Von Androiden, Ästhetiktheoretikern, dem Human Brain Project und menschlichen Gefühlen

Philosophische Kolumne: Künstliches Bewusstsein Teil 2

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Im ersten Teil () haben wir uns bereits damit beschäftigt, was den Androiden Data aus der Fernsehserie "Star Trek - The Next Generation" so menschlich erscheinen lässt, haben dabei die Ästhetik behandelt und acht Alltagsbeobachtungen aufgeführt, die Data in seiner Selbstprogrammierung für eine Ästhetiktheorie verarbeiten müsste. Wenn die aufgeführten acht Alltagsbeobachtungen funktionalisiert und digital so formalisiert würden wie in einem Computerspiel, dann ergäbe das nur 40 einzelne Stationen, über die aber alle wichtigen Begriffe der ästhetischen Wahrnehmung verteilt werden könnten. Für die Behauptung nun ein Beispiel.

Was die Gefühle "Faszination", "Beunruhigung", "Ärger" oder "Langeweile" angeht, wären diese Gefühle auf 5 Schaltstellen in Datas Modell verteilt: Angenommen, Data steht vor einem Kunstwerk und als Androide hat er keine Ahnung, was ein Mensch damit ausdrücken möchte, dann wird er zunächst durch ein Sichten seiner Assoziationen die Unbestimmtheit des Kunstwerks nach Relevanz und Stress einschätzen.

  • Schaltstelle Nr. 1) Wirkt das Bild (zum Beispiel ein Portrait seines Captains) relevant bei gleichzeitig wenig Stress (der Captain lächelt), dann wird er dieses Gefühl umgangssprachlich als "Interesse" oder "Faszination" bezeichnen und weiter seine Hardware nach Musterübereinstimmung scannen. (Gehe weiter zu Schaltstelle 5)
  • Schaltstelle Nr. 2) Falls nicht, prognostiziert er vielleicht viel Relevanz bei gleichzeitig viel Stress (beispielsweise ein grünes Bild, dessen Farbe an die feindlichen Borg erinnert), hat das zur Folge, dass die Rezeption nicht abgebrochen wird, aber entspannend ist das dann auch nicht. Umgangssprachliche Bezeichnung dieser Stufe des Empfindens ist "Beunruhigung". (Gehe erneut zu Schaltstelle 1)
  • Schaltstelle Nr. 3) Falls auch das nicht zutrifft und im Gegenteil die Prognose wenig Relevanz bei viel Stress vorliegt, führt das zum Abbruch der Rezeption und der Bezeichnung des dazugehörigen Gefühls als "Ärger" oder "Hässlichkeit". (Der Vorgang wird abgebrochen; diese Erfahrung wird abgespeichert.)
  • Schaltstelle Nr. 4) Falls auch das nicht der Fall ist, verläuft bei der vierten Variante von wenig Relevanz bei wenig Stress die Suche nach Assoziationen positiv und kann an bereits existente Elemente des kognitiven Bausteinvorrats anknüpfen. Die dadurch entstandene Bestätigung des vorhandenen Weltbildes wird umgangssprachlich als "Schönheit" bzw. "Langeweile" eingestuft. Schönheitsempfinden dieser Art ist so dürftig, dass viele es gar nicht bei Schönheit, sondern in der Kategorie "Kitsch" einordnen. Die Suche nach Übereinstimmungen von sinnlicher Wahrnehmung und intellektueller Erwartung würde an einer solchen Stelle eingestellt. (Der Vorgang wird abgebrochen; diese Erfahrung wird abgespeichert.)
  • Schaltstelle Nr. 5) Weiterführen kann nur bei der eingangs genannten Kombination von viel Relevanz und wenig Stress. Nur "Interesse" oder "Faszination" führen in die eben auch tatsächlich interessanteren, faszinierenden und eben nur scheinbar unauslotbaren Untiefen der ästhetischen Wahrnehmung. (Gehe weiter zur folgenden Schaltstelle usw.)

In den folgenden Schaltungen steckt dann alles, was an Emotionen und geistigen Phänomenen außer "Faszination", "Beunruhigung", "Ärger" oder "Langeweile" möglich ist. Mit der Nivellierung des jeweiligen Auflösungsgrades und der Selektionsschwelle können alle weiteren Möglichkeiten von ästhetischem Empfinden so modifiziert werden, dass (erstens) alle maßgeblichen Phänomene desselben beschreibbar werden, dass (zweitens) nicht nur alle psychologischen, sondern auch mentalitätsgeschichtlich relevanten Phänome epochenübergreifend erfasst werden, und dass (drittens) alle diese Dinge so logisch und digital in einem Flussdiagramm einsortiert werden können, von der einfachen Freude über das Wiedererkennen irgendwelcher Muster bis hin den beeindruckenderen Formen von Ekstase oder dem modernen Pendant der Ekstase, der verinnerlichten Enstase.

Die beiden letzteren Instanzen stellen dabei (viertens) eine Invertierung des handelsüblichen "Normalbewussteins" dar, das eine für das Funktionieren des ganzen psychischen Systems notwendige Spannung zwischen kognitiven Gegensätzen herstellt. Wer sich den letztgenannten Phänomenen nähert, wird es an seinen Tränen bzw. seiner "Rührung" merken. Wer die Grenze zu diesen Bereichen überschreitet, wird einen Vergleich mit göttlichen Erfahrungen oder artverwandten Extremen ziehen. Der "Rückweg" zum Normalbewusstsein von dort aus wird traditionell gerne als "Auferstehung" tituliert; misslingt dieser Rückweg, kommt es zu schizophrenen Anwandlungen, in der man den Wald vor lauter Reizen nicht mehr sieht bzw. die Rückübersetzung von Denkmustern der überinklusiven ästhetischen Wahrnehmung zurück in das so genannte Normalbewusstsein nur zum Teil schafft.

Über Grundsätzliches

All dies funktioniert über die Logik der Unterschiedregulierung zwischen Gegensätzen im menschlichen Denken, einschließlich der Unterschiede zwischen den Gegenständen des Denkens, der Unterschiede zwischen dem Menschen und seiner Umwelt, und dem Unterschied zwischen dem Denken in Unterschieden und dem scheinbar unterschiedslosem Denken ästhetischer Grenzerfahrungen - und dieser letzte Unterschied kann nicht anders, als trotz aller Beschreibbarkeit und aller psychologischen Funktionen als offiziell zweckfrei und unbeschreibbar zu gelten, sonst wäre kein Pendant zum Normalbewusstsein, sondern genauso exakt rational zu beschreiben, wie alles andere auch.

Schönheit spottet eben jeder Beschreibung. Schönheitsempfinden auch, und dafür gibt es gute Gründe. Denn Ästhetik funktioniert so, wie man einen Igel in der Nacht nur dann sieht, wenn man ganz knapp an ihm vorbei blickt. Oder wie der blinde Fleck der Wahrnehmung. Blind, aber notwendig, damit das Auge funktioniert. Denn der Lustgewinn durch diesen Moment der Auszeit vom Rationalen schafft einen notwendigen und bewusstseinserzeugenden Gegenpol zum so genannten Normalbewusstsein. Denn jede Abstraktion setzt das Wissen um das Gegenteil voraus. Jedes Raumschiff definiert sich durch alles, was Nicht-Raumschiff ist, und jedes klare Denken durch sein Gegenteil. Das heißt (nicht nur) für alle Science-Fiction-Fans: Ohne Ästhetisches und ohne die damit verbundenen Gefühle würde unser Alltag öde, einerseits. Andererseits wäre ein Übermaß an Ästhetischem eine Steilvorlage für den Wahnsinn. Kant formuliert es anders und schreibt1:

Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.

Bietet Schönheitsempfinden evolutionäre Vorteile, weil es Bewusstsein ist, und ist es dann ein schulpolitischer Fehler, die musischen Fächer und schöne Künste zu vernachlässigen? Unwahrscheinlich ist beides nicht. Auch wenn Schönheit in dieser Rolle nicht das meint, was landläufig immer nur unter Schönheit verstanden wird. Einstein hat nicht umsonst den Heiratsantrag eines Models abgelehnt. Im Gegenteil werden schöne Menschen laut Statistik im Leben viel wahrscheinlicher unglücklich als ästhetisch Benachteiligte. In Datas Modell spielen darum auch nicht nur formale, sondern vor allem inhaltliche Aspekt eine große Rolle, und es zeigt sich deutlich, dass der Mensch weder reines Denken noch reine Sinnlichkeit ist, sondern eben eine eigendynamische Mischung zwischen beidem, die nicht nur elementarpsychologische Vorteile sucht, sondern vor allem kognitive. Schrödinger nannte das "Ordnungen", denn nicht Treibstoff, sondern Ordnungen würde der Mensch tanken.

So geordnet Datas Modell dann aber auch ist, so wäre die Nachmodellierung von Datas Hirn dann aber nur eingeschränkt sinnvoll, so wie auch jede endgültige Definition von Ästhetik ein Scheitern am Thema wäre. Die Ästhetiktheorie ist ein Fach, das nur verstanden hat, wer es aufgibt. Sie widmet sich der rational nicht zugänglichen Unbeschreibbarkeit der ästhetischen Wahrnehmung, die zwar laut Data dann doch rational zugänglich ist - aber nur dann, wenn auch Zufälle, chaotische Kausalitäten, Vergessen (im Falle von xx-Rechnern quantenphysisches) und Mutationen das Ergebnis ihrer Denkvorgänge so unberechenbar machen wie den Menschen selber und die Frage nach einer "Seele" unbeantwortet lassen. Nur dann wäre ein künstlicher Nachbau korrekt, damit aber auch zwangsläufig wissenschaftlich unbefriedigend.

Aus einer unableitbar großen Menge an Vernetzungsmöglichkeiten würde in dem Fall die Frage nach dem Sinn eines Nachbaus resultieren. Schließlich sind einem schon viele reale Menschen intransparent genug, wer wollte da noch künstliche um sich haben. Aber zum Glück gibt es Data nicht wirklich. Das Human Brain Project aber schon, aber das ist etwas ganz anders, auch wenn man da durchaus neben besseren Behandlungsmethoden für die ein oder andere Hirnkrankheit auch das ein oder andere künstliche System entstehen lassen möchte. Auf die Ergebnisse aus der Schweiz kann man in jeder Hinsicht sehr gespannt sein.

Die Thesen dieses Beitrags werden ausführlich dargelegt in der Veröffentlichung: Das Geheimnis des Schönen. Über menschliche Kunst und künstliche Menschen oder: Wie Bewusstsein entsteht, Münster 2005.

Literatur