Kinder weg von den Bildschirmen

"Ärzte und Gesundheitsbehörden sollen Grenzen setzen wie beim Alkohol"

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Dem britischen Biologen und Psychologen Dr. Aric Sigman kann man fürwahr keine eilfertige, opportunistische Begeisterung für Smartphones und Tablets vorwerfen. Auf die von manchen Eltern geäußerte Sorge, ihr Kind könne, wenn man es nicht genügend mit solchen Touch-Screens spielen lasse, den Anschluss verpassen, reagiert er mit einem Verweis auf Studien mit Affen. Selbst Rhesusaffen könnten damit bequem umgehen. Auch Orang-Utans würden begreifen, dass sie Tablets weniger als Spielzeug, sondern als Werkzeug benutzen können. Die beiden Verweise am Ende seines 6seitigen Artikels sind signifikatant für Sigman.

Sigman ist bekannt dafür, dass er bei seinem Engagement für gesundheits- und qualitätsbewusste Erziehung auf Darstellungen zurückgreift, die missverstanden werden können. Als manche Medien aus einem seiner Arbeiten, die sich mit der Gefahr von allzu zeitintensiver Beschäftigung mit Social Networking auseinandersetzt, geschlossen haben, Facebook et al. könne "Krebs oder Krankeiten" verursachen, sei dies völlig falsch verstanden worden, so Sigman. Aber reiner Zufall ist es auch nicht.

Denn auch seine aktuelle Arbeit, die vor gesundheitlichen Folgen warnt, die das Verbringen langer Stunden vor Bildschirmen für Kinder haben kann (Time for a view on screen time), ist deutlich von einem unbedingten Engagement für die Sache getragen, das nüchterner wissenschaftlicher Überprüfung bzw. einem Genauigkeitsanspruch an manchen Stellen ausweicht und das Plädoyer bevorzugt.

Sigman will die britische Öffentlichkeit aufrütteln, Politiker und Eltern, die nicht sehen wollen, welche fatalen Konsequenzen es haben kann, wenn Kinder zu viel Zeit vor den vielen Bildschirmen verbringen. Er will, dass die Gesundheitsbehörden Empfehlungen für akzeptable "Screen Time" (ST) aussprechen. "Ärzte und Gesundheitsbehörden sollen Grenzen setzen wie beim Alkohol", so der Eingangssatz eines Guardianberichts über Sigmanns Artikel, der aktuell in einem Fachmagazin erscheint. Die Assozation mit Alkohol ist nicht willkürlich, in seinem Artikel verweist Sigman im Zusammenhang mit Screen-Time-Beschränkungen auf Erfolge in der Öffentlichsarbeit beim Thema Passivrauchen.

Geht es nach Sigman, so sollen Eltern Unter-Dreijährige überhaupt nicht vor den Bildschirm lassen. Was Erziehungsberechtigte, die ihr Kind zuhause erziehen, mitunter vor Probleme stellen kann, weil sich Bildschirme in der Praxis oft als schnell verfügbare, praktische Kindersitter erweisen. Die Bilschirmzeit für ältere Kinder soll nach Sigman allmählich auf bis zu zwei Stunden täglich für über 16-Jährige ausgedehnt und beschränkt werden. Auf keinen Fall sollen sich Bildschirmgeräte in Kinderzimmern befinden.

Ideal discretionary ST limits are:
- 3-7 years: 0.5-1 h/day
- 7-12 years: 1 h
- 12-15 years: 1.5 h
16+ years: 2 h

Den Forderungen stellt er sehr viel höhere Zahlen der derzeitigen Praxis gegenüber. Dazu holt er weit aus. Das Sitzen vor Bildschirmen sei die zeitintensivste Freizeitbeschäftigung aller Kinder in den Industrienationen.

Im Verlauf ihrer Kindheit verbringen Kinder mehr Zeit mit Fernschauen als in der Schule. Schließt man Computerspiele, DVDs und Internet mit ein, so wird ein heute geborenes Kind im Alter von sieben Jahren, ein ganzes Jahr, täglich die vollen 24 Stunden, damit verbracht haben, vor einem Bildschirm zu sitzen. Im Alter von 18 Jahren wird der durchschnittliche europäische Heranwachsende, 3 Jahre seines Lebens derart verbracht haben. Hochgerechnet auf ein Lebensalter von 80 Jahren wären es 17,6 Jahre, die die Person am Bildschirm geklebt hat.

Das Bild ist eindrucksvoll und auf rhetorische Wirkung bedacht. Die würde schon etwas weniger wuchtig ausfallen, wenn man die Bildschirmaktivitäten voneinander unterscheidet. Es bestehen größere Unterschiede allein zwischen TV-Programmen, zwischen dem Chat bei Facebook und der Antwort auf Fragen zur Lektüre von Büchern, wie sie Schüler bei Antolin eingeben, zwischen Informationsbeschaffung im Netz und Bedröhnung durch Werbung und platte Serien, zwischen Computerspielen und seichter Berieselung.

Sigman kommt es auf solche Unterschiede nicht bedeutend an, er argumentiert mit der schieren Masse an Zeit, die auf gesündere Art besser nicht vor dem Bildschirm verbracht wird.

"ST erhöht das Risiko für Herz-Kreislauferkrankungen"

Auch bei der großen Reihe von Untersuchungen, die der Mahner Sigman zitiert, um auf die vielfältigen Schäden aufmerksam zu machen, die lange Screen-Time bewirkt, unterscheidet Sigman nur selten, ob es sich um Computerspiele oder Fernschauen handelt. Nur einmal, wo es um Auswirkungen auf den Blutdruck geht, verweist Sigman deutlich darauf, dass es Unterschiede in den sitzenden Beschäftigungen gibt, dass bedenkliche Werte, die bei Fernschauern aufgetreten sind, bei Computerspielern (wie auch bei Buchlesern) nicht gefunden wurden.

Ansonsten lässt er die Untersuchungen, die einen Zusammenhang von Screen-Time mit schädlichen Auswirkungen statuieren, gleichsam im Gleichschritt paradieren, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, wie sie sich etwa in der Auswahl des Alters der untersuchten Gruppe, Methodik und Art der Bildschirmaktivität unterscheiden.

Würde man die so aufbereiteten Wirkungen wie bei Tabak oder Zigaretten auf Bildschirme kleben - wogegen Sigman vermutlich nicht allzu viel einzuwenden hätte - , dann könnte man lesen, dass allzulange Bildschirmaktivitäten zu Herz-Kreislauferkrankungen führen können, das Risiko für Typ-2-Diabetes erhöhen, Schlafstörungen verursachen, das Risiko für Fettleibigkeit erhöhen, ebenso das Risiko für Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS).

Verstärkte ST erhöht die Suchtgefahr, schränkt die Produktion von Spiegelneuronen ein, erhöht das Auftreten des metabolischen Syndroms, begünstigt soziale Inkompetenz und vermindert damit einhergehend Fähigkeiten zur Integration in eine Gemeinschaft, senkt die Fähigkeit zur Empathie etc. - und dies alles, so der durchgehende Faden des Sigman-Artikel, steht in direkter Abhängigkeit von der Anzahl der Stunden vor dem Bildschirm.

Dies ist die große Unterscheidung, auf die es ihm vor allem ankommt: weniger Stunden vor dem Bildschirm sind in jedem Fall besser, so lautet seine Botschaft. Manche Wissenschaftskollegen kommentieren dies damit, dass ihm die Sache wichtiger ist als wissenschaftliche Sorgfalt beim Nachweis von solchen Zusammenhängen. .