"Im Westen hat man noch immer nichts aus dem 'Arabischen Frühling' gelernt"

Peter Scholl-Latour über den Syrien-Konflikt, die Rolle der Türkei und die Rebellen

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Peter Scholl-Latour ist in Deutschland wohl einer der bekanntesten Journalisten - auch wegen seiner eigenwilligen Positionen und Deutungen. Dieses Interview entstand anlässlich des Erscheinens seines Buchs "Die Welt aus den Fugen".

Herr Scholl-Latour, die Spannungen zwischen Syrien und der Türkei nehmen beständig zu. Damaskus und Ankara haben gegenseitige Luftraumsperren verhängt. Der türkische Außenminister drohte, dass bei weiteren Grenzverletzungen durch Syrien "ohne Zögern" zurückgeschlagen werde.

Peter Scholl-Latour: Die Türkei hat eine radikale Kehrtwende vollzogen, bezüglich ihrer Politik gegenüber Syrien, die bis vor Kurzem noch von einer engen Zusammenarbeit gekennzeichnet war. Nicht erst seit den jüngsten Grenzverletzungen, wobei immer noch nicht gesichert ist, wer die Granaten über die Grenzen geschossen hat. Assad kann natürlich kein Interesse daran haben, jetzt auch noch die Türkei militärisch gegen sich aufzubringen. Schon seit Beginn des jüngsten Aufstandes, erhalten die Aufständischen Nachschub auch über die türkische Grenze.

Was bezweckt Ankara mit einer Einmischung in den syrischen Konflikt?

Peter Scholl-Latour: Darüber kann man nur spekulieren. Sicher ist die Regierung Erdogan daran interessiert, die Türkei als sunnitische Vormacht in der Region zu etablieren. Dieses Unterfangen ist aber für die Türkei nicht risikolos, denn auch unter syrischen Sunniten hegt man eher zwiespältige Gefühle - gegenüber einer türkischen Vormachtstellung, basierend auf den historischen Erinnerungen an die Osmanische Herrschaft. Aus der türkischen Perspektive stellt sich noch natürlich ein ganz anderes, viel drängenderes Problem da.

Welches?

Peter Scholl-Latour: Das kurdische Problem. Der syrische Präsident hat sich ja schon damit abfinden müssen, den im Nordosten seines Staatsgebietes lebenden Kurden, deren Anzahl etwa 2 Millionen beträgt, eine ähnliche Souveränität einzuräumen, wie den Kurden im benachbarten Irak. In Ankara sieht man diese Entwicklung mit wachsender Besorgnis, da diese souveränen Territorien natürlich auch eine Sogwirkung ausüben könnten, auf die Kurden in der Türkei. In letzter Zeit gab es ja in den türkischen Kurdengebieten wieder verstärkte Aktivitäten der PKK, die schon als besiegt galt.

Nach einem Sieg der Rebellen könnte es zu einem Massaker kommen

Sie haben den Präsidenten Syriens Ende vergangenen Jahres in Damaskus getroffen, welchen Eindruck machte Baschar el-Assad auf Sie?

Peter Scholl-Latour: Richtig, mein Gespräch fand am 30.12 2011, um acht Uhr morgens statt. Wer dem noch jungen Präsidenten Baschar al-Assad begegnet, entdeckt einen hochgewachsenen, höflichen Gesprächspartner, der - zum Zeitpunkt dieser Begegnung - noch von keinerlei Ängsten geplagt zu sein schien. Das kann sich inzwischen-natürlich geändert haben.

Worum ging es in dem Gespräch?

Peter Scholl-Latour: Was den Inhalt der Konversation angeht, da halte ich mich an die vereinbarte Diskretion. Es handelte sich ja nicht um ein Interview, sensationelle Neuigkeiten hatte der Präsident mir auch nicht verkündet. Allerdings legte Assad Wert darauf, den Konflikt in Syrien als internationalen Konflikt zu interpretieren, Damit hat er sicherlich Recht. In diesem Zusammenhang sollte man noch einmal daran erinnern, dass Assad, der sich in London zum Augenarzt ausbilden ließ, nie politische Ambitionen besaß. In das höchste Amt des Staates gelangte er, weil sein Bruder Basil bei einem Autounfall ums Leben kam. So blutig die Ereignisse in Syrien auch sein mögen, im Vergleich zu seinem Vater ist der amtierende Präsident Syriens eher harmlos.

Sie spielen auf das Massaker von Hama an, welches 1982 stattfand?

Peter Scholl-Latour: Ja, die Stadt Hama, die damalige Hochburg des Aufstandes der Muslimbrüder gegen das Assad-Regime, hatte ich zwei Tage nach dem Blutbad passiert. Mehr als 20.000 Menschen wurden damals niedergemetzelt. Es stand dort kein Stein mehr auf dem anderen.

Also, eine ähnliche Konstellation wie heute, die sunnitische Bevölkerungsmehrheit im Aufstand gegen die Minderheit der Alawiten, welche hauptsächlich von dem Baath-Regime repräsentiert wird?

Peter Scholl-Latour: Mit einem gewaltigen Unterschied. Im Gegensatz zu 1982 werden die Aufständischen heute massiv vom Ausland ausgerüstet, per Waffenschmuggel über die Grenzen Syriens. Die "Freiheitskämpfer" Syriens wären schon längst von der Armee Syriens, sowie der Schabiha, also der Alawiten-Miliz, vernichtet worden, gäbe es nicht die Hilfe aus dem Ausland.

Würde ein Sturz Assads auch automatisch das Ende der alawitischen Hegemonie in Syrien bedeuten?

Peter Scholl-Latour: Nicht nur das. Die Alawiten würden nicht nur ihre Privilegien und ihre Machtpositionen verlieren, sie wären auch einem blutigen Rachefeldzug ausgeliefert. Die Alawiten gelten bei extremistischen Sunniten als Ketzer. Da die Aufständischen von der "Freien Syrischen Armee" sich inzwischen nicht nur auf Deserteure stützen können, sondern von Jihadisten aus der ganzen arabischen Welt unterstützt werden, vor allem aber von salafistischen Kräften, sowie jenen Gruppierungen die man im Westen pauschal unter dem Sammelbegriff al-Qaida subsumiert, wäre ein Massaker nicht ausgeschlossen.

Das Syrien al-Assads ist der letzte säkulare Staat in der Region

Daher auch die Entschlossenheit Assads, den Kampf fortzuführen?

Peter Scholl-Latour: Genau. Dem syrischen Präsidenten ist das Schicksal Gaddafis natürlich nicht entgangen. Auch ein Prozess in Den Haag, flankiert von einer lebenslangen Haftstrafe, ist ja keine akzeptable Alternative, zumal er auch zum Schutz seines weitverzweigten Familienclans verpflichtet ist. Übrigens, mit einem tödlichen Attentat auf Assad wäre der Konflikt nicht automatisch beendet. Der jüngere Bruder des Präsidenten, der Armeekommandeur Maher, würde sich dem Untergang der Alawiten mit brutaler Entschlossenheit entgegenstellen.

Im Westen fordert man den Abgang Assads.

Peter Scholl-Latour: Im Westen hat man anscheinend noch immer nichts aus dem sogenannten "Arabischen Frühling" gelernt. Wahrscheinlich träumt man immer noch von einer automatischen Hinwendung zu Demokratie und Marktwirtschaft in Syrien, wenn Assad erst einmal weg ist. Das Gegenteil wird der Fall sein. Ein nicht unerheblicher Anteil der Aufständischen in Syrien ist auf einen radikalen Islamismus eingeschworen, der von den reaktionären Golf-Monarchien Saudi-Arabien und Katar unterstützt wird und der sich letztendlich auch gegen den Westen richten wird. Man ignoriert dabei gerne, dass mit dem Syrien al-Assads der letzte säkulare Staat in der Region untergehen würde, mit fatalen Folgen für die Christen und andere religiöse Minderheiten dort.

Was ja eigentlich nicht im Sinne des Westens sein dürfte?

Peter Scholl-Latour: Nein, mit Sicherheit nicht. Die Amerikaner, aber auch die Europäer, haben Saudi-Arabien maßlos aufgerüstet, obwohl das dortige Wahabiten-Regime die Salafisten, die für einen intoleranten und fanatischen Islam stehen, weltweit finanziert und unterstützt.

Der Westen versucht so den iranischen Einfluss zurückzudrängen.

Peter Scholl-Latour: Ja, das ist der eigentliche Grund für die westliche Frontstellung gegen Assad, nicht etwa der Wunsch, Freiheit und Menschenrechte in Syrien zu etablieren. Wenn es dem Westen damit ernst wäre, hätte er ja bei seinem Verbündeten Saudi-Arabien diese Prinzipien einfordern können, wo die Zustände diesbezüglich weit schlimmer sind als im Iran. Auch die saudische Okkupation Bahreins hat im Westen nicht einmal ein Stirnrunzeln verursacht. Im Gegenteil, die Bundesrepublik stattete Riad mit Panzern aus. Bei diesem Konflikt geht es darum, die Iraner davon abzuhalten, eine Verbindung zum Mittelmeer zu erhalten, über den Irak, Syrien bis hin zum Libanon. Deshalb soll Assad verschwinden.

In Ihrem neuen Buch "Die Welt aus den Fugen", kritisieren Sie nicht nur die enge Bindung des Westens an Saudi-Arabien, sondern auch die Konfrontation mit dem Iran. Hat Israel nicht gute Gründe, den Iran zu fürchten, beispielsweise aufgrund der iranischen Bombe?

Peter Scholl-Latour: Der bekannte israelische Militärhistoriker Martin van Creveld entgegnete dem: "Israel kann mit einer iranischen Bombe leben!" Ich teile die Einschätzung. So wie er äußert sich übrigens auch der ehemalige Chef des Mossad, Meir Dagan, auch ein Mann von beträchtlichem politischem Gewicht.

Der israelische Generalstab steht dem Drängen gewisser Politiker in Jerusalem, zum Präventivschlag gegen Teheran auszuholen, mit großer Skepsis gegenüber. Wenn der Iran über die Atombombe verfügen sollte, wird er nicht Tel Aviv bombardieren. In so einem Moment würden Israel und die USA den Iran nuklear auslöschen - so suizidal ist man in Teheran nicht veranlagt.

Die Drohung, die Waffe einzusetzen, ist eine propagandistische Aussage, die wirklich unhaltbar ist. Es ist auch eine strategisch völlig falsche Sicht der Dinge. Die Atombombe des Iran soll eine Waffe der Abschreckung sein. Übrigens verfügt der Iran auch über eine wirksame konventionelle Streitmacht, deren Potential man nicht unterschätzen sollte. Auch ohne Atombombe ist der Iran eine wichtige Macht. Wäre das nicht der Fall, hätte der Westen schon längst eingegriffen.

Kommen wir zum Abschluss noch einmal auf Syrien zu sprechen. Wie geht es dort weiter? Wird Assad sich halten können?

Peter Scholl-Latour: Es wäre verwegen, zum jetzigen Zeitpunkt, irgendwelche Prognosen zu erstellen. Möglicherweise steht in Syrien noch ein langer, blutiger Bürgerkrieg bevor, wie seinerzeit im Libanon. Inzwischen ist man sich aber auch beim CIA bewusst, dass die "Freie Syrische Armee" zunehmend von radikalen Jihadisten und al-Qaida-Gruppen infiltriert wird. Sollten diese Elemente sich der syrischen Chemiewaffen bemächtigen, über die das Assad-Regime verfügt, würde der internationale Terrorismus eine neue, schreckliche Dimension annehmen. Die Gegner Assads dürften dann viel gefährlicher werden, als es das Baath-Regime von Damaskus jemals war.

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