Angela Merkel in Athen

Gähnende Leere im Sperrbezirk. Bild: W. Aswestopoulos

Ein Erlebnisbericht

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Für knappe sechs Stunden, von 13:30 Uhr Ortszeit bis zu ihrem Abflug um 19:38 Uhr, weilte die Bundeskanzlerin in Athen. Wenn eine Kanzlerin eine Reise tut, dann steht für die Hälfte der besuchten Stadt das Leben still, im anderen Teil beherrschen Proteste das Straßenbild. Über Athener Randale gibt es zahlreiche Berichte. Wie aber erleben die Politiker und ihr Begleittross einen Staatsbesuch in einem Krisenland? Welche Eindrücke bieten sich Berichterstattern? Könnte diese Erfahrung nicht vielleicht mehr Rückschlüsse über mögliche Rettungsansätze liefern, als die endlosen, politischen Diskussionen und Reden?

Das Leben im Berichterstattertross

Spätestens ab 8 Uhr morgens Ortszeit glich das Athener Stadtzentrum einem militärischen Sperrbezirk. Überall und für die Dauer des gesamten Tags kontrollierten Polizisten die Bevölkerung, ohne Sondererlaubnis, sprich journalistischer Akkreditierung oder besonderem Passierschein, war kein Durchgang möglich. Zu intensiven Personenkontrollen kam es auch in den späten Abendstunden, als die Kanzlerin längst abgereist war. Ein fremder Regierungschef erlebt den alltäglichen Wahnsinn Griechenlands noch weniger als die einheimischen Politiker, die zumindest die Gelegenheit haben, über die Presse von den Leistungen ihres Staatsapparats zu erfahren.

Bild: W. Aswetsopoulos

Vieles wird überhaupt nicht bekannt gegeben. So hatte um 10 Uhr morgens der Dienst habende Polizeioffizier am Eingang des Hilton Hotels keinen Schimmer, wen er durchlassen durfte und wen nicht. Im Hilton war eigens ein Pressezentrum für 500 Journalisten und Fotografen eingerichtet worden. Das Hotel wurde am Montag aus sicherheitstechnischen Gründen dem traditionellen Zappeion-Pressezentrum vorgezogen. Es sollte ab 9 Uhr für die Akkreditierten offen stehen. Nachzügler sollten hier ihre Akkreditierungen abholen können.

Für jeden von der Kanzlerin aufgesuchten Ort war ein getrennter Antrag erforderlich. Das lag schlicht an der Tatsache, dass jeder dieser Orte einem anderen Amt unterstand. Die allgemeine Akkreditierung unterstand direkt dem Presseministerium. Sie erlaubte eine mehr oder weniger eingeschränkte Bewegung innerhalb der Sperrzone. Für die Ankunft der Kanzlerin am Athener Flughafen war ebenso ein weiterer Antrag zu stellen, wie für den Empfang beim Premierminister und beim nur fünfzig Meter daneben residierenden Staatspräsidenten. Während für letztere die zugelassenen Teilnehmer ausgelost wurden und von ihrem Glück am Dienstagmorgen erfuhren, gab es eine weitere Veranstaltung, ein informelles Gespräch der Kanzlerin, Premierminister Samaras und Staatsminister Hans-Joachim Fuchtel mit Industrievertretern. Diese Veranstaltung lief unter der Schirmherrschaft der Deutschen Botschaft in Athen.

Merkel und Samaras einigen sich über die Sitzordnung. Bild: W. Aswetsopoulos

Alle Anträge liefen jedoch über ein für deren Sammlung zuständiges Büro des Presseministeriums. Für jeden Ort mussten die dortigen Mitarbeiter einzeln, farbig gekennzeichnete Plastikkärtchen ausdrucken. Eine Sisyphusarbeit, für die nur ein einziger Spezialdrucker zur Verfügung stand. Dementsprechend waren die Beamten, die alle eine bestimmte Aufgabe und Funktion wahrnahmen ohne die mittlerweile gestrichene Überstundenbezahlung am Montag bis spät in die Nacht beschäftigt. Denn für jeden Ausweis musste der jeweilige ebenfalls stundenlang wartende Pressevertreter seine Unterschrift leisten.

Die Kanzlerin nutzte jede Gelegenheit zum Smalltalk. Bild: W. Aswetsopoulos

Der Besuch der Kanzlerin war erst am Freitag angekündigt worden. Erst am Montag stand fest, wie das Prozedere der Akkreditierung abzulaufen hatte. Auch dies ist typisch im krisengeplagten Griechenland. An allen Ecken und Enden fehlt - auch wegen immer neuer Reformen - die Planungssicherheit. Die Anschaffung weiterer Drucker verbietet sich natürlich in Zeiten des Sparzwangs. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn dieses vollkommen überlastete Gerät seinen Geist aufgegeben hätte.

Surreal leer - die sonst belebte Athener City vor 20 Uhr. Bild: W. Aswetsopoulos

Perfekt organisiert warteten bei der Rezeption die rastlos arbeitenden Mitarbeiter des Presseministeriums am Dienstagmorgen auf ihre lange ausbleibende Kundschaft. Denn in der Eile wurde offenbar seitens der Polizeiführung vergessen, die Wachmannschaft darüber zu informieren, dass akkreditierte Journalisten ein Pressezentrum zur Ausübung ihrer Tätigkeit auch betreten müssen. Zwar klärte sich dieses Missverständnis einige aufgeregte Telefonate seitens der Journalisten später innerhalb kurzer Zeit dadurch, dass die Pressebetreuer den Polizeioffizier über seinen Fauxpas informierten. Zur Ehrenrettung des zerknirschten Beamten sei erwähnt, dass er überaus freundlich um Entschuldigung bat und glaubhaft beweisen konnte, dass er von wo auch immer, schlicht die falschen Anweisungen erhalten hatte. Ohne Befehle und Anweisungen konnte das pflichtbewusste Amtsorgan nicht reagieren. Jedoch zeigt dieses Beispiel, dass der reisenden Kanzlerin entging, woran es im Land wirklich hakt.

Bild: W. Aswetsopoulos

Die Griechen sind, so zeigt die Erfahrung nahezu aller Berichterstatter vor Ort, weder fauler als die übrigen Europäer noch auf ihre Person bezogen unproduktiv. Das im bürokratischen Chaos erstickende, fehlende Zusammenspiel der einzelnen Behörden und Ämter zerschmettert jedoch jeden Versuch, die Frucht der jeweiligen Arbeit zu ernten.

Touristenzüge ohne Touristen

Ob es an einem Tag mit angekündigter Vollsperrung der Innenstadt sinnvoll ist, touristische Sightseeing-Touren anzubieten, sei dahingestellt. Tatsächlich fuhren diese bis zur endgültigen Sperrung der City nahezu leer durch die Straßen. Zu diesem surreal erscheinenden Bild gesellte sich wenige Stunden später ein weiteres Detail touristischer Erlebnisreisen. Das Athener Hilton Hotel zählt sicherlich nicht zu den preiswerteren Adressen der griechischen Hauptstadt. Dennoch mussten die am Dienstag ankommenden Touristen während der Zeit des Besuchs der Kanzlerin, so sie denn die Polizeikontrollen erfolgreich passieren konnten, zumindest das letzte Wegstück zu Fuß zum Hotel kommen.

Politischer Aktionismus, wenn die Kameras da sind

Der Vorsitzende der noch frischen Parlamentspartei Unabhängige Griechen, Panos Kammenos, wählte ausgerechnet den Dienstag, um mit einer Abordnung zur deutschen Botschaft zu eilen. Natürlich traf er auf geschlossene Türen, denn dies stand aufgrund der Sicherheitsmaßnahmen fest.

Athener Graffiti zum Kanzlerbesuch. Bild: W. Aswetsopoulos

Dafür hatte Kammenos Kameras dabei und schlug demonstrativ ein Protestschreiben an die Tür der deutschen Botschaft an. Während der Zorn der von Sparmaßnahmen und überbordender Bürokratie malträtierten Durchschnittsbürger gegen den Besuch der Kanzlerin sicherlich individuell nachvollziehbar und berechtigt erscheint, hilft derartiger Aktionismus eventuell dabei, bei fanatischen Wählern zu punkten. Wirklich produktiv erscheint er aber nicht.

Die Industriebosse entdecken die wachsende Armut

Seitens des informellen Treffens der Industrievertreter mit Kanzlerin Merkel, Premier Samaras und Staatssekretär Fuchtel sickerte durch, dass selbst Dimitris Daskalopoulos, der Chef des Industriellenverbands SEV, keinen Sinn mehr in weiteren Gehaltskürzungen entdecken kann. Vielmehr, so die späte Einsicht, könne damit kein Wettbewerbsvorteil mehr erzielt werden. Stattdessen, so Daskalopoulos, aber auch Vertreter von Bosch, fehle es im Land vor allem an der Liquidität. Sprich, die Industrie verlangt nach frischem Geld.

Mit Geld allein dürften sich weder die organisatorischen Probleme des Staatsapparats bewältigen lassen, noch kann, das zeigt das Ergebnis der letzten zwei Jahre, die Produktivität Griechenlands über Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen wieder hergestellt werden. Daskalopoulos verlangte, für einen Industriefunktionär ungewöhnlich, die Wiederherstellung der Tarifautonomie sowie die Rücknahme bereits erfolgter, gesetzlich der Privatwirtschaft verordneter Kürzungen. Er beschuldigte den Vorsitzenden der sozialistischen PASOK, Evangelos Venizelos, dass dieser als Finanzminister die Lohnkürzungen selbst vorgeschlagen und hinter dem Rücken der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbände ausgehandelt habe.

Eine Katze des Amtsitzes von Samaras. Bild: W. Aswetsopoulos

Mit diesem Detail wird der durch den Kanzlerbesuch aufgewertete Antonis Samaras weiter gestärkt, während die PASOK geschwächt wird. Die Kanzlerin traf bei ihrem kurzen Besuch weder auf die Koalitionspartner Samaras, Venizelos und Fotis Kouvelis (Demokratische Linke), noch auf Oppositionsführer Alexis Tsipras von SYRIZA. Sie traf leider auch nicht auf einfache Bürger des Landes.

"Vielleicht", kommentierte ein griechischer Kneipenwirt nahe dem Syntagmaplatz nach der Abreise der Kanzlerin, "sollte die Kanzlerin beim nächsten Mal statt einem großen Staatsbesuch schlicht eine Person ihren Vertrauens in den griechischen Alltag entsenden." Wahrscheinlich würden bei der Entdeckung der oben beschriebenen Schildbürgerstreiche des griechischen Beamtenapparats viele Fragen zur Tragödie geklärt sein.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die Beamten des Presseministeriums erst spät nach 20 Uhr dienstfrei hatten. Am Mittwoch steht der nächste Staatsbesuch an. Der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu schaut beim Nachbarn vorbei.