Schmutzigbraunes Aquarell

Merleau-Ponty und der NSU-Untersuchungsausschuss in Bayern

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Wir wissen nicht, ob Gerhard Forster schon mal in Maurice Merleau-Pontys "Phänomenologie der Wahrnehmung" geschmökert hat und dabei über Sätze wie diesen gestolpert ist: "Aber Empfindungen und Bilder, die angeblich Anfang und Ende aller Erkenntnis sind, treten in Wahrheit je schon in einem Sinnhorizont auf, die Bedeutsamkeit des Wahrgenommen, anstatt aus Assoziationen zu resultieren, liegt in Wahrheit jeder Assoziation schon zugrunde, handle es sich um die Synopsis einer gegenwärtigen Gestalt oder um die Erinnerung einstiger Erfahrungen."

Gut, Gerhard Forster war als Präsident des bayerischen Landesamtes für Verfassungsschutz von 1994 bis 2001 wohl eher mit Aktenstudium beschäftigt, hat aber in dieser Funktion schon was mit Merleau-Ponty zu tun: Bei beiden geht es doch um das Wahrnehmen.

Zum Beispiel um das Wahrnehmen der NSU-Mörderzelle, die in Bayern fünf Menschen umgebracht und von der der bayerische Verfassungsschutz nichts gewusst hat. Hat jedenfalls jetzt Ex-Präsident Forster vor dem Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtages gesagt, als er am Dienstag als erster Zeuge angehört worden ist.

Der "Ausschuss Rechtsterrorismus Bayern – NSU" wurde am 4. Juli 2012 auf Antrag der Opposition im bayerischen Landtag eingesetzt und hat sich vor dem Sommer in zwei Sitzungen mit Verfahrensfragen beschäftigt. "Da fünf der Mordanschläge in Bayern verübt worden sind, gebietet es der Respekt vor den Opfern und ihren Angehörigen, auch in Bayern einen Untersuchungsausschuss einzusetzen, zumal auch Vorwürfe gegenüber bayerischen Sicherheits- und Justizbehörden erhoben werden und die bisherigen Antworten der Staatsregierung auf entsprechende Anfragen nicht erschöpfend waren", so die Begründung des Antrages. Dabei sei auch zu überprüfen, "welchen Umgang die Ermittler mit den Angehörigen der Opfer an den Tag gelegt haben, der zum Teil dazu geführt haben soll, sie als Teil eines kriminellen Systems zu stigmatisieren, und welche Konsequenzen hieraus zu ziehen sind".

Außerdem solle sich der Untersuchungsausschuss ein Gesamtbild verschaffen über rechtsextremistische Strukturen und Aktivitäten in Bayern seit dem Jahr 1994, die Einschätzung der Gefahren des Rechtsextremismus und die Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung, über das Geschehen seit dem Untertauchen der mutmaßlichen Täter am 26. Januar 1998, insbesondere zu den Erkenntnissen bayerischer Sicherheitsbehörden über ihren Aufenthalt, und darüber, ob sie mit Personen aus Bayern Kontakt hatten und ob und inwieweit sie von diesen unterstützt worden sind. Das Bezugsjahr 1994 wurde gewählt, weil in diesem Jahr erstmals Kontakte eines der mutmaßlichen Mittäter nach Bayern anlässlich eines Neonazitreffens nachgewiesen sind.

Nein, hat nun Forster vor dem Ausschuss gesagt, man habe also hineingehört in die Szene, es kam aber nichts zurück. "Das Ergebnis war gleich Null", so der Ex-Präsident. Und nein, der Verfassungsschutz habe in dieser Hinsicht keine Fehler gemacht, man habe ja nur die Quellen abfragen können. "Was hätten wir denn sonst tun sollen?" Bei NSU habe es sich um eine kleine konspirative Zelle gehandelt und "wir hatten niemand dran".

Und dann blitzt in der mehrstündigen Verhandlung plötzlich ein Bezugspunkt zu Merleau-Ponty auf. Denn der sagt in seinem obigen Satz quasi nichts anderes, als dass unser Wahrnehmen vorstrukturiert ist, wir also nur erkennen, was wir schon kennen. Und der Ausschussvorsitzende Franz Schindler (SPD) hatte in einem Interview sinngemäß gesagt, dass der bayerische Verfassungsschutz sozusagen auf dem rechten Auge eher blind sei und dafür gerne zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) ins Blickfeld nehme. Und Schindler erinnerte schon mal daran, dass der Verfassungsschutz mit alten Nazis aus SS und Gestapo aufgebaut wurde. Schindler wendet also quasi Merleau-Ponty auf den bayerischen Verfassungsschutz an und thematisiert dessen Wahrnehmungsmuster, die historisch vor allem gegen Links strukturiert waren.

Forster liefert dazu auch ein interessantes Detail: Der Verfassungsschutz, sagt er, war bis 1989 vor allem gegen links gerichtet, 70 Prozent der Mitarbeiter beschäftigten sich mit dem linken Spektrum, darunter zum Beispiel eben die VVN. Erst nach dem Mauerfall verschoben sich die Gewichte hin zur Beobachtung der rechtsextremen Szene, 2001 habe das Verhältnis der Beobachtung von "Links" und "Rechts" 40 zu 60 gestanden.

Ja, so ist das mit dem Verfassungsschutz, der Wahrnehmung und Merleau-Ponty. Wenn man was erkennen will, sollte man schon eine Vorstellung haben. Vorlagen hätte es dafür schon gegeben. Zum Beispiel den Untersuchungsausschuss des bayerischen Landtages von 1924 bis 1928, der sich mit dem skandalös-milden Urteil gegen Adolf Hitler beschäftigte. Der Hitler-Putsch 1923 in München hatte vier Polizisten das Leben gekostet.

Historische Erkenntnis und wahrnehmungsrelevante Reflexion für den Verfassungsschutz hätte dabei sein können, dass in Bayern der Feind traditionell links steht, während der rechte Rand sich historisch schon immer in Richtung Mitte hin vermischte, so wie bei einem schmutzigbraunen Aquarell. Und dass die NSU-Täter sozusagen in der Wahrnehmungsstruktur des Verfassungsschutzes gar nicht vorgesehen waren.