Wenn Tiere auf den Geist gehen

Philosophische Kolumne: Von schubsenden Ziegen, fliegenden Schildkröten, schamlosen Hunden und nachdenklichen Philosophen - Teil I

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Tiere rangieren weit oben auf der menschlichen Beliebtheitsskala, das gilt für Tierschützer wie für Metzger. Es gibt Menschen, die so sehr mit den Tieren eins werden wollen, und das auch beinahe schaffen, indem sie zum Beispiel in Tigergehege springen. Und wann immer eine Horde Menschenkinder in einen Streichelzoo einfällt, hört man die Schreie: "Süß!" und "niedlich!", bis sich die Ziegen ihrer Hörner besinnen und die Wortmeldungen zugunsten vieler Vokale modifizieren.

Tiere können eben auch auf den Geist gehen, wie zum Beispiel dieser Tage in Tirol. Dort stürmte eine Schafsherde einen Sportladen, weil der Leithammel offenbar sein Spiegelbild im Schaufenster mit einem Artgenossen verwechselt hatte. Woanders randaliert ein Eichhörnchen nachts gern in einem kleinen Supermarkt. Andererseits sind Tiere auch nützlich: Bayerische Rindviecher lassen sich derzeit so stark mit Pharmazeutika vollpumpen wie noch nie zuvor, und verleihen damit ihren menschlichen Verzehrern Immunität. Wenn auch nicht vor Krankheiten, sondern vor den Medikamenten, die davor schützen sollten. Unser Verhältnis zu Tieren ist also vielschichtig, und dies äußert sich nicht nur in Alltagserfahrungen, sondern auch in der Geschichte der Philosophie über Tiere.

Bild Schildkröte: Jonathan Zander. Bild Aischylos: sailko. Lizenzen: CC-BY-SA-3.0. Illustration: TP

Dabei beginnt diese Geschichte recht idyllisch in einem intellektuellen Gedankengebäude mit Haustierhaltung. Im Haus der Vorsokratiker. Die suchen nach dem "Ursprung von allem", also auch gleichermaßen nach dem Ursprung von Menschen und Tieren. Man veranschlagt: Beide seien durch die Bewegungen der ersten stofflichen Elemente entstanden. Umstritten bleibt jedoch (damals wie heute), ob dahinter der Zufall steckt oder ein mehr oder weniger intelligenter Designer.

In der Antike kommt der, später auch von Ernst Haeckel propagierte Gedanke auf, dass Menschen auch nichts weiter sind als eine (vielleicht besonders weit entwickelte) Tierart, die zeitweilig in ihrer Embryonalgenese ihre tierischen Vorstufen durchläuft und im Prinzip sowohl physisch als auch kulturell im gleichen Lebewesen-Spektrum anzusiedeln wäre. In Gedankenexperimenten überlegt man, welche Götter Kühe einführen würden. Noch weit entfernt von der Milka-Kuh oder einem Auerochsen, kommt man dabei zu dem Schluss, dass die Tiere ihre Kultur auch nicht schlechter oder besser konzipieren würden als die Menschen, in jedem Fall nämlich genauso speziezistisch.

Dass sich auch unscheinbare Tiere dem Menschen gegenüber durchsetzen können, zeigen die Eleaten am Beispiel von Achill und der Schildkröte und argumentieren so: Achill, der schnellste Läufer des griechischen Mythos, würde es nicht schaffen, eine Schildkröte einzuholen, wenn sie nur einen kleinen Vorsprung beim Wettlauf hat: In der Zeit, in der Achill die Hälfte des Vorsprungs wettgemacht hat, sei die Schildkröte vielleicht um ein Viertel weitergekrochen; sobald Achill diese Distanz zurückgelegt hat, habe sich auch seine tierische Konkurrentin etwas weiterbewegt, und so weiter. Bis zur Lösung dieses Streckenproblem-Rätsels durch die Infinitesimalrechnung blieben Schildkröten konsequenterweise von Rennwettbewerben ausgeschlossen.

Mängelwesen Mensch

Dieses trotz dieser Erwägungen harmonische Mensch-Tier-Verhältnis bekam jedoch eines Tages einen Knacks durch einen Zwischenfall, genauer gesagt: durch den legendären Fall (ausgerechnet) einer Schildkröte auf das Haupt des Aischylos im Jahre 456 v.Chr. Der berühmte Dramatiker hatte für immer ausgedichtet. Das weitere Schicksal der Schildkröte wurde nicht überliefert, doch ihr Glück, nicht auf irgendwelchen Felsen zu zerschellen, nachdem ein Greifvogel sie mitten im Flug abgeworfen hatte, blieb legendär bis in unsere Tage. Auch, dass eine Schildkröte besser gepanzert ist als das Haupt eines Kulturschaffenden, gibt nach wie vor zu denken.

In dem nach ihm benannten platonischen Dialog lässt der Sophist Protagoras die Menschen im Vergleich zu den Tieren benachteiligt wirken, indem er meint: Tiere haben von der Natur (bzw. mythologisch formuliert: von den Göttern) alles erhalten, was sie zum Leben brauchen, von Zähnen und Klauen bis zu Hufen, Hörnern und Fellen. Nur der Mensch wurde vergessen und stand zuletzt als von Natur aus hilflose Art vor dem Aussterben. Die Götter hatten Erbarmen und verliehen ihm Vernunft sowie die Kunst, in Staaten zusammenzuleben, und dadurch konnte sich diese einzige gefährdete Spezies auf Erden einigermaßen behaupten, hat aber dann, wie es so oft er Fall ist, ihr Unterlegenheitsgefühl gleich wieder überkompensiert: Gerade weil der Mensch keinen festen Platz in der Natur hat und ihm daher alles aus wechselnden Perspektiven erscheint, ist der Mensch bei Protagoras das Maß aller Dinge. Auch bei Pico della Mirandola und Arnold Gehlen, der am Mängelwesen Mensch lobt, dass der aus seiner naturalen Not die Tugend macht, seine eigenen Tugenden bzw. Institutionen entwickeln zu müssen.

Auch Platons Schüler Aristoteles sieht im Menschen das vollendete irdische Lebewesen: Allein der Mensch habe Sprache/Vernunft (logos), nur der Mensch geht aufrecht und hat daher den göttlichen Sternenhimmel im Blick, alle anderen Lebewesen sind im Vergleich zum Menschen "zwergenhaft". Ist der Mensch also das einzig geistvolle Wesen und steht damit ganz oben auf dem Siegertreppchen der "Leiter der Natur"?

Sind die Tiere die besseren Menschen?

Gegen diese Anmaßungen des philosophischen Establishments - und gegen das Establishment des Menschen gegenüber den Tieren - protestieren die Hippies der Antike, die Kyniker. Schon ihr Name ist Programm: Die "Hündischen" propagieren ein Leben nach der Natur, und wie das geht, ist ihnen zufolge am besten in der Natur, sprich: bei den Tieren zu lernen. Auch und gerade bei den Hunden, die, anders als heute im Westen, in der Werteskala der griechischen Kultur ziemlich weit unten stehen, da sie als schamlos verschrien sind. Sprichwörtlich wie die(-se) Tiere befriedigen die Kyniker ihre Bedürfnisse in aller Öffentlichkeit: Sie masturbieren, kopulieren und dinieren vor den Augen ihrer geschockten Mitbürger, wobei letzteres zu dieser Zeit als ebenso anstößig gilt wie die anderen genannten Tätigkeiten. Tiere sind demnach die besseren Menschen, weil sie sich von den zufälligen und vorübergehenden Einengungen durch kulturelle Vorgaben nicht beeindrucken lassen.

Doch solche Meinungen und Gepflogenheiten werden im Lauf der antiken Jahre begradigt: Je unruhiger die Zeiten in der Spätantike werden, desto weniger glauben sich Staat und Gesellschaft solche Querköpfe leisten zu können, und die zunehmend christlichen Philosophen zementieren dann die Annahme der Überlegenheit des Menschen gegenüber den Tieren als einen von vielen Garanten der politischen und sozialen Ordnung. Doch dazu mehr im zweiten Teil.