presse die Kreditgeber um mehr Zeit und betonte, dass er wegen möglicher sozialer Spannungen sehr besorgt sei.

Aus Regierungskreisen sickerte am vorvergangenen Wochenende durch, dass bei fast sechs Milliarden Euro des 11,7 Milliarden Euro Sparpakets Mängel entdeckt wurden. Allerdings, so schränkten Ministeriumssprecher ein, seien "nur knapp drei Milliarden" des gesamten Pakets als mangelhaft bezeichnet worden. Bei den übrigen drei würde lediglich Klärungsbedarf bestehen. Eine Woche später ist immer noch kein neues, endgültiges Sparpaket fertig.

Vom alternativen Rettungsplan, den Premier Antonis Samaras im Wahlkampf zum Evangelium erklärte (Magier Samaras und sein drittes Rettungsprogramm), ist ebenso wenig übrig wie von den "roten Linien", welche die Juniorpartner der Regierung PASOK und DIMAR im Koalitionsvertrag festsetzen ließen. Dafür aber werden immer irrwitzigere Besteuerungsmethoden bekannt.

Samaras im Gespräch mit Staatssekretär Hans-Joachim Fuchtel. Bild: W. Aswestopoulos

Die Realität der Bürger

Demnach soll, Presseberichten zu Folge, eine Art Kopfsteuer auf Hochschuldiplome erhoben werden. Alle Einwohner des Landes wären somit dazu verpflichtet, gegenüber dem Finanzamt ihre Hochschulabschlüsse zu deklarieren. Auf dieser Basis könnte das Finanzamt Einkommensschätzungen vornehmen. Bei mehreren Studienabschlüssen würde die Steuerschätzung additiv gelten. Ein Nichtbefolgen dieser Anweisung wäre, so die präsentierte Theorie, gleichbedeutend mit einer Steuerhinterziehung.

Dass ein Hochschuldiplom nicht automatisch gleichbedeutend mit einer entsprechenden Anstellung ist, scheint den Vordenkern dieser Maßnahme ebenso entgangen zu sein, wie die Tatsache, dass die offizielle Arbeitslosenquote im ersten Halbjahr 2012 auf 23,6 Prozent angestiegen ist. 1.168.761 gemeldeten Arbeitslosen standen Ende Juni 3.793.147 Beschäftigte gegenüber. Pro Tag gesellen sich in Griechenland 1.000 Menschen zum Arbeitslosenheer hinzu, da immer mehr Unternehmen zu Massenentlassungen übergehen. 59 Prozent der Arbeitslosen erhalten keinerlei Stütze.

Als Gegenmittel dazu möchte die IWF-Troika den Arbeitsschutz weiter lockern. Künftig sollen, so geht aus einem seitens der Troika an Ministerien und Gewerkschaften verschickten Mail hervor, die vorgeschriebenen Fristen für fristgerechte Entlassungen auf acht Wochen verkürzt werden. Tariflich geregelte Abschlagszahlungen sollen erneut um die Hälfte gekürzt werden. Zusätzlich dazu soll die Fünf-Tage-Woche zugunsten einer Sechs-Tage-Woche aufgegeben werden. Um Überstundenzahlungen zu vermeiden, sollte der Gesetzgeber die als Regelfall zulässige, maximale Arbeitszeit pro Tag auf dreizehn Stunden erhöhen. Hinsichtlich der Tarifautonomie beabsichtigen die Troikaner, diese durch eine Weisungsbefugnis des Arbeitsministeriums zu ersetzen.

Der Troika und der griechischen Regierung schwebt vor, über die bereits beabsichtigten Rentenkürzungen hinaus Abschläge bei den Ruhegeldern zu machen. Darüber hinaus soll das reguläre Renteneintrittsalter auf das siebenundsechzigste Lebensjahr angehoben werden. Mit dieser Methode sollen die Sozialversicherer, die mit effektiv knapp zwölf Milliarden Euro einen Großteil des Schuldenschnitts tragen mussten, entlastet werden. Zusätzlich zum Schuldenschnitt leiden die Sozialversicherer durch die steigende Arbeitslosigkeit, die Lohnkürzungen und die Kappung der Arbeitgeberanteile unter Milliardeneinbußen bei den Beiträgen.

Kaum verständlich erscheint deshalb, dass im gleichen Atemzug die Entlassung aller über fünfzigjährigen Beamten diskutiert wird. Diese möchte man zwangsweise in den Vorruhestand versetzen und somit die Regeln der Verfassung, welche die Entlassungen von Beamten untersagt, umgehen.

Darüber hinaus sollen die Einkommen im öffentlichen Dienst erneut um bis zu 35 Prozent sinken. Die Reallöhne der Griechen sollen gemäß der Gewerkschaft GESEE bereits auf dem Niveau von 1978 sein. Die reale Arbeitslosigkeit, so die Gewerkschaft, befinde sich bei 34 Prozent und somit auf dem Stand von 1958. Das aktuelle griechische Lohngefüge entspricht der Gewerkschaft Folge dem Niveau von Kroatien und Estland.

Bei den Preisen ist das nicht so. So kostet ein Liter Heizöl ab Oktober mehr als 1,40 Euro. Schuld an der im Vergleich zu 2010 erfolgten Verdopplung des Preises sind nicht etwa die Ölmärkte. Es handelt sich schlicht um die Auswirkungen einer von der Troika verordneten Steuererhöhung in gleichem Umfang. Trotzdem beharrt die gleiche Troika darauf, dass das Handelsministerium endlich für sinkende Verbraucherpreise im Land sorgt.

Immerhin beginnen einige europäische Organisationen mittlerweile, die Maßnahmen der Troika hinsichtlich ihrer Verträglichkeit mit dem Gemeinschaftsrecht in Zweifel zu ziehen.

Die Realpolitik

Eine Griechin in Paris Vollkommen anders präsentiert sich die Realität für die Politiker. So kann die ehemalige Umweltministerin Tina Birbili in Paris das Leben genießen. Birbili vertritt nach ihrem Scheitern als Umweltministerin, 2011, ihr Land als Botschafterin bei der OECD. Mit 7.500 Euro monatlich Netto, einer zusätzlichen Zulage von 1.000 Euro für ihr Kind sowie einer mietfreien Unterkunft hat sie weit mehr Geldmittel zur Verfügung als auf ihrer Beamtenstelle im Außenministerium.

Dort hätte die promovierte Physikerin, die über eine Bekanntschaft mit Giorgos Papandreou an ihren Ministerposten gelangt war, nur knapp 1.200 Euro verdient. Birbili lernte Papandreou einer von beiden verbreiteten Legende gemäß im Gymnastikzentrum kennen. Dort ist sie täglich bis 12:30 h auch in Paris zu finden, wie die griechische Presse herausfand.

Venizelos und die Staatskarosse

Noch im letzten Jahr hatte die griechische Regierung trotz ernsthafter finanzieller Probleme zwei dicke deutsche Limousinen bestellt. Die Flagschiffe bayerischer Ingenieurkunst sind in Sonderanfertigung gegen Panzerabwehrwaffen, Autobomben und natürlich Sturmgewehre gesichert. Kostenpunkt pro Auto 750.000 Euro.

Einer davon war für Giorgos Papakonstantinou, der andere für den Bürgerschutzminister Christos Papoutsis vorgesehen. Papakonstantinou trat vom Finanzministerposten zurück, bevor er das Auto fahren konnte. Er übernahm bis zu den Wahlen im Mai 2012 Tina Birbilis Ressort. Seit der Auslieferung hat sein Nachfolger, Evangelos Venizelos, den Wagen nicht aus der Hand gegeben.

Problematisch dabei ist, dass der PASOK-Vorsitzende Venizelos nicht mehr Minister, oder Vizepremier ist. Der beleibte, ehemalige Finanzminister fühlt sich jedoch gefährdet und setzt sich nur in das dicke Mobil. Während Premier Samaras bereits zwei Regierungsjets verkaufte, um Geld in die Kassen zu spülen, sieht Venizelos offenbar keinen Anlass dazu, auf ein preiswerteres Auto umzusteigen.

Der Sozialistenchef braucht ein superteures Auto. Bild: W. Aswestopouls

Zu spät verkauft

Der Börsenwert des Lotteriemonopolisten OPAP liegt aktuell in der Größenordnung von 6 Euro pro Aktie, vor der Krise waren es 34 Euro für ein Anteilspapier. Es handelt sich um eines der gewinnträchtigsten Unternehmen des Landes. 29 Prozent der Aktien des Staats, der bisher 34 Prozent hält, stehen zum Verkauf. Das müsste mindestens 600 Millionen Euro einbringen, meint die Regierung. Man erwartete nach der Verkaufsankündigung einen Anstieg des Aktienwerts. Das Gegenteil war der Fall.

Das Gleiche gilt entsprechen für alle weiteren Verkäufe von Staatseigentum, mit denen Papandreou und Papakonstantinou vor weniger als zwei Jahren 50 Milliarden Euro erzielen wollten. Kaum jemand möchte in ein Land investieren, dem alle zwei Wochen entweder der Bankrott, der Austritt aus dem Euro oder beides prognostiziert werden und dessen Steuergesetze sich nach jeder Troika-Inspektion ändern.

Inseln kann das Land trotz Ankündigung nun doch nicht verkaufen. Erst jetzt fiel auf, dass für einen Verkauf staatlicher Inseln an Privatpersonen eine Unbedenklichkeitsentscheidung des Militärs notwendig wäre. Im Einzelfall müsste jeder Käufer ausgiebig durchleuchtet werden und zusätzlich wären dem Militär Rechte einzuräumen, die ein Eigentümer nur schwerlich übertragen würde. Dieses gesetzlich festgeschriebene Relikt soll nun mit einer Verpachtung über 50 Jahre umgangen werden.

Siemensskandal – braucht man ein Parlament?

Mit einer Zahlung 240 Millionen Euro soll der Siemens-Korruptionsskandal aus der Welt geschaffen werden. Darauf hatte sich der Konzern mit der Regierung geeinigt. Demnach würde Siemens 80 Millionen Euro gegen offene Rechnungen verrechnen, noch in diesem Jahr 100 Millionen Euro in die eigenen Unternehmen im Land investieren und mit einer weiteren Investition von 60 Millionen Euro weitere Arbeitsplätze sichern. Der entsprechende Vergleich musste, so die amtliche Verlautbarung Ende August 2012, nur noch vom Parlament ratifiziert werden.

Am Mittwoch der vergangenen Woche scheiterte gerade dies. Alexis Tsipras von der oppositionellen SYRIZA hatte zahlreiche Regierungsabgeordnete überzeugen können, gegen die Eingabe von Finanzminister Stournaras zu votieren und dies auch öffentlich anzukündigen. Die Abstimmung stand damit auf der Kippe. Der Finanzminister wollte das nicht riskieren und zog die Eingabe zurück. Er goutierte auch nicht, dass die Fraktion von Tsipras wegen der Regierungsschlappe in Jubel ausbrach. "Ich unterschreibe das ohne das Parlament", meinte er und betonte, dass er für diese Schritte keine parlamentarische Zustimmung brauche.

Angesichts der immer zahlreicher werdenden Probleme in der Regierung und ihren erschreckend niedrigen Umfragewerten denken die DIMAR und die PASOK bereits darüber nach, wie sie eine Rettung für ihre eigenen Parteien finden können. Venizelos hat in seiner PASOK mit einer starken innerparteilichen Opposition zu kämpfen. Der ehemalige Gesundheitsminister Andreas Loverdos kündigte bereits an, dass er "zu gegebener Zeit" eine eigene Bewegung ins Leben rufen werde, um einen politischen Neuanfang zu schaffen. Bis dahin, versicherte Loverdos seiner (Noch-)Partei, werde er die Regierung stützen.

Der DIMAR-Vorsitzende Fotis Kouvelis hat dagegen noch drastischere Probleme. Die von ihm in die Regierung entsandten parteinahen Experten haben bereits mit ihrem Rücktritt gedroht, falls die Sparmaßnahmen in der nun bekannten Form durchs Parlament kommen. Bereits 90 Tage nach der letzten Wahl wird offen über Neuwahlen für 2014 diskutiert. Man könnte sie ja kostensparend gemeinsam mit den Europawahlen durchführen, heißt es.

Natürlich möchten die Regierungsparteien auch das Wahlgesetz ändern, so lange sie es noch können. Der 50-Mandate-Bonus für die stärkste Partei soll schnellstmöglich abgeschafft werden, denn er würde angesichts der Umfrageentwicklung SYRIZA aller Wahrscheinlichkeit nach eine Alleinregierung ermöglichen. Eine Kabinettsumbildung direkt nach einer erfolgreichen oder misslungenen Abstimmung über den Sparkurs gilt derweil als sicher. Diese Probleme beschäftigen die Parteigremien der Koalitionspartner.

Reale Selbsthilfe

Ausgerechnet ein Geldhaus löste zumindest für seine Region das Problem der Medikamentenversorgung. Die Volksbank von Chania, international als Chaniabank bekannt, reagierte auf den Apothekerstreik. Angesichts der Weigerung der Apotheker, die aufgrund immenser Schulden der Sozialversicherer keine Kassenrezepte mehr akzeptieren und sofortige Bargeldzahlung von den Patienten verlangen, übernimmt die Bank die Medikamentenzahlung. Das soll für zwei Jahre mehr oder weniger zinslos über die Bühne gehen. Allerdings bleibt es wegen des regionalen Charakters der Bank auf Chania beschränkt.

Derartige Initiativen sind noch selten. Zumindest aber beginnen die Gewerkschaften statt für höhere Löhne auch für niedrigere Preise zu streiken. So wird am Donnerstag in der kommenden Woche, die in Athen der autofreien Mobilität gewidmet ist, kein öffentliches Verkehrsmittel fahren. Die Mitarbeiter der Verkehrsgesellschaften wehren sich gegen eine Fahrpreiserhöhung um 50 Prozent, die sie als unsozial empfinden. Es erscheint ihnen unrealistisch, dass Jugendliche und einfache Arbeiter, die auf einen Nettotageslohn von ungefähr 18 Euro kommen, allein für die Hin- und Rückfahrt zum Arbeitsplatz 3,50 Euro bezahlen sollen