"Ossis" gestern und Griechen heute

Jörg Roesler über das DDR- und Griechenlandbild in der Öffentlichkeit und der Realität

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Der Wirtschaftshistoriker Jörg Roesler sieht Parallelen zwischen dem westdeutschen Bild von der DDR und dem heutigen deutschen Bild von Griechenland. Ihm zufolge stürzt sich das Image in beiden Fällen nicht nur auf Tatsachen, sondern auch auf Ressentiments, die über Medien und die Politik verbreitet werden.

Herr Roesler, wenn Sie das Bild von den "Griechen", das heutzutage durch die Medien schwirrt, mit dem der "Ossis" nach der Wiedervereinigung vergleichen, welche Ähnlichkeiten können Sie ausmachen?

Jörg Roesler: Es gibt verblüffend viele Ähnlichkeiten und diese betreffen ganz wesentliche Probleme. Erstens: Den Arbeitenden in beiden Ländern wurde beziehungsweise wird vorgeworfen, dass sie sich beim Arbeiten nicht genügend anstrengen. Bei den Griechen wird dabei eine angebliche mediterrane Mentalität ins Gespräch gebracht. Die Ostdeutschen, so hieß es, hätten das Arbeiten verlernt. Sie seien durch vier Jahrzehnte Staatssozialismus verdorben und aus disziplinierten und fleißigen Preußen zu "faulen Ossis" geworden.

Zweitens: Das Zurückbleiben in der wirtschaftlichen Entwicklung habe auch damit zu tun, dass die leitenden Funktionen im Staat in der DDR wie in Griechenland nicht nach Sachverstand, sondern nach Parteizugehörigkeit verteilt wurden.

Dadurch habe sich drittens die wirtschaftliche Leistungskraft der DDR wie auch Griechenlands immer mehr verringert, was sich am deutlichsten im stetig wachsenden Außenhandelsdefizit ausdrückt.

Ungeachtet dessen hätten viertens die Herrschenden in der DDR wie auch in Griechenland weiterhin noch Wohltaten an das Volk verteilt, als das Land bereits von der Substanz lebte, weil sie fürchteten, sonst den Volkszorn herauszufordern und die Regierungsgewalt zu verlieren.

Um gegenüber ihren Wirtschaftspartnern, ja - gegenüber der Welt zu verbergen, dass man große wirtschaftliche Schwierigkeiten hat, hätten die DDR - wie die griechische Regierung - fünftens ihre Wirtschaftsdaten gefälscht.

Sechstens hätte sich infolge falscher Wirtschafts- und Sozialpolitik die DDR ebenso wie Griechenland blindlings immer mehr verschuldet. Die Zahlungsunfähigkeit war so fast unvermeidlich, die DDR und Griechenland gingen bankrott (beziehungsweise der Bankrott konnte nur durch Hilfe von außen verhindert werden).

Eine siebente Gemeinsamkeit in den Auffassungen von der DDR beziehungsweise von Griechenland ist deren Überzeugung, dass die Schuld für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere die DDR beziehungsweise die Griechen (Volk wie Regierung) ganz allein tragen. Externe Ursachen, eventuell sogar eine west- beziehungsweise gesamtdeutsche Mitverantwortung, werden einfach nicht in Betracht gezogen.

Geben diese Auffassungen die Wirklichkeit wieder oder sind sie schwerwiegend ideologisch verzerrt und lassen sich darin sogar rassistische Argumentationsmuster erkennen?

Jörg Roesler: Was die Bezeichnung "rassistisch" betrifft, so ist sie meines Erachtens zu hoch gegriffen. Die Ostdeutschen und Griechen haben die gleiche Hautfarbe wie die Westdeutschen, anders etwa als in den USA die Latinos und Afroamerikaner – gegenüber denen die "weißen Amerikaner" Vorbehalte ganz ähnlicher Art äußern.

Wohl aber war (beziehungsweise ist) die Sicht auf die Ostdeutschen (beziehungsweise Griechen) von der Überzeugung der Mehrheit der Deutschen geprägt, deutlich fleißiger und tüchtiger zu sein. Sie fühlen sich als "Staatsbürger erster Klasse".Von dieser Warte aus werden die anderen als Deutsche beziehungsweise EU-Bürger zweiter Klasse abgestempelt und aus dieser Sicht beurteilt.

"Die Deutschen arbeiteten 2011 um ein Drittel weniger als die Griechen"

Es handelt sich also um ideologische Verzerrungen?

Jörg Roesler: Um schwerwiegende ideologische Verzerrungen handelt es sich bei diesen Urteilen wohl schon, denn sie geben in der Regel sehr einseitig die Wirklichkeit wieder. Oft ignorieren sie schlankweg Fakten. Nehmen wir zum Beispiel die "Faulheit", die Ost-Deutschen wie Griechen oft zum Vorwurf gemacht wird. Gewiss: Die Arbeitsintensität ist in der DDR beziehungsweise Griechenland sicher geringer gewesen. Wo aber beginnt die Faulheit? Und ist das westdeutsche "Fleißniveau" wirklich wünschenswert? Ist es nicht überzogen? Die wachsende Zahl der burn outs und Frühverrentungen aus gesundheitlichen Gründen spricht jedenfalls nicht für die Bundesrepublik.

Direkt vergleichbar ist die Länge des Arbeitstages. Daran gemessen waren Ostdeutsche und sind die Griechen fleißiger als die Bundesbürger. Nachmessbar ist auch die Jahresarbeitszeit: Die Deutschen arbeiteten 2011 nach OECD-Angaben im Durchschnitt um ein Drittel weniger als die Griechen (1.390 im Vergleich zu 2.119 Stunden). Und während die Beschäftigten in der Bundesrepublik in den 80er Jahren von der 40-Stunden-Woche auf die 35-Stundenwoche zusteuerten wurden in der DDR 43 ¾ Stunden gearbeitet.

"Gegen das Ossi-Bild kämpfen selbst Fachwissenschaftler vergeblich"

Welche Rolle spielte das in den Medien vermittelte Bild der DDR in Westdeutschland bei der Entstehung des Bildes vom "Ossi"?

Jörg Roesler: Meines Erachtens die entscheidende Rolle. Das Bild vom Ostdeutschen wurde nicht geprägt durch die Hunderttausende, die nach der Maueröffnung im Westen Arbeit aufnahmen oder durch diejenigen "Wessis", die (von der Treuhand in den neuen Bundesländern als Betriebsleiter eingesetzt) Positives über die Arbeitsweise und Arbeitsauffassung der Ostdeutschen berichten konnten, sondern von den Medien, die die Ostdeutschen als zu keiner Anstrengung bereit und für die Bewältigung der anstehenden Probleme unfähig charakterisierten, wie das, um nur ein Beispiel zu nennen, in dem Buch von Thomas Roethe: Arbeiten wie bei Honecker, leben wie bei Kohl - Ein Plädoyer für das Ende der Schonfrist nachzulesen ist.

Gegen das Ossi-Bild in den Medien kämpfen selbst Fachwissenschaftler vergeblich: Psychologen stellten schon Mitte 1992 fest, "dass sich die wirtschaftsrelevanten Nachteile in der Leistungs- und Persönlichkeitsstruktur bei Mitarbeitern in den neuen Bundesländern auf sehr wenige Teilbereiche beziehen".

Aber warum verhielten sich die Medien so?

Jörg Roesler: Eine treffende Antwort darauf hat meines Erachtens bereits besagte Ingrid Strateman gegeben: "Dadurch, dass die 'armen Ossis' alles schlechter machen, nichts produzieren, zu keiner Anstrengung bereit sind, wie dies in den Massenmedien verbreitet wird, erfahren die Bürger der alten Bundesrepublik ohne jedes Zutun eine soziale Aufwertung".

Mit anderen Worten: Die Medien schreiben (beziehungsweise berichten), was ihre Zuschauer (beziehungsweise Zuhörer) gern hören und lesen.

Diese Grundhaltung dürfte in den 90er Jahren wesentlich auch die Vorstellungen der westdeutschen Bevölkerung über andere Seiten des Lebens in der DDR bestimmt haben. Ebenso wie sie heute die Einstellung zu den Griechen mitbestimmt.

In welchen Bereichen ist diese Haltung besonders ausgeprägt?

Jörg Roesler: Zum Beispiel bei dem monierten Einfluss der Parteizugehörigkeit auf die Ämter- beziehungsweise Funktionsauslese. Das stimmt zunächst einmal sowohl für Griechenland als auch für die DDR. Mit dem Unterschied allerdings, dass sich in Griechenland, einer parlamentarischen Demokratie, ein Klientelparteiensystem herausbildete, bei dem zwei Parteien abwechselnd die Regierung stellten. In der autoritär regierten DDR war es dagegen nur eine Partei, die SED. Zumindest für die DDR gilt aber auch (und das bleibt meist unbeachtet): In Funktionen berufen wurde man in der Regel nicht ohne Absolvierung eines Studiums und unter Bezugnahme auf berufliche Erfahrungen. Parteizugehörigkeit allein reichte in der Regel nicht aus.

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