Universelle Prinzipien für das Internet

Wie geht es weiter mit der Internet Governance? Politik von oben oder Organisation von unten?

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Der vom britische Außenminister William Hague 2011 initiierte "Londoner Prozess" zur Ausarbeitung globaler Internet-Prinzipien (Kalter Krieg im Cyberspace oder konstruktiver Dialog?) droht Opfer seiner konzeptionellen Schwäche zu werden. Die Anfang Oktober 2012 stattgefundene Budapest Conference on Cyberspace, Teil 2 des "Londoner Prozesses", sah zwar eine Versammlung hochrangiger und illustrer Politiker, trug aber eher zur Verwirrung der globalen Internet Governance Debatte bei. Teil 3 soll 2013 in Seoul stattfinden. Braucht die Internet Community wirklich noch einen weiteren Reisezirkus?

Als im Januar 2011 bei der Münchner Sicherheitskonferenz die Diskussion auf das Thema Sicherheit im Cyberspace kam, hatte der britische Außenminister William Hague eine Idee. Das Thema sei ebenso neu wie groß und man sollte es am besten auf einer eigenständigen Konferenz behandeln, die natürlich niemand besser organisieren könnte als das "British Foreign & Commenwealth Office" Ihrer Majestät.

Die in München anwesende globale Sicherheitscommunity hatte bis dato nur geringen Kontakt mit der globalen Internetcommunity und offensichtlich wenig gehört vom Internet Governance Forum (IGF), dem UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft (WSIS) und dem seit 1998 hartnäckig ausgetragenen Konflikt zwischen ICANN und der ITU über die Kontrolle der kritischen Internet-Ressourcen. Niemand schlug daher in München vor, die Cybersicherheitsfragen stärker einzubinden in die Diskussionen innerhalb des existierenden globalen Internet Governance Eco-System. Stattdessen mussten es eine neue Konferenz und ein neuer Prozess sein. Eine Chance für den britischen Außenminister, sich international zu profilieren.

Sieben Prinzipien für eine globale Cyberaußenpolitik?

Im Herbst 2011 fand dann die Londoner Cyber-Konferenz statt. Die brachte hochrangiges politische Personal aus aller Welt zusammen, darunter die US-amerikanische Außenministerin Hillary Clinton und den russischen Kommunikationsminister Igor Schegeljow, zugleich aber wurde die eklatante konzeptionelle Schwäche einer noch nicht etablierten "globalen Cyberaußenpolitik" sichtbar. Die vielen Minister referierten zwar alle über die Wichtigkeit des Themas, artikulierten aber völlig unterschiedliche Vorstellungen, wie den heraufziehenden Herausforderungen zu begegnen sei.

Wenn William Hague gedacht hatte, dass sich die Welt auf seine sieben Prinzipien für ein globales Management des Internet schnell einigen könnte, dann hatte er die Rechnung ohne Kenntnis der jahrelangen zähen Debatten im IGF, bei WSIS und ICANN gemacht. Hagues Prinzipien – das Internet solle jedermann zugänglich sein, offen bleiben für Innovation, den freien Informationsfluss fördern, die Privatsphäre und das geistige Eigentum respektieren und gemeinsam müsse man Kriminelle im Cyberspace bekämpfen, wobei Regierungen "angemessen" im Rahmen von nationalen Gesetzen und dem Völkerrecht operieren und eine wettbewerbsfreundliche Umgebung schaffen sollten – sind ehrenwerte Grundsätze und schwer zu kritisieren, sieht man einmal davon ab, dass er das "Multistakeholder Governance Modell" für das Internet nicht in den Status eines eigenständigen Prinzips erhebt. Andererseits aber gibt es Regierungen großer Internetmächte, die einen völlig anderen Ansatz haben und als erstes Prinzip die Bekräftigung der nationalen Souveränität im grenzenlosen Cyberspace sehen.

Insofern steht die Frage im virtuellen Raum, wie man denn nun von A (Hagues Prinzipien) nach B (einem universellen internationalen Cyber-Kodex) kommt. Von wem und wo sollen solche allgemeinen Internet-Prinzipien verhandelt und verbindlich vereinbart werden? Wie ordnet sich der "Londoner Prozess" in das bereits existierende globale Internet Governance Eco-System ein? Soll das IGF ergänzt oder ersetzt werden? Soll der "Londoner Prozess" eine Alternative zur UN-Vollversammlung bieten, wo im 1. Komitee seit 12 Jahren über Cybersicherheit diskutiert wird? Will Hague der ITU, die gerne die Weltorganisation für Cybersicherheit werden möchte, ein Schnippchen schlagen und das Thema woanders hin verlagern? Und wenn ja, wohin?

Soll es eine neue Aufsichtsbehörde geben, die über die Einhaltung der Prinzipien wacht, etwa einen International Court of Cyberjustice? Und wie verhalten sich die sieben Prinzipien zu den zwei Dutzend Dokumenten in denen die G 8, OECD, Europarat, OSCE, die Shanghai-Gruppe, die IBSA-Staaten, die IGF Dynamic Coalition on Rights and Principles, die Global Network Initiative (GNI), die Internet Standardisierungsorganisationen, die Association for Progressive Communication (APC) bereits globale und ziemlich ähnliche lautenden Internet Prinzipien formuliert haben?

Politik von oben oder Multistakeholder von unten?

Um noch einmal auf das Prinzip des Multistakeholder Internet Governance Modell zurückzukommen: William Hague bekennt sich zwar zu diesem Modell, das im letztem Jahrzehnt von WSIS, IGF und ICANN ausgestaltet wurde, die dort geltenden Verfahren einer Politikentwicklung von unten bei maximaler Transparenz, Offenheit und Inklusivität sind dem "Londoner Prozess" jedoch bislang weitgehend fremd. Der "Londoner Prozess" ist ein von den Regierungen von oben angeschobener Prozess, weitgehend intransparent, teilnehmen kann man nur, wenn man eine Einladung erhält (wobei man schon respektieren muss, dass die Mehrheit der 700 Einladungen für die Budapester Konferenz an die "üblich Verdächtigen" nicht-gouvermentalen Stakeholder wie ICANN, ISOC, GNI, Google, Facebook, Microsoft und Co. gingen wenngleich schon auffällig war, dass Menschenrechtsgruppen wie Human Rights Watch, Freedom House, APC oder Reporter ohne Grenzen nicht als Redner für die zwei Dutzend Plenarsitzungen und Workshops eingeladen waren).

Überdies müssen einige Regierungen aufpassen, nicht der Heuchelei bezichtigt zu werden, wenn sie sich zwar für Internet-Freiheit in der Welt sind, zu Hause aber ziemlich restriktive Internet-Politiken praktizieren. Die Eröffnungsrede von Ungarns Premierminister Orban in Budapest, wo er vor der Weltöffentlichkeit Ungarn als ein Land der Freiheit präsentierte, klang sicher wie Hohn in den Ohren jener Medien, die in Ungarn auf der Grundlage des selbst von der EU und dem Europarat scharf kritisierten Mediengesetzes gegängelt und geknebelt werden, wie die regierungskritische lokale Rundfunkstation Klubradio.

Doch zurück zur Substanz: Sehr zu begrüßen ist zunächst, dass das häufig noch immer im Schatten der aktuellen Weltpolitik diskutierte Thema nun anfängt, Regierungschefs und Außenminister zu beschäftigen. Die Debatte gewinnt an Fahrt und auch an Niveau. Hatte man aber erwartet, dass die Budapest-Konferenz mehr Klarheit schafft, wo der Londoner Prozess hingehen soll, so wurde man enttäuscht. Erneut reiste eine staatliche Zahl hochrangiger Politiker an, erneut wurden große Reden gehalten und erneut blieb offen, wie der Prozess formalisiert und zu einem greifbaren Resultat geführt werden könnte.

Estlands Präsident Ilves war für die richtige Balance zwischen Internet-Freiheit und Internet-Sicherheit, Hillary Clinton, per Video zugeschaltet, sprach sich für rechtsstaatliche Verfahren im Cyberspace aus, Schwedens Außenminister Carl Bildt hob hervor, dass Menschenrechte, die offline gelten, auch online zu gelten haben. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton unterstützte Hague in seinem Anspruch "Rules of the Road" auszuarbeiten, ohne den Vorschlag ihrer Kollegin Nelly Kroes für einen "Internet Compact" zu erwähnen. In das gleiche Horn stießen Minister aus Südkorea, Japan, Lettland, Albanien, Finnland, Polen und Frankreich. Auch die deutsche Staatsekretärin aus dem Bundesinnenministerium, Cornelia Rogall-Grothe, war natürlich dafür, das Motto der Konferenz "With Trust and Security for Freedom on Prosperity" durch ausbalancierte internationale Vereinbarung zu gestalten. Was offline rechtswidrig ist, ist auch online strafbar.

Da ist zweifelsohne eine große "Koalition der Willigen" zu Gange , die etwas tun möchten, um die dunklen Seiten des Internet, Cyberkriminalität und Cyberterrorismus, in den Griff zu bekommen, ohne die Kommunikationsfreiheit des Einzelnen und wirtschaftliches Wachstum zu beschädigen. Aber bloßes Reden über Prinzipien bringt noch keinen Fortschritt und je länger man darüber in abstrakter Weise redet, desto mehr treten die unterschiedlichen Ansätze hervor.

Vor allem jene neuen Internet-Großmächte, deren Bürger in der Zeit, als das Internet sich entwickelte, noch darum kämpften, Zugang zu einem Telefon zu bekommen, fangen an, eigene Vorstellungen zu entwickeln. Hillary Clinton nannte fünf Länder, auf die man den "konstruktiven Internet-Dialog" ausweiten sollte: China, Russland, Indien, Brasilien und Südafrika. Drei davon waren hochrangig in Budapest vertreten. Aber alle drei zeigten wenig Enthusiasmus, dem britischen Außenminister einen Blankoscheck für seine sieben Prinzipien zu unterschreiben.

Indiens Kommunikationsminister Sachin Pilot z.B. möchte gerne über "enhanced cooperation" sprechen, ein aus dem WSIS-Prozess stammende diplomatische Umschreibung der Kontrolle über die kritischen Internet-Ressourcen wie Domain-Namen und IP-Adressen, wozu die USA gar nicht und die EU nur bedingt bereit ist. An der Rolle von ICANN will der Westen nichts ändern.

"Rules of the Road" für das Internet, wie von Hague vorgeschlagen, seien eine brilliante Idee, sagte Vladislav Sherstyuk, stellvertretende Generalsekretär des russischen Sicherheitsrates, und bot dem Rest der Welt an, den russischen Vorarbeiten für eine solche "Internet-Straßenverkehrsordnung" in Form einer Konvention zur Stärkung der Cybersicherheit beizutreten. Die Konvention war Ende 2011 in Jekaterinenburg von den Regierungen Russlands, Chinas, Tadschikistans und Usbekistans unterzeichnet wurden und regelt in 36 Artikeln, was Staaten tun und lassen sollten im Cyberspace: Sie sollten z.B. die staatliche Souveränität achten und sich nicht in die inneren Angelegenheiten eines anderen Landes einmischen.

Auch Huang Hui-Kang, Generaldirektor im chinesischen Außenministerium, applaudierte Hague zu seinem Prinzipienvorschlag und brachte seinerseits fünf Prinzipien in die Diskussion. Prinzip Nummer 1 sei für China die weitere Ausgestaltung der Cybersouveränität und allein die Vereinten Nationen seien der legitime Ort, wo man über den Cyberspace verhandeln könne.

Das doppelte Dilemma

Und so offenbart sich das gleich zweifache Dilemma: Erstens wollen eigentlich alle "irgendwelche Regeln" für den Cyberspace, aber die Vorstellungen, wie die konkret aussehen sollen, klaffen meilenweit auseinander. Und überlässt man zweitens die Ausarbeitung von Prinzipien den Regierungen in den Vereinten Nationen, dann sind Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft und technische Community, die das Internet real betreiben, gestalten und entwickeln und die Schlüsselstellungen im globalen Internet Governance Eco-System einnehmen, außen vor. Und sie wären nicht mehr beteiligt, wenn es um die Formulierung der "Rules of the Road" für das Internet geht.

Wo also soll der "Londoner Prozess" hingehen? Ist das ein neuer "Talking Shop", der den eh schon kostspieligen Reisezirkus der Internet- Governance- Community um eine weitere jährliche Konferenz bereichert, auf dem die gleichen Kontrahenten, die sich beim IGF, bei ICANN, bei der ITU und im WSIS Follow Up nicht einigen können, nun auch beim "Londoner Prozess" nicht einigen können?

Niemand kann mit der gegenwärtigen "Internet-Patchwork-Regulierung" zufrieden sein, die zu einem "Prinzipien-Shopping" einlädt, bei der sich jeder Akteur "sein Prinzip" aus irgendeiner Deklaration herauspickt, um sein korrektes oder unkorrektes Verhalten im Cyberspace zu rechtfertigen. Die Zeit ist reif, all diese 25+ Dokumente irgendwie unter ein einheitliches Dach zu bringen und ein universelles Rahmenwerk, ähnlich der 64 Jahre alten "Allgemeinen Menschenrechtserklärung", zu verabschieden.

In Budapest gab es gut zu essen und zu trinken, es wurde aber keine so richtig konkrete Idee serviert, wie man denn nun zu so etwas wie einer "Universellen Internet Governance Prinzipiendeklaration" kommen könnte, eben zu jenen "Rules of the Road", die die Internet-Freiheit bekräftigen, der Internet-Wirtschaft neue Räume erschließen, Cyberkriminelle und Terroristen in die Schranken weisen und der nicht nur alle Regierungen, sondern auch der Privatsektor, die Zivilgesellschaft und die technische Community zustimmen.

IGF als universelle Plattform?

Eigentlich ist nur das Internet Governance Forum (IGF) in der Lage, Universalität und Legitimität für ein solches Dokument - ein "Multistakeholder Framework of Commitment for Internet Freedom" - herzustellen. Anfang November beginnt des 7. IGF in Baku, das in rund 100 Workshops und Plenarsitzungen die ganze Breite der politischen Internet-Themen behandelt. Es wäre eine gute Idee, wenn der britische, ungarische und koreanische Außenminister nach Baku kämen, über den "Londoner Prozess" berichten und konkrete Vorschläge machen, wie die Londoner und Budapester Vorarbeit in innovativer Weise in den IGF-Prozess eingebunden werden kann.

Das IGF ist an die UN angebunden, aber relativ selbständig. Es hat kein Verhandlungsmandat, aber sein Leitungsgremium, die "Multistakeholder Advisory Group" (MAG), ist frei z.B. bei ihrer nächsten Sitzung im Februar 2013 in Paris eine unabhängige Expertengruppe zu bilden, ähnlich der "Working Group on Internet Governance" (WGIG), die der UN-Weltgipfel zur Informationsgesellschaft 2003 eingesetzt hatte. Eine solche aus Vertretern aller Stakeholder bestehende Arbeitsgruppe könnte einen ersten Prinzipienentwurf bis zur Seoul Konferenz im Oktober 2013 und dem 8. IGF im November 2013 vorlegen. Das wäre dann eine Basis für eine konkrete Diskussion darüber, wo und in welcher Weise einer "Universellen Internet Governance Prinzipiendeklaration" formelle Legitimation verliehen werden könnte.

Wolfgang Kleinwächter ist Professor für Internetpolitik und -regulierung an der Universität Aarhus.