Mein Buch für die Insel

In Robinsons Hütte, unter dem bedrohlich wirkenden Mammut-Baum: Ein Lese-Erlebnis, das das Herz bewegt. Bild: Tom Appleton

Lese-Erfahrungen mit einem Lieblingsbuch: "Die Wand", von Marlen Haushofer

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Das Witzige ist: Ich lebe ja schon auf einer Insel. Denn auch wenn Neuseeland gut und gerne so groß ist, wie zum Beispiel Italien - ausdehnungsmäßig gesehen, so ist es eben doch eine Insel - oder wenigstens eine Ansammlung von Inseln, Plural - im Südpazifik. Also - nein. Mit dem "Buch für die Insel" meine ich etwas anderes. Unbewusst, im Unterbewusstsein, ist es immer wieder das Robinson-Thema gewesen, das mich hier gereizt hat. Jahre lang hatte ich vorgehabt, auf einem der kleinen Eilande, die den hiesigen Küsten vorgelagert sind, eine ganze Woche in kompletter Abgeschiedenheit zu verbringen. Zum Beispiel auf "Goat Island" vor der Bucht von Hahei. Einen Rucksack voll Konserven, Trinkwasser, Klopapier. Und dort Daniel Defoes Robinson Crusoe lesen. (Oder wieder lesen.)

Oder den Schweizer Robinson von Johann Wyss. Dieses seltsame Buch, das in der Schweiz selbst (und auch in Österreich und in Deutschland) so gut wie völlig untergegangen ist. In der englischsprachigen Welt dagegen ist Swiss Family Robinson bis heute das erfolgreichste Kinderbuch aller Zeiten. Es gibt mehr als 300 verschiedene Bearbeitungen davon. Eine der ersten stammt von Mary Shelley. Sie übersetzte das Buch in der Schweiz, als blutjunge werdende Mutter, gerade erst verheiratet, für den Verlag ihres Vaters. Quasi nebenher schrieb sie noch ein anderes Buch, ebenfalls in der Schweiz. Eine eigene Story. Betitelt: Frankenstein. Die ist dann auch ein Klassiker geworden.

Nun denn. Zu diesem "Buch für die Insel". Zuerst: Wie und wo ich ihm begegnet bin. Es war in Newtown, dem wahrscheinlich abgesandeltsten Stadtteil von Wellington. Abgesandelt ist hier das operative Wort, wenn man an die unzähligen Stadtstreicher denkt. Passender als abgefackt ist es auf alle Fälle. Die neuseeländische Hauptstadt unterhält hier ihren brandneuen Krankenhauskomplex samt den unzähligen aus der Psychiatrie entlassenen Freigängern, die bis zum Empfang ihrer täglichen Pillendosis durch die Straßen stromern. Daneben hausen die gewöhnliche Armut und ein buntes Kontingent verschiedener Völkerscharen aus Asien, Afrika und aus den Weiten des Südpazifik. Die Heilsarmee und andere wohlmeinende Organisationen betreiben ihre Missions-Boutiquen, die neben muffigen Gebrauchtkleidern auch Haushaltsgerät und Objekte aller Art zu Niedrigstpreisen anbieten. Und Bücher.

Hier blinzelte mir der Name "Marlen Haushofer" relativ schüchtern vom Rücken eines Paperbacks entgegen, das The Wall hieß. Marlen, ohne Schluss-E, also nicht Marlene, wie die Dietrich. Und anders als zum Beispiel "Herta Müller" war "Marlen Haushofer" ein Name, der sofort etwas Österreichisches suggerierte. Jedoch: Diese Autorin war mir noch nie untergekommen. In den vorausgegangenen 40 Jahren hatte ich mich über jede neue Entdeckung aus dem Bereich "österreichische Literatur" gefreut. Knapp die Hälfte dieser Jahre - das heißt, um’s genau zu sagen, 19 Jahre - hatte ich sogar in Wien verbracht. Unzählige Romane betrachtete ich als "Kult"-Fiction, die ich jedem, der es hören wollte, aufs Wärmste ans Herz legte. Aber: Irgendwas von "Marlen Haushofer" war nicht mit dabei gewesen.

Zwei Dollar sollte dieses Buch nun kosten, knapp einen Euro. Ein Schnäppchen. Doris Lessing (da noch nicht die Nobelpreisträgerin) wurde auf dem Cover zitiert: "The Wall is a wonderful novel ...". Auf der Rückseite stand eine Erweiterung des Zitats: "It is as absorbing as Robinson Crusoe." Darunter das Bild der mir unbekannten Autorin und dazu der Vermerk: "Marlen Haushofer is among Austria’s best known authors. The Wall is considered her greatest literary achievement." Die Übersetzung war von Shaun Williams, einem Mann. Erschienen war der Roman bei Cleiss Press, einem amerikanischen Frauenverlag mit stark feministisch-lesbischer Ausrichtung.

Hm, dachte ich. Eine lesbische Robinsonade? Ob ich das brauche? Aber was dann bei meiner Kaufentscheidung schlussendlich doch den Ausschlag gab, war (neben dem geringen Preis) zunächst einmal das Lesezeichen des Wiener Buchladens Shakespeare & Company, das zwischen den Seiten 134 und 135 eingelegt war. Es regte zu Spekulationen an. Wann und auf welchen Wegen oder Umwegen mochte das Buch wohl hierher gelangt und auf diesem Regal in der St Vincent de Paul Society in Newtown gelandet sein?

Wie auch immer. Der Sex spielte in der Geschichte jedenfalls keine Rolle. Und die Übersetzung war ausgezeichnet. Ich genoss die Lektüre als wäre es eine Novelle aus dem 19. Jahrhundert. Irgendwas aus der Nachfolge der Droste-Hülshoff, eines Grillparzer oder Stifter. Aber natürlich modern gewandet. Eine utopische Geschichte aus dem Zeitgeist der frühen Sechzigerjahre. Erschienen 1963 in Wien. Ich las das Buch, wie man so sagt, "in einem Zug" - also "praktisch ohne Unterbrechung", "am Stück". Zum Schluss war ich den Tränen nahe. Oder nein. Um die Wahrheit zu gestehen: Ich schluchzte. Ich war zutiefst bewegt, als wäre ich irgendwie persönlich in der Sache involviert. Die Geschichte schwang wie ein großer Glockenklang noch wochenlang in mir nach.

Nun wollte ich das Buch auch einmal auf Deutsch lesen. Ich kannte das schon, dass man einen Roman zunächst in einer Übersetzung und dann in der Originalsprache las und dabei eine ganz andere Welt betrat, ein Panoptikum, das man so, in dieser Art, nicht erwartet hatte. Im Guten wie im Schlechten. Ich wollte wissen, wie dieses Buch sich anfühlte. Im Original. Ob ich dem Text noch näher kommen könnte. Und - hah! Zufällig war das Wellingtoner Goethe-Institut (ebenfalls ohne Schluss-E, wie die Marlen), gerade in diesem Moment damit beschäftigt, eine ganze Fuhre älterer Bücher auszumisten. Viel edle Klassik, nie von irgendwem gelesen. Eine ganze Menge aus der Schweiz. Wenig oder gar nichts aus der DDR. Und bei alledem nur ein einziges Buch österreichischer Provenienz. Eben: Die Wand von Marlen Haushofer. Und welch Glück: Ich war genau im richtigen Moment zugegen, um es mir zu krallen. Einer dieser komischen oder kosmischen Zufälle, für die man sich noch Jahre später "beim Universum" bedankt.

Die Überraschung war, dass das Buch auf Deutsch noch schöner war. Witzig, sicher, dass es in einer Reihe, "Die Frau in der Literatur" erschienen ist, mit einem Nachwort von Klaus Antes, einem Mann. Die Wiener Erstveröffentlichung von 1963 wird auf dem Buchrücken stillschweigend übergangen, erst die deutsche, 1968, erscheint dann erwähnenswürdig. Schnurz. Was zählt, ist der Text.

Und der pulsiert mit einem epischen Atem, ohne Pathos, ohne Elegie - und immer wieder blitzt für kurze Momente auch der Humor auf, die Komik. Die namenlose Erzählerin (d.h. die "Robinson"-Figur der Geschichte, nicht die Autorin, nicht Marlen Haushofer selbst) zeigt uns, wenn man sie sich einmal als Katze in einem Trickfilm vorstellen möchte, ab und zu auch ihre Krallen, und es funkelt dann, quasi, wie mit einem kleinen Glöckchen-Ton untermalt. "Bling!"Wunderbar!

Das echte Robinsonerlebnis stellte sich für mich ein, als ich kurze Zeit später ein wunderschönes, aber schon arg baufälliges Haus am Hang anmietete. Vor mir lagen ein oder zwei Hektar Wildnis. Hinter mir noch mehr Pflanzenwuchs, aber stärker ausgeprägt: undurchdringlicher Urwald. Links und rechts kein Nachbar und ungetrübt der Blick geradeaus aufs Meer hinaus, auf die ausgedehnte, hufeisenförmige Bucht von Wellington. Leicht seitwärts (aber direkt hinter dem Haus, fast schon besorgniserregend) stand ein doppelt ineinander verflochtener, riesiger Makrocarpa-Baum, zu Deutsch: Eine Monterey-Zypresse, ein amerikanischer Import, der in Neuseeland besonders großwüchsig in den Himmel ragt.

Es war unmöglich, mit meiner kleinen Kamera ein glaubwürdiges Foto dieses Baumes einzufangen - bis ich zufällig den einen Ast entdeckte, der wie der Rüssel und Kopf eines urweltlichen Mammuts bedrohlich über das Dach des Hauses hinüber zu schwenken schien. In Wirklichkeit war der Ast vergleichsweise klein, der gigantische Baum selbst erhob sich turmhoch erst 15 Meter darüber. Aber es reichte, um die Situation in einem Foto festzuhalten: der Baum, das Haus, das Meer. Robinsons Hütte.

Hier las ich das Buch noch einmal, teils real unter dem Baum sitzend, vom charakteristischen Geschnarre und Gepfeife neuseeländischer Vögel begleitet, die gerade diesen Baum als ihre Hochburg ausgewählt hatten.

Und ich war wieder aufs Neue verblüfft über die Story selbst. Die Grundfrage lautet natürlich: Wie konnte irgendjemand, noch dazu in Österreich und im Jahr 1962, als die Haushofer ihren Roman niederschrieb, überhaupt eine Robinsonade erfinden? Eine Robinson-Geschichte, die in Österreich angesiedelt ist? Woher nahm die Autorin die Idee dazu?

Eine Antwort erschloss sich mir, als wir hier in Neuseeland den Hochsommer hatten - zur Weihnachtszeit. Die Türen und Fenster standen offen, ich war zu Besuch im Haus meiner Tochter. Ein Jungvogel flog herein und knallte gegen das große Panoramafenster im Wohnzimmer. Blut überall, Federn. Eine unsichtbare Wand. Und genau eine solche unsichtbare, harte, durchsichtige, also "gläserne" Wand ist es auch, die plötzlich aus irgendeinem unbekannten Grund in Marlen Haushofers Roman auftaucht und ihm den Namen gibt.

Komischerweise entdeckte ich das Thema zugleich auch in einem Micky-Maus-Heft aus dem Jahr 1962. Möglich also, dass die Autorin gerade diese Geschichte damals ihren beiden Söhnen vorgelesen oder selber in einem Heft ihrer Kinder entdeckt hat. Micky fliegt da in einem Flugzeug und knallt mitten in der Luft gegen eine unsichtbare Wand. Kater Karlo, der Erz-Bösewicht in diesen Comics, hat eine Maschine gekapert, die mit magnetischen Wellen eine unsichtbare Barriere in der Luft errichtet. In deren Windschatten treibt er dann ungestört seine schuftigen Geschäfte, bis ihm Micky auf die Schliche kommt.

Die Erzählerin in Die Wand findet sich, durch einen ähnlichen Science-Fiction-Kniff, unvermutet eingekesselt in einem Wald - am Leben geblieben hinter einer gläsernen Wand, als Gefangene/Freigängerin in der Jagdhütte ihres Schwagers. Ein Robinson-Schicksal, angesiedelt auf einer Jagd, irgendwo in Oberösterreich. Bei aller Grübelei bleibt das Geschehen für sie gleichwohl undurchdringlich. Woher kam die Wand? Entstand sie infolge eines Atomkriegs? fragt sich die namenlose Frau; hat es irgendwo Sieger gegeben oder ist sie die einzige Überlebende auf der Welt? Manchmal fühlte ich mich beim Lesen an einen Vergleich zwischen Klagenfurt und Queenstown in Neuseeland erinnert. Aber eigentlich erschien mir die künstliche Insel des Romans nicht als Vexierbild eines realen Pendants im Südpazifik. Marlen Haushofers Welt ist eine ganz eigene Welt für sich.

Und damit bin ich auch schon am Schluss meiner Empfehlung zum Weiterlesen angekommen. Ich werde über den Roman nicht mehr verraten. Für Hörbuch-Fans (zu denen ich selbst gehöre) will ich aber noch erwähnen, dass es wenigstens zwei (jeweils unterschiedlich gekürzte) kommerziell greifbare Lesungen des Romans gibt. Eine von Julia Stemberger, der Wiener Schauspielerin, die diesen Roman einer österreichischen Schriftstellerin offenbar mit Blick auf ein vornehmlich deutsches Hörpublikum in einem gepflegten Theaterdeutsch liest, und eine von Elisabeth Schwarz, der "deutschen Stimme von Meryl Streep". Was jetzt noch fehlt, wie ich meine, ist eine schöne österreichische Lesung - zum Beispiel von Ulrike Beimpold. Die ja auch die Fifi-Mutzenbacher-Geschichte "literaturfähig" gemacht hat. Ich für meinen Teil kann von diesem Roman jedenfalls einfach nicht genug kriegen. Auch audiomäßig nicht.

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