"Eine Erpressungsmaschine"

Interview mit Helga Spindler über Erschöpfungserscheinungen des Rechtsstaates bei der Umsetzung der Hartz IV-Gesetzgebung und die Dämonisierung von Arbeitslosigkeit. Teil 2

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Mit Hartz IV wurde eine ökonomisch äußerst prekäre Situation für Langzeitarbeitslose geschaffen, die durch die permanente Rechtsunsicherheit der Bezieher ergänzt wurde. Auch wenn der Rechtsstaat in der Auseinandersetzung mit den Jobcentern bisweilen noch funktioniert, wird weiter durch die Überforderung der Gerichte an einer Justierung des juristischen Status von Arbeitslosen in Richtung von Heloten und Metöken gearbeitet. Damit folgt die Politik unter anderem den Vorgaben der Bertelsmann-Stiftung. Telepolis sprach mit der Professorin für Öffentliches Recht, Sozialrecht und Arbeitsrecht, Helga Spindler darüber, ob und wie der Rechtsstaat bei Hartz IV funktioniert und was für einen sozialen Rechtsstaat wichtig wäre (Teil 1 des Gesprächs "Der Staat verzerrt den gesamten Arbeitsmarkt")

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Frau Spindler, die Hartz IV-Regelungen enthalten widersprüchliche und vor allem viel zu ungenaue Bestimmungen, die aber alle zum Nachteil der Bezieher ausgelegt werden und immer wieder zu Rechtstreitigkeiten führen. Ist dies der Unfähigkeit des Gesetzgebers geschuldet oder können Sie dahinter eine intendierte Systematik erkennen?

Helga Spindler: Die Gesetzgebung hat viele grundsätzliche Probleme aufgeworfen, von der ungeklärten Organisation über die Abgrenzung zu bestehenden Systemen. Statt "Leistungen aus einer Hand" oder vorher aus zwei Händen mit klarer Zuständigkeit - dem Arbeitsamt und dem Sozialamt - hat man plötzlich Leistungen aus drei Händen: Arbeitsagentur, Sozialamt und Jobcentern, die nach unterschiedlichen Prinzipien zusammengewürfelt wurden.

Die Abgrenzung wurde noch dadurch erschwert, dass man - in Europa wohl einmalig - alle, die in absehbarer Zeit nur gerade einmal drei Stunden pro Tag irgendwie zu einer Erwerbstätigkeit fähig sind, einbeziehen wollte. Dazu kam die Neuformulierung der Bedarfsgemeinschaft, der Charakter der Eingliederungsvereinbarung, die Pauschalierung, die erste Fassung des Freibetrags für Erwerbstätige; das und einiges mehr war handwerklich sehr schlecht und überstürzt gemacht.

Weiter waren und sind die permanenten Gesetzesänderungen eine Zumutungen für Verwaltung, Bürger, Berater und Gerichte. Viele Regeln wurden aber auch aus vorherigen Gesetzen übernommen. Unbestimmte Rechtsbegriffe wie angemessene Aufwendungen für Unterkunft und Heizung, oder zusätzliche Arbeit, standen nicht nur vorher im Sozialhilferecht, auch die Rechtsprechung dazu war ziemlich gefestigt.

Wenn Kommunen heute so tun, als hätten sie seit 20 Jahren keinen Überblick über die Entwicklung der Mietkosten oder die Angebote des sozialen Wohnungsbaus, dann ist das unverständlich. Und wenn sie mit allen möglichen Tricks versuchen, diese Kosten zu unterlaufen, dann ist das nicht zu rechtfertigen. Sie wollten die Hartz-Reform und haben keine Anstalten gemacht, die Arbeitslosenhilfe und das Wohngeld, die sie entlastet hätten, zu erhalten.

Dass aber alles zum Nachteil der Bezieher ausgelegt wird, kann ich aus juristischer Sicht nicht bestätigen. Zwar hat die Ideologie des aktivierenden Sozialstaats nicht unbedingt die Menschenwürde oder auch die Persönlichkeitsrechte des Bürgers im Auge, aber es sind eine Reihe subjektiver Rechtsansprüche geblieben, die Bürger oft erfolgreich in Prozessen durchsetzen.

"Der Rechtsstaat funktioniert noch"

Inwiefern?

Helga Spindler: Es kristallisiert sich hier heraus, dass die Gerichte viel Wert auf ein transparentes Verfahren legen, besonders auf die individuelle Belehrung, Anhörungen und eine genauere Begründung von Leistungen und Maßnahmen, Existenzsicherung durch Gutscheine etcetera. Sie begleiten mit einer rechtsstaatlichen Orientierung auf Kontrolle großer Verwaltungseinheiten die neue Gesetzgebung sehr intensiv. Aber der Schutz, der daraus erwächst, verlangt einen hohen Arbeitaufwand bei der Geltendmachung - meist noch im stressigen Eilverfahren - und ändert an der gesetzlich intendierten Drucksituation letztlich nichts. Wir haben eine Zunahme von Verfahren, die jedes normale Maß weit übersteigen.

Das alles lässt sich durchaus positiv einschätzen: Der Rechtsstaat funktioniert noch. Es gibt kein unkontrolliertes Handeln der Behörden. Man muss aber von dieser Entwicklung aber auch die andere Seite sehen: Die Auseinandersetzung mit den Grundprinzipien der Aktivierung, der immer weiter vorangetriebenen Umwandlung des Systems, findet nicht statt und löst sich an kleinen, gelegentlich sehr exotischen juristischen Fronten auf.

Das Problem ist also, dass den Gerichten mit weiteren Gesetzesänderungen die Hände gebunden sind. Die arbeitsmarktstrategisch oder wirtschaftspolitisch wichtigen Fragen sind dort nicht zu klären: Selbst mit der Höhe des Existenzminimums oder Bestimmung der Grenzen zumutbarer Arbeit sind viele (vor allem Obergerichte) schon überfordert.

Und es zeigen sich Erschöpfungserscheinungen. Die Verfahren dauern zu lang und die Richter werden zermürbt, weil sie teilweise Ermittlungs- und Beratungsaufgaben der Verwaltung übernehmen müssen. Die Gerichtsbarkeit regt zu ihrer Entlastung Rechtsänderungen an, die weniger individuelles Recht geben und in den Ländern bastelt man an Gerichtsgebühren oder gleich an der Abschaffung der Sozialgerichte. Die Beratungs- und Prozesskostenhilfe wird immer wieder in Fragen gestellt und zu restriktiv bewilligt.

"Vor allem Individualrechte gelten als bürokratisch"

Was ist das Kalkül dahinter?

Helga Spindler: Man kann die Dinge so deuten: Die anschwellende Rechtsprechung ist nur Symptom einer Zermürbungstaktik, mit der schrittweise eine Systemänderung hin zu einem Zustand erfolgen soll, in dem die Behörde und von ihr beauftragte Dienstleister nicht mehr die rechtlich kontrollierte Steuerung der Arbeitslosen übernehmen. Viele Kritiker übersehen, dass das Chaos auch eine verborgene Systematik in sich trägt, die zu einem völlig neuen System führen kann.

Die Vordenker des aktivierenden Staat setzen nämlich langfristig auf andere Steuerung als durch Recht und finden dafür Vorbilder auch in Europa ( Großbritannien, Niederlande und Dänemark). Vor allem Individualrechte gelten als bürokratisch, verkrustet; unflexibel, ineffizient; die Gerichte werden als Vetospieler angesehen. Wer ein neues System mit weniger Rechten in Deutschland einführen will, für den ist jede schlecht funktionierende und unbeliebte Rechtsordnung ein willkommener Zwischenschritt hin zur Abschaffung.

Statt Arbeitsförderung gibt es dann als Gegenleistung für das Existenzminimum "Workfare" - einen öffentlichen Arbeitsdienst ohne Arbeitsrecht. In den genannten Ländern gibt es bereits kaum gerichtliche oder sonstige Kontrolle; für den Bürger kein individuelles, kalkulierbares und im Ergebnis beeinflussbares Verfahren und Ergebnis mehr. Er hat nur noch "Chancen", aber keine subjektiven Rechte. Deshalb hören wir aus diesen Ländern auch nicht, wie mit den Arbeitslosen umgesprungen wird, sondern werden darüber mit PR-Berichten abgespeist, die sich mit Eigenlob überschlagen.

"Stete Unsicherheit"

Von wem wurde dieser Prozess in Deutschland initiiert?

Helga Spindler: Die Bertelsmann Stiftung, aber auch die Benchmarking-Gruppe im Bündnis für Arbeit, haben diese Ideen bereits im Vorfeld der Hartz-Reform ausgearbeitet und gezielt ihnen genehme Vorbilder in Europa herausgepickt Selbst die Arbeitslosenversicherung sollte Schritt für Schritt in Richtung mehr Freiheiten für die Behörde, erschwerter Zugang, ein einfach zu handhabendes Sanktionssystem und weniger Mitwirkungsrechte der Arbeitslosen entsprechend umgestaltet werden - und das wird übrigens auch schrittweise und etwas im Windschatten der spektakuläreren Konflikte um das SGB II weiter vorangetrieben.

Ein wenig fühle ich mich hier an Hannah Arendts Untersuchung über die Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft erinnert. Alles irgendwie durch Regeln Gebundene, Kontrollierbare und darum Statische (sprich rechtliche) muss verdampfen vor dem dynamischen Prinzip der Bewegung (sprich Kontraktmanagement und Anreizmodelle ). Das Element steter Unsicherheit soll Menschen zuverlässig von abschließender Urteilsbildung abhalten.

Das plötzliche Auf und Ab der Berufskarrieren verhindert jedes Sich-Einarbeiten, jede Entwicklung zuverlässiger Berufserfahrung. Um das gerade in Krisenzeiten zu verhindern, bin ich für den Erhalt der deutschen Tradition eines sozialen Rechtsstaat und für einen Ausbau der individuellen Rechtspositionen auch in Europa, die man - da will ich nicht falsch verstanden werden - durchaus ändern und auch mit Pflichten verbinden oder reduzieren kann, aber die Gründe müssen stimmen.