Verteidigung der digitalen Heimat

Anonymous - Cyberguerilla im Infowar

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Im Juli suchte der Wikileaksgründer Julian Assange Asyl in der ecuadorianischen Botschaft in London. Als Mitte August die britische Regierung Ecuador mit der Stürmung der Botschaft drohte, war dies nicht die feine englische Art, sondern eine Provokation des Völkerrechts. Der diplomatische Fehltritt zeigte ein weiteres Mal, welche Bedeutung man dem Fall Assange und seinem Enthüllungsportal beimisst, wird doch die Souveränität von Botschaften einzig und allein im Kriegzustand aufgehoben. Befindet sich Wikileaks etwa im Krieg?

World War III is a guerilla information war with no division between military and civilian participation.

McLuhan

Mit Doxing und DDoS-Attacken kämpft Anonymous gegen viele selbst ausgemachte große und kleine Übel, vor allem anderen aber gegen Zensur und für freie Informationen im Internet. Obwohl die Methoden bereits seit Ende der neunziger Jahre zum Repertoire digitaler Aktivisten gehören, werden virtuelle Sit-ins erst seit den groß angelegten Aktionen des Kollektivs als wirksame Praktiken politischer Partizipation im Netz wahrgenommen. Dass Anonymous wegen seines unkonventionellen Vorgehens unversehens als "Cyberguerilla" bezeichnet wurde, geht dabei über die Medienrhetorik einer zuspitzenden Vereinfachung hinaus: Durch seine Netzwerkform eignet sich das Kollektiv wesentliche Merkmale der Guerilla ältere Tage an - und überführt diese in den "Infowar" unseres digitalen Zeitalters.

Der Infowar ist ein Wissenskrieg, ein Ringen um Information und Desinformation, eine avancierte Psychologische Kriegsführung, die nicht länger auf physische Gewalt angewiesen ist, um ihren Ziele durchzusetzen. Im Rahmen der 1998 unter dem Titel Infowar veranstalteten Ars electronica hieß es, der Infowar errichte neben Land, Meer und Luft eine "vierte Front" innerhalb der globalen Informationssysteme, die den "menschlichen Verstand" selbst zum Ziel habe.

Wie John Arquilla und David Ronfeld propagieren, ist der Infowar ein "neo-cortical warfare" und die Herausforderung seiner Akteure grundsätzlich "epistemological". Als Grundstein des Denkens bildet das Wissen im Infowar demnach das neue Paradigma der Macht und - wie die Software für den Nutzer - den geistigen Rahmen, in dem Handeln möglich erscheint. Im Infowar gelten die gleichen Ziele wie im physischen Krieg: Man will den Gegner zur Erfüllung des eigenen Willens bringen - aber nicht durch Zwang, sondern durch die Manipulation der Willensbildung.

Angesichts solcher Prognosen verwundert es nicht sonderlich, dass gerade ein Hackerkollektiv mit einem (wenn auch indifferenten) demokratischen Aufklärungsbedürfnis den Stempel einer "Cyberguerilla" verpasst bekommt. Zwar zeichnet den Hacker nicht unbedingt ein starkes politisches Engagement aus, dafür aber ein spielerischer und autodidaktischer Umgang mit vorgegebenen Strukturen: Nach dem Prinzip von "trial and error" gilt sein Interesse dem "Programmcode" und den darin enthaltenen, (noch) unentdeckten Möglichkeiten. Erkenntnistheoretisch ist der Hacker daher eine sensible Figur, wodurch er sogleich zu einem erfahrenen "Infokrieger" wird, dessen Methoden vergleichbar mit den irregulären Operationen der Guerilla scheinen.

Anfänglich der Kontroverse um das Whistleblowerportal Wikileaks twitterte John P. Barlow im Dezember 2010: "The first serious infowar is now engaged. The field of battle is Wikileaks. You are the troops. #Wikileaks." Wikileaks in seinem Engagement für freie Information unterstützend, trat Anonymous sofort mit der Operation: Payback auf den Plan. In einer Presseerklärung zu den daraufhin erfolgten DDoS-Angriffen betonte das Kollektiv, das Ziel habe niemals darin bestanden, die tatsächliche Infrastruktur der Unternehmen lahmzulegen. Vielmehr habe man mit der Überlastung der Webseiten eine "symbolische Aktion" verfolgt, die auf das "public face" der Konzerne ziele, um öffentliches Aufsehen zu erregen.

Das gleiche Ziel verfolgt das sogenannte Doxing, das die Recherche und gezielte Veröffentlichung (leak) von privaten oder geheimen Daten bezeichnet, wie Wikileaks es selbst praktiziert. In beiden Fällen handelt es sich um gängige Methoden des Infowar, die durch eine gezielte Veröffentlichung von Informationen das zivilgesellschaftliche Interesse steigern und entsprechende Entscheidungen beeinflussen oder überhaupt erst erwirken. Anonymous hackt hier die Form der politischen Partizipation, indem es relevante Daten veröffentlicht und bestimmten Ereignissen eine erhöhte mediale Aufmerksamkeit zu Teil werden lässt.

Emergiert inmitten der frei, weil "hierarchielos vernetzten Information im Netz, sehen sich die "Internet citizen" in ihrem Kampf mit der freien Information für die freie Information durchaus als Verteidiger der eigenen, wenn auch virtuellen "Heimat". Die Reformversuche SOPA, PIPA, ACTA etc. lassen sich so als supranationale und heterogene "Besatzungsmacht" im Konflikt um geltendes Recht und die Souveränität im Netz deuten, erzeugten diese zusammen mit Wikileaks doch bei weitem die heftigsten Proteste. Als ein aus der medialen Vernetzung entstandenes Kollektiv besteht die Verteidigung der Heimat für die "Cyberguerilla" daher zunächst in der Sicherung des freien Zugangs zum Informationsfluss und seiner Aufrechterhaltung.

Eine digitale Guerillataktik

Anonymous koordiniert seine DDoS-Attacken über Netzwerke, wodurch die Kraft des zerstreuten Kollektivs kurzzeitig in Raum und Zeit gebündelt wird - und die betroffene Webseite vom Netz nimmt. Wie die Guerilla, die von jetzt auf gleich zwischen der Rolle des Zivilisten und des Freiheitskämpfers wechselt, um das eigene Risiko gering, den Überraschungseffekt dagegen hoch zu halten, tritt das Kollektiv ähnlich irregulär auf. Während eine hohe Mobilität stets überlebenswichtig für die Guerilla war, nutzt Anonymous heute die Geschwindigkeit digitaler Datenströme, um, wie ein Bienenschwarm, plötzlich aus dem digitalen Untergrund auf- und blitzschnell wieder abzutauchen - unerkannt, effektiv und unberechenbar, eine (digitale) Guerillataktik.

Als Übergangsbewegung im Prozess politischer Machtverschiebung kam der Guerilla stets ein doppeltes revolutionäres Moment zu. Den angestrebten Wandel einerseits vorantreibend, trägt sie den gewünschten geistigen Wandel selbst bereits in sich. Sie verkörpert so zugleich "Medium" und "Movens" des politischen Umbruchs.1 Anonymous scheint dies durch die offene, global-lokale und hierarchielose Vernetzung medientechnisch adäquat umzusetzen. Das demokratische Selbstverständnis steht durch die verwendeten Netzwerke im Einklang mit der Organisation, da diese, anstatt bloßes Mittel zu sein, selbst zum Zweck wird: Für das "Medium" des Widerstands avancieren die Möglichkeiten des Mediums Internet angesichts weltweiter Vernetzung selbst zu einem "Movens" eines globalen demokratischen Wandels - so zumindest die "Idee" und Hoffnung von Anonymous.

Man mag angesichts der Rede vom Infowar nun eine Guerilla 2.0 entwerfen und diesen Status sogleich für Anonymous reklamieren wollen. Die Übertragbarkeit beruht jedoch letztlich auf der Kommunikationsstrategie beider Bewegungen, die sich der Infowar grundsätzlich zu eigen gemacht hat: Sind anstatt Gewalt nun Informationen selbst das Medium des Konflikts, erfährt dieser bereits durch den global-archivarischen Charakter des Internets eine zeitliche und räumliche Ausdehnung, wie sie laut Herfried Münkler2 typisch für den Guerillakrieg ist.

Anstatt einer zentrierten, national verwurzelten Bevölkerung bilden zudem nun supranationale, dezentralisierte und vernetzte Interessengemeinschaften das Rückrad etwaiger Infowar-Akteure. Die irregulären Aspekte des Guerillakrieges avancieren angesichts eines technisierten Infowar zu den neuen regulären Prinzipien im Kampf um die Wissens- und Meinungshoheit. Über den Ausnahmezustand zu bestimmen, verlangt zuerst die Kontrolle über den (regulären) Informationszustand, von dem die Ausnahme entsprechend abweicht - darin besteht die Souveränität des digitalen Zeitalters. In diesem Sinne ist Anonymous eine Macht.