Muss ein Kaffeekränzchen ein Hort des Sozialismus sein?

Von der Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland

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Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, Gespräche am Nachbartisch mitzuhören. Und manchmal sind diese Gespräche gar interessant. So wurde der Autor jüngst Zeuge einer Erzählung am Nachbartisch eines Cafes, die angesichts der jüngsten Mediendebatte zur Vermögensverteilung in Deutschland interessante Einsichten bringt, was man dem eigenen Freundeskreis zumuten kann oder vielleicht doch nicht.

Da erzählte also eine Frau, vielleicht um die 50, folgende Geschichte, die sie wohl selbst erlebt hatte, ihrer Begleiterin:

"Seit Jahren war es Tradition in meinem Kreis von 10 Freundinnen, sich regelmäßig zu Kaffee und selbstgebackenem Kuchen abwechselnd bei einer von ihnen zu treffen. Vor wenigen Wochen kam es allerdings zu einer empfindlichen Störung in diesem Verhältnis."

Wie zehnmal im Jahr üblich, meist um die jeweiligen Geburtstage herum, hatten sie sich verabredet, Geraldine hatte eingeladen oder einfach gesagt, war mal wieder dran. Schon beim Eintreffen bei Geraldine war die Dame vom Nachbartisch über den seltsam eingedeckten Tisch verwundert: Da standen fünf Fingerhüte neben Tassenuntersetzern, drei Tassen neben Kuchentellern, eine Potttasse neben einem weiteren Kuchenteller und ein Bierkrug neben einer Porzellanplatte. Nun ja, meine Freundinnen sind manchmal etwas skurril in ihren Überraschungen, merkte die Erzählerin an. "Als auch die letzte eingetroffen war, bat Geraldine zu Tisch. Wie üblich war es auch diesmal der Gastgeberin vergönnt, den Kuchen zu verteilen und den Kaffee einzuschenken. Allein fehlte der Erzählerin die Tasse, sie hatte einen Platz mit Fingerhut. Ungerührt schenkte Geraldine die Fingerhüte ein, plauderte dabei über dies und das, erwähnte noch, sie hätte diesmal ökologisch angebauten Kaffee verwendet. Dann schenkte sie die Tassen und schließlich sich den Bierkrug, der auf Geraldines Platz stand, ein - die Kaffeekanne war nun leer. Irritierte Blicke seien über den Tisch gewandert, ergänzte die Erzählerin.

Geraldine war ungerührt und begann, den Kuchen zu verteilen, den sie schon in 10 Stücke geschnitten hatte: zuerst ein Stück auf einen Kuchenteller, auf den nächsten zwei Stücke. Ein drittes Stück teilte sie, etwa im Verhältnis zwei zu eins, der größere Teil wanderte auf einen Teller, der kleinere auf einen anderen. Mit geübter Hand legte Geraldine dann die anderen sechs Stücke auf die große Porzellanplatte an ihren eigenen Platz, nicht ohne zu betonen, dass sie sich große Mühe mit dem Kuchen gegeben hätte und er diesmal besonders gut gelungen sei. Auf der Kuchenplatte blieben einige Krümel zurück, die Geraldine nun auf die fünf Kaffeeuntersetzer verteilte, sorgfältig kratzte sie die Kuchenplatte ab.

Geraldine wünschte guten Appetit und bat um die Meinung zu ihrer Kuchenkreation. Martha saß wie ich und drei weitere Freundinnen irritiert vor dem Fingerhut und den Kuchenkrümeln auf unseren Untersetzern und fasste sich ein Herz: Was das denn solle? Geraldine reagierte ganz verständnislos, was sie denn meine. Martha meinte, sie fühle sich veralbert, wie solle sie eine Meinung zum Kuchen äußern, wenn sie keinen habe. Geraldine war nun empört, Martha solle sich nicht so haben, schließlich habe sie zum Kuchen nichts beigetragen, sie habe sogar trotzdem etwas abbekommen. Und dies gelte auch für die anderen vier. Sie deutet auch die Untertassen mit den Krümeln. Und überhaupt sei dies alles nur die gerechte Verteilung, wie sie in Deutschland nun mal so sei. Und wer etwas leiste, der solle was davon haben, wer habe denn den Kuchen gebacken?

Tanja, die zwei Stücke bekommen hatte, meinte, man solle hier nicht in eine Neiddebatte verfallen und der Kuchen sei im Übrigen vorzüglich. Auch der Kaffee habe eine sehr würzige Note. Manu meinte sarkastisch, das könne sie nicht beurteilen, ihr Fingerhut sei wohl zur Geschmacksentfaltung des Kaffee zu klein. Christine, auch sie eine Fingerhuttrinkerin, meinte, diese Verteilung sei aber ungerecht, schließlich hätten alle, wie es immer üblich war, den gleichen Beitrag zum Gastgeschenk geleistet. Das sollte ich erwähnen, betonte die Erzählerin. Es sei immer Sitte gewesen, dass alle bis auf die Gastgeberin zusammenlegten, den gleichen Betrag, und der Gastgeberin davon eine kleines Geschenk mitgebracht wurde, auch Geraldine hatte diesmal eine schöne Zimmerpflanze erhalten.

Franzi, die ein Stück Kuchen und eine ganze Tasse bekommen hatte, wandte sich zu Christine: Sie solle das nicht so eng sehen, schließlich sitze sie jetzt im Warmen bei Geraldine, nutze auch irgendwie den Stuhl ab und verursache Kosten für das Warmwasser beim Abspülen und überhaupt, sie, Franzi habe schließlich das Gastgeschenk beschafft und deshalb wäre sie diejenige, der doch etwas mehr zustände, denn sie habe Stunden in Blumenläden verbracht, um die passende Pflanze zu suchen.

Maria, die das gedrittelte Stück auf dem Teller hatte, warf ein, so ganz gerecht finde sie das nicht, aber es stimme schon, Geraldine hätte die ganze Arbeit gehabt, diesmal. Und sonst, unterbrach Sabine, auch sie eine Fingerhuttrinkerin, wer hat sonst die Arbeit? Darauf Tanja, die mit den zwei Stücken Kuchen und dem Kaffeepott, das lenke jetzt vom Thema ab, es gehe schließlich darum, wie der Kuchen schmecke! Anja, auch sie mit Fingerhut und Krümeln bedacht, stand wortlos auf und ging. Tanja rief ihr hinterher, sie solle sich nicht so haben und endlich die Realität akzeptieren. Franzi zu Tanja gewandt: Du weist doch, sie ist schon immer zu idealistisch, eben ein wenig naiv. Manu stand ebenfalls auf, wünschte noch einen schönen Tag, was wohl eher zynisch gemeint war. Christine schloss sich ihr an.

Typisch, meinte Geraldine, Ansprüche stellen und wenn es nicht nach dem eigenen Kopf geht, einfach gehen, statt was zu leisten, Ihr hätte abspülen können, rief sie Manu und Christine hinterher.

Der Erzählerin der Geschichte interessierte dann, wie sie betonte, was Geraldine zu dieser Verteilung des Kaffees und Kuchens veranlasst habe? Geraldine verstand ihre Frage so, dass sie antwortete, Tanja - die mit den zwei Stücken Kuchen - unterstütze sie regelmäßig, Franzi sei auch nicht ganz nutzlos und der Rest sei eben Zufall gewesen.

"Nur mal eine Frage", sagte die Dame vom Nachbartisch, als ob sie sich noch bei ihrem Kaffeekränzchen befände: "Was machst du eigentlich mit den fünf Stücken Kuchen, die nun übrig bleiben?" Sie hatte wohl Geradine damit ansprechen wollen und die habe geantwortet, das sei nun doch ihre rein private Angelegenheit, da sei sie doch niemand Rechenschaft schuldig, und sie fügte noch hinzu, sie fühle sich völlig unverstanden, da sie sich doch soviel Mühe mit dem Kuchen gegeben habe, soviel Zeit und, ja, auch Geld in die Zutaten investiert habe. Die Erzählerin gehöre wohl auch zu dem neidischen Leuten und sei Argumenten nicht zugänglich. "Das war zuviel und ich ging!", schloss die Erzählerin vom Nachbartisch, sichtlich in Rage geredet. Sie fand das Verhalten von einem Teil ihrer Freundinnen unmöglich und meinte noch, mit so etwas wolle sie nichts mehr zu tun haben.

Meine ganze Tasse Kaffee war nun leer, ich zahlte, verließ das Cafe und frage mich seither, ob ich das Experiment, die deutsche Vermögensverteilung anschaulich zu machen, bei der nächsten privaten Grillparty den Freunden zumuten kann?