Die Willensfreiheitsverwirrung: Sind Psychopathen schuldunfähig?

Wie Psychologen und Hirnforscher die Rechtsprechung verändern wollen

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Normativ fügt sich die Hirnforschung bisher zwar eher ins Recht ein, als dessen Umsturz zu bewirken. Experimente deuten aber daraufhin, dass sich die Glaubwürdigkeit wissenschaftlicher Erklärungen durch neurowissenschaftliche Informationen und Bilder beeinflussen lässt. US-Forscher versuchen, insbesondere über die Diagnose einer Psychopathie und entsprechenden Verweisen auf genetische oder neuronale Abweichungen Einfluss auf die Rechtsprechung zu nehmen.

Im ersten Teil Die Willensfreiheitsverwirrung: Über "Mein Gehirn war's" ging es um die allgemeinen Fragen, ob die Annahme eines allumfassenden Determinismus die moralische oder rechtliche Ordnung umstürzen kann und ob der Verweis auf Gehirnursachen für Straftaten frei nach dem Motto "Mein Gehirn war's" Täter entschuldigt. Dabei zeigte sich, dass es in der Kulturgeschichte der letzten 2.500 Jahre immer wieder Versuche gab, den Menschen im Spannungsfeld zwischen Natur- und Kulturwesen zu begreifen, ohne dass dies eine normative Revolution zur Folge gehabt hätte. Ferner ist es ein Irrtum, dass Gehirnursachen von Verhalten normativ einen prinzipiell anderen Status haben als psychische oder soziale Ursachen. Was vor Gericht entschuldigt sind nicht verursachte gegenüber unverursachten Verhaltensweisen, sondern das Vorliegen eines echten Entschuldigungsgrunds.

Erhöhen Gehirnbilder die Glaubwürdigkeit?

Unabhängig von dieser normativen Situation, wurden in jüngerer Zeit mehrere Untersuchungen dazu durchgeführt, wie moderne Gehirnbilder die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit von Erklärungen beeinflussen. Hierzu hatte schon 2008 die Untersuchung mit dem vielsagenden Titel "Der verführerische Reiz neurowissenschaftlicher Erklärungen" von Deena Weisberg und Kollegen von der Yale Universität in New Haven (USA) erste Hinweise geliefert. Hierfür wählten sie eine Reihe psychischer Phänomene, beispielsweise das sogenannte Aufmerksamkeitsblinzeln, die durch kurze Beschreibungen erklärt wurden. Aufmerksamkeitsblinzeln bezeichnet das Aufmerksamkeitsdefizit, dass wir nach der Präsentation eines bestimmten Zielreizes für eine Zeitspanne von mehreren Hundert Millisekunden dazu neigen, andere Zielreize zu übersehen.

Für das Experiment von Weisberg und Kollegen sollten Versuchspersonen wissenschaftliche Erklärungen von 18 solcher Phänomene beurteilen. Dafür wurden gute und schlechte – das heißt mehr oder weniger plausible – Erklärungen verwendet und diese einmal mit und einmal ohne neurowissenschaftliche Ergebnisse angereichert. Die Beschreibungen ohne blieben rein psychologisch. Die Versuchspersonen wurden zufällig in eine von zwei Gruppen gelost, die entweder nur Erklärungen mit oder ohne neurowissenschaftliche Informationen lesen und mit Blick darauf beurteilen sollten, wie zufriedenstellend sie sie fanden.

Tatsächlich entdeckten die Forscher Hinweise darauf, dass die Erklärungen durch neurowissenschaftliche Informationen für zufriedenstellender gehalten wurden – dieser Befund wurde inzwischen auch in zahlreichen populären und fachlichen Medien berichtet. Allerdings erfordert ein Blick auf die Originaldaten eine etwas differenziertere Sichtweise. Denn dieser Effekt bei drei unterschiedlichen Gruppen – 81 Laien, 22 junge Studierende aus einem Einführungskurs in die Kognitionswissenschaften und 48 Akademikern mit fortgeschrittenen neurowissenschaftlichen Kenntnissen – unterschiedlich stark ausgeprägt und auch allgemein nicht sehr groß.

Verführerische Neuro-Bilder

Am anfälligsten waren die Studierenden für den "verführerischen Reiz", denn ihre durchschnittliche Beurteilung auf einer Skala von -3 bis +3 wurde durch das Hinzufügen neurowissenschaftlicher Informationen von -0,49 auf 0,43 erhöht. Selbst bei dieser Gruppe kann man also nicht gerade von einer "Gehirnwäsche" sprechen, die zur Folge hätte, dass die Versuchspersonen einfach alles glauben, was man ihnen erzählt.

Der Unterschied war bei den Laien schon schwächer ausgeprägt und bei den Akademikern mit Fachkenntnis überhaupt nicht mehr signifikant – als die Forscher nur die Differenzen für die guten Erklärungen analysierten, fanden sie hier sogar einen signifikanten Ausschlag in die entgegengesetzte Richtung: Die guten Neuro-Erklärungen wurden von den Experten nämlich im Mittel mit -0,22 gegenüber 0,41 für die reinen Psycho-Erklärungen für weniger zufriedenstellend gehalten. Vielleicht haben diese Versuchspersonen geahnt, dass sich psychische Phänomene nicht so leicht neurowissenschaftlich erklären lassen, und daher schlechtere Bewertungen abgegeben.

Dennoch war diese Untersuchung nicht nur sehr erfolgreich dabei, öffentliche und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu erzielen, sondern hat sie sich auch schon auf die Rechtssprechung ausgewirkt. Als nämlich der bereits zuvor zu lebenslanger Haftstrafe verurteilte mehrfache Vergewaltiger und Mörder Brian Dugan wegen weiterer Verbrechen 2009 erneut vor Gericht stand und wieder für schuldig befunden wurde, schaltete die Verteidigung Kent Kiehl von der University of New Mexico in Albuquerque (USA) ein, um ein neurowissenschaftliches Gutachten abzugeben (siehe auch Hirnforschung führt erneut zu Strafminderung in Mordfall). Kiehl ist einer der führenden Forscher im Gebiet der Neuroforensik und hält Psychopathen aufgrund von Veränderungen in ihrem Gehirn für weniger verantwortlich für ihre Taten.

Mit Verweis auf die Untersuchung von Weisberg und Kollegen wies Joseph Birkett, der führende Staatsanwalt in dem Fall, aber auf das Risiko hin, dass die bunten Abbildungen von Gehirnen und ihrer Aktivierung die Jury in ihrer Urteilsfähigkeit beeinträchtigen könnten. Der Richter folgte dieser Sichtweise zumindest insoweit, als er Kiehl das Zeigen der Originalaufnahmen des Mörders verbat – der Forscher musste sich anschließend in einer immerhin sechsstündigen Anhörung mit Balkendiagrammen und Karikaturzeichnungen von Gehirnen behelfen. Allerdings konnte er die Geschworenen nicht davon überzeugen, dass der Verurteilte aufgrund einer Fehlfunktion im Gehirn Gefühle anders verarbeitet als andere Menschen darum ein milderes Urteil verdient. Nachdem die Staatsanwaltschaft einen weiteren Experten befragte, der Kiehls Methoden kritisch bewertete, entschied sich die Jury nämlich für das Verhängen der Todesstrafe.

Die Abbildung macht den Unterschied

Andere Forscher haben genauer untersucht, was genau den besonderen Reiz neurowissenschaftlicher Informationen oder Bilder ausmacht. So haben die beiden nordamerikanischen Psychologen David McCabe und Alan Castel Versuchspersonen – allesamt junge Studierende – unter anderem beurteilen lassen, ob wissenschaftliche Schlussfolgerungen etwa über einen Zusammenhang von Computerspielen und Aufmerksamkeit, Meditation und Kreativität oder die Möglichkeit, Kriminelle anhand von Gehirnscans zu erkennen, sinnvoll sind. Dabei haben sie herausgefunden, dass das Hinzufügen eines anatomischen Schnittbilds aus dem Magnetresonanztomografen, auf das man die bekannten Farbenwolken für Gehirnaktivierung projiziert, die Bewertungen gegenüber einfachen Balkendiagrammen oder komplexeren Darstellungen von Gehirnreaktionen signifikant verbesserte.

Noch genauer wollten es Madeleine Keehner und Kollegen, Psychologen an der Universität von Dundee (Schottland) wissen. Für ihre 2011 veröffentlichte Studie ließen sie Versuchspersonen zuerst unterschiedliche Repräsentationen von Gehirnaktivierung dahingehend beurteilen, wie sehr die Abbildungen echten Gehirnen ähneln und wie dreidimensional sie wirken. Ähnlich wie bei den vorangegangenen Studien sollte daraufhin wieder die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit von Erklärungen, denen man die unterschiedlichen Grafiken zur Seite stellte, beurteilt werden. Keehner und Kollegen fanden bei der Analyse der Daten heraus, dass die Glaubwürdigkeit am stärksten mit der Dreidimensionalität korrelierte.

So wurden die Erklärungen für glaubwürdiger gehalten, wenn sie beispielsweise von einer dreidimensional gerenderten Gehirnabbildung begleitet wurden, als wenn die Gehirnaktivierung auf einen zweidimensionalen Schnitt von der Seite projiziert wurde. Auch bei den Befunden von McCabe und Castel sowie Keehner und Kollegen sollte man jedoch berücksichtigen, dass die Unterschiede zwar statistische signifikant sind, sich jedoch im Nachkommastellenbereich bewegen. Eine "Gehirnwäsche" durch Neurobilder, die aus schlechten Erklärungen plötzlich sehr gute macht, scheint also nicht zu befürchten.

Lassen sich Richter von Neuro-Autorität beeinflussen?

Dennoch werfen solche Ergebnisse die Frage auf, ob sich Richter und andere Experten in wichtigen gesellschaftlichen Funktionen durch ähnliche Manipulationsversuche beeinflussen lassen. Wenn dies bei Laien zumindest prinzipiell, wenn auch im kleinen Maßstab, möglich ist, wie verhält sich dies dann bei verschiedenen Arten von Fachleuten? Aus der italienischen Rechtsprechung sind inzwischen zwei Fälle bekannt, in denen sich Richter von neurowissenschaftlichen Gutachten beeinflussen ließen. In zwei Entscheidungen aus den Jahren 2009 und 2011 (Gen vor Gericht?, Hirnforschung führt erneut zu Strafminderung in Mordfall) wurden genetische und neurowissenschaftliche Informationen dazu verwendet, die Strafen von zwei Mördern zu verringern.

Zur Debatte stand hier aber nicht die Unterscheidung zwischen Verursachung und Nicht-Verursachung, sondern ob die wissenschaftlichen Evidenzen in gültiger Weise das Vorliegen eines entschuldigenden Umstands anzeigten. Kurz gefasst wurden die Untersuchungsergebnisse in einer dieser Entscheidungen als Hinweis auf das Vorliegen einer psychiatrischen Störung angesehen, obwohl es allgemein akzeptiert ist, dass sich zurzeit keine einzige psychiatrische Störung mit solchen Mitteln diagnostizieren lässt. Die entsprechenden Gutachten haben jeweils Pietro Pietrini, Professor für Molekulargenetik und Psychiatrie an der Universität Pisa sowie Giuseppe Sartori, Professor für kognitive Neurowissenschaft an der Universität Padova, geliefert. Nach entsprechenden internationalen Medienberichten dürften sie ebenso wie Kent Kiehl in New Mexico viele neue Anfragen von Strafverteidigern erhalten haben, während sich viele Fachkollegen kritisch über die wissenschaftliche Gültigkeit der Aussagen äußern.

Wissenschaft ist ein zweischneidiges Schwert

In einer Untersuchung, die jüngst in Science veröffentlicht wurde, haben die Psychologin Lisa Aspinwall von der Universität von Utah in Salt Lake City (USA) und Kollegen derartige Effekte systematisch untersucht – und zwar mithilfe von 181 Richtern aus verschiedenen US-Bundesstaaten, die übers Internet anonym einen Fragebogen ausfüllten. Die Hauptfrage hierfür war, ob das Verbinden eines (fiktiven) Falls von schwerer Körperverletzung mit Wissen um einen gestörten Biomechanismus gegenüber einer rein psychologischen Erklärung des Verhaltens das Urteil strafmindernd oder -erhöhend beeinflusst.

Während die Verteidigung nämlich argumentieren könnte, dass der Täter nicht anders konnte und daher weniger verantwortlich für seine Tat ist, könnte die Anklage im Gegenteil darauf verweisen, dass jemand mit diesem körperlichen Merkmal eine größere Gefahr für die Allgemeinheit darstellt und daher länger eingesperrt gehört – oder in manchen US-Bundesstaaten im Extremfall per Todesurteil gleich ganz aus der Gesellschaft entfernt wird, wie im zuvor erwähnten Fall Brian Dugans. Neurowissenschaftliche und genetische Befunde im Strafprozess wurden daher schon mehrmals in der Fachliteratur als zweischneidiges Schwert bezeichnet.

Verbrechen eines Psychopathen

Für das Experiment haben sich die Psychologen einen Fall ausgedacht, in dem der 24-jährige Jonathan Donahue mit einer geladenen, halbautomatischen Pistole eine Burger-King-Filiale ausrauben wollte. Als der Kassierer jedoch nicht das geforderte Geld herausgab, zwang der Täter diesen auf die Knie und schlug ihm mehrmals mit der Pistole gegen den Kopf, weil, in Donahues eigenen Worten, "der fette Wichser nicht mit dem Heulen aufhören wollte". Daraufhin flüchtete der Täter ohne das Geld, der Kassierer trug von dem Überfall aber einen bleibenden Hirnschaden davon, hatte 20 Tage lang im Koma gelegen und leidet seit dem Erwachen an Gedächtnis- und Bewegungsstörungen.

Die Polizei konnte Donahue in der fiktiven Geschichte festnehmen und die Täterschaft konnte jenseits vernünftigen Zweifels nachgewiesen werden. Von Reue fehlte dem Kriminellen jedoch jede Spur, im Gegenteil protzte er während der Untersuchungshaft gegenüber seinen Mitgefangenen mit seiner Tat. Schließlich wurde er gemäß der Fallgeschichte der schweren Körperverletzung für schuldig befunden und Aufgabe der Richter in dem Experiment war es dann, ein gerechtes Strafmaß für dieses fiktive Verbrechen festzulegen. Dafür wurden die Richter zufällig in eine von vier Gruppen eingeteilt: Gemäß dem Faktor "Biomechanismus" entweder nur mit einem psychologischen oder auch mit einem neurowissenschaftlichen Gutachten, kombiniert mit dem Faktor "präsentierende Partei", also Verteidigung oder Anklage.

In dem psychologischen Gutachten, das also alle Versuchspersonen lasen, wird Donahue eine Psychopathie diagnostiziert. Den Richtern wird erklärt, dass diese Kategorie zwar im zurzeit verwendeten psychiatrischen Diagnosehandbuch noch nicht aufgenommen ist, wahrscheinlich aber in der folgenden Auflage. Psychopathie sei eine Unterform der bereits allgemein anerkannten Antisozialen Persönlichkeitsstörung, die sich unter anderem durch Impulsivität, Verantwortungslosigkeit, oberflächliche Gefühle und Mangel an Reue auszeichne. Psychopathie wird in dem fiktiven Expertengutachten insbesondere mit gestörter Emotionsverarbeitung in Zusammenhang gebracht, die ferner dazu führe, dass die Betroffenen nicht richtig moralisch sozialisiert werden könnten und daher den Unterschied zwischen richtig und falsch nicht so verstünden wie normale Menschen.

Den Versuchspersonen in der Gruppe mit neurowissenschaftlichem Gutachten wurde ferner noch eine fiktive Expertenaussage vorgelegt, in denen die Diagnose Psychopathie und die damit einhergehenden Defizite mit weiteren genetischen und neurobiologischen Befunden untermauert werden. So habe Donahue beispielsweise eine ungünstige Variante des MAOA-Gens, das mit höherer Wahrscheinlichkeit für antisoziales Verhalten einhergehe und schon in dem realen Urteil der italienischen Richter eine wesentliche Rolle gespielt hat (Gen vor Gericht? [http://www.heise.de/tp/artikel/31/31464/1.html]). Ferner wird auf die Störung eines Gehirnmechanismus verwiesen, der zur Unterdrückung von Gewaltverhalten wichtig sei. Die wissenschaftlichen Evidenzen laufen aber wie auch in der rein psychologischen Variante auf dieselbe Schlussfolgerung hinaus, dass der Täter nämlich in seiner moralischen Sozialisation gestört gewesen sei und nicht wie normale Menschen zwischen richtig und falsch unterscheiden könne.

Sind Psychopathen vermindert schuldfähig?

Nachdem die Richter die Materialien durchgelesen hatten, sollten sie eine Reihe von Fragen beantworten: Bewerten sie die Hinweise auf die Psychopathie eher als strafmindernd, straferhöhend oder in dieser Hinsicht irrelevant? Wie bewerten sie die rechtliche Verantwortlichkeit, moralische Verantwortlichkeit und Willensfreiheit? Welches Strafmaß würden sie einem Fall schwerer Körperverletzung im Mittel geben und welches im geschilderten Fall? Den Teilnehmern wurde die Möglichkeit gegeben, jede ihrer Angaben frei zu erörtern.

Allgemein hielten die Richter die Hinweise auf die Psychopathie für straferhöhend. Wenn die Erklärung über den Biomechanismus hinzugefügt oder diese vonseiten der Verteidigung vorgelegt wurde, dann fanden sie diese jedoch für signifikant weniger straferhöhend. Im Mittel würden sie für diese Art Verbrechen eine Gefängnisstrafe von ca. 13 Jahren vergeben. Diese Angabe schwankte jedoch beachtlich von nur einem Jahr bis zu satten 41 Jahren – die Autoren der Studie führen das auf die Jurisdiktionen der verschiedenen US-Bundesstaaten zurück, in denen unterschiedliche Richtlinien für das Strafmaß gelten. Verglichen damit vergaben die Richter für den vorliegenden Fall konsistent eine höhere Strafe, fanden sie ihn also schlimmer als die durchschnittliche schwere Körperverletzung. Von welcher der Parteien, Anklage oder Verteidigung, die wissenschaftlichen Evidenzen präsentiert wurden, spielte dafür jedoch keine Rolle.

Anders der Faktor "Biomechanismus". Wenn nämlich das neurowissenschaftlich-genetische Gutachten beigefügt war, hielten die Versuchspersonen im Mittel nämlich etwas weniger als 13 Jahre für das angemessene Strafmaß, nur mit dem psychologischen Gutachten jedoch knapp 14 Jahre. Der Verweis auf unvorteilhafte Gene und nicht richtig funktionierende Gehirnschaltkreise führte also zu einer um ca. ein Jahr geringeren Strafe. Mit der Erklärung dieses Unterschieds tun sich die Forscher allerdings schwer. Dem geringeren Strafmaß entsprechend würde man nämlich erwarten, dass Donahue dann auch für weniger legal oder moralisch verantwortlich gehalten wurde oder die Richter ihn als weniger frei in seinem Willen ansahen. Nichts davon zeigte sich aber in dem Experiment. Ganz gleich ob nur das psychologische oder auch das neurowissenschaftlich-genetische Gutachten vorgelegen hat, waren die Bewertungen für diese Kriterien in allen diesen Punkten beinahe maximal.

Es scheint also nicht gerade, als wären die Richter der verkehrten Logik gefolgt, nicht der Täter, sondern sein Gehirn hätte die Tat begangen. Allein anhand der freien Antwortmöglichkeiten für die Versuchspersonen konnten sich die Forscher einen Reim auf den gefundenen Unterschied machen: Wenn das neurowissenschaftlich-genetische Gutachten nämlich von der Verteidigung vorgelegt wurde, gaben die Richter wesentlich häufiger strafmindernde Gründe an, vor allem, dass der Täter psychisch krank sei und über geringere Kontrolle verfüge.

Das Willensfreiheitsverwirrungssyndrom vermeiden

Damit ist die wissenschaftliche Debatte um das Neurorecht zwar nicht endgültig gelöst, deuten doch auch diese neuesten Ergebnisse auf keinen bevorstehenden Umsturz unseres Rechtssystems. Einerseits münden die Gutachten in unmittelbar strafrechtlich relevanten Kategorien wie der Kontrollfähigkeit des Täters und seiner Fähigkeit, richtig von falsch zu unterscheiden, und sind damit direkt für die Bewertung der Schuldfähigkeit relevant. Andererseits passen dazu auch die Angaben der Richter, die auf das Vorliegen einer psychischen Erkrankung als Minderungsgrund verweisen, also auf echte Entschuldigungsgründe.

Das wirft allerdings die Frage auf, ob es sich dann um einen gezielten Effekt des zusätzlich neurowissenschaftlich-genetischen Gutachtens handelte – denn schließlich unterschieden sich die Bedingungen dann auch ganz allgemein darin, dass die Versuchspersonen zwei gegenüber nur einem wissenschaftlichen Gutachten vorliegen hatten. Da sich beide Experten inhaltlich ergänzten, fanden sie dann die doppelte Begründung womöglich schlicht überzeugender. Das Experiment ist ferner noch in der Hinsicht einseitig, als jeweils nur eine Partei – Verteidigung oder Anklage – Gutachten vorlegen konnte. Im realen Fall des Serientäters Brian Dugan, in dem der Neuroforensiker Kent Kiehl als Gutachter im Auftrag der Verteidigung aufgetreten war, widersprach am folgenden Tag ein von der Anklage beauftragter Gutachter Kiehls Darstellung. Nach den sich widersprechenden Stellungnahmen entschieden sich die Geschworenen für die Höchststrafe.

Zusammenhang von Recht und Alltagserfahrung

Insgesamt steht also Verursachung allein nach wie vor nicht zur Debatte, wenn jemandes rechtliche oder moralische Verantwortung beurteilt wird. Das erleben wir auch im Alltag so: Wenn jemand einem auf den Fuß tritt, dann sind wir nicht böse, wenn dies verursacht geschah, und nicht beruhigt, wenn es ursachenlos geschah. Vielmehr interessiert uns, was die Ursache dafür war: Wollte jemand einem wehtun, hat jemand nicht aufgepasst, leidet jemand womöglich an einer Tourette-Störung und kommt es daher häufiger zu unkontrolliertem verhalten, war es so voll, dass jemand den eigenen Fuß nicht sehen konnte, oder hat gar ein Dritter jemanden auf den eigenen Fuß geschubst? Wenn der "Täter" einen berechtigten Entschuldigungsgrund angegeben kann, dann akzeptieren wir das in der Regel, wollte er uns jedoch absichtlich weh tun, dann nicht.

Im gegenwärtigen metaphysischen Rahmen der Mehrheit von Philosophen und Wissenschaftlern sind psychische Prozesse im Gehirn realisiert und ist keine Magie damit verbunden, wenn jemandes Handlung oder Zustand aufgrund von psychischen oder sozialen Umständen geschieht, zum Beispiel wenn sich jemand schlecht fühlt, weil er seine Arbeit verloren hat, oder sich jemand gut fühlt, weil er auf einer Party mit lateinamerikanischer Musik tanzt. Aus diesem Grund kann die Hirnforschung auch unsere Psychologie oder Soziologie nicht einfach bedrohen oder gar umstürzen, wenn sie die korrespondierenden neuronalen Mechanismen solcher Umstände identifiziert – weder im Alltag noch im Recht.