Opfer der Infogesellschaft

Datenschutz: Die Politik sollte sich nicht über den Sturm beschweren, nachdem sie Wind gesät hat

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Kürzlich wurde bekannt, dass Behörden in Deutschland nicht nur Daten über Steuersünder, sondern auch von anderen Personengruppen wie etwa Ärzten einkaufen. Gleichzeitig werden die Bürgerdaten in rauen Mengen vom Staat verkauft. Die Politiker treten das Recht auf informationelle Selbstbestimmung mit Füßen. Sie sollten sich daher nicht beklagen, wenn die Bürger "mit gleicher Münze zurückzahlen".

Der US-Amerikanische Science-Fiction Autor William Gibson kündigte den Mächtigen in "The Road to Oceania" bereits 2003 an:

Im Zeitalter des Lecks und des Blogs, des Nachweises und der Links werden Wahrheiten entweder herauskommen oder öffentlich gemacht - später, wenn nicht früher. Das möchte ich gern jedem Diplomaten, Politiker und Konzernlenker bewußt machen: Die Zukunft wird Euch - eventuell - finden. Die Zukunft - die von unvorstellbaren Werkzeuge der Transparenz geprägt ist - wird Euch beikommen. Am Ende wird zu sehen sein, dass Ihr getan habt, was Ihr getan habt.

Dieser Zustand ist eingetreten - offenbar haben zu wenige Gibson gelesen: Zahllose Politiker haben bei ihrer Promotion geschummelt und mussten Titel und Ämter aufgeben, mit Genugtuung beobachtet die Öffentlichkeit, wie das Treiben des Stefan Mappus politisch und juristisch aufgearbeitet wird, ein Krimineller drang in die Computer von 50 Stars und Sternchen wie etwa Christina Aguilera ein -, auch um deren Fotos im Netz zu veröffentlichen. Und die Ergo-Versicherung muß sich vorhalten lassen, dass sie Versicherten-Gelder in ungarische Puffs investiert hat.

Es bleibt aber nicht zwingend bei den Wahrheiten - manchmal wird die Wahrheit noch ein wenig "ergänzt", oder es werden schlicht Behauptungen ohne Nachweis ins Netz gestellt oder auch Lügen verbreitet.

Wer den Namen des einen oder anderen Bundesministers in einer Suchmaschine eingibt, erhält als Ergänzung "schwul". Der Finanzsenator von Rostock musste sich mit einem digitalen Doppelgänger auf Facebook herumschlagen, dessen Profil von Unbekannten erstellt wurde. Ein Stadtverordneter aus Bremerhaven teilt das gleiche Schicksal. Zahllose Schüler werden Opfer von Rufmord.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble beklagt den Bedeutungsverlust der Privatsphäre: "Ich habe große Probleme mit der Distanzlosigkeit, die durch die modernen Medien in unserer Gesellschaft Einzug halten."

Und AWD-Gründer Carsten Maschmeyer sieht gar seine eigene Privatspäre durch die ARD bedroht. Der besorgte Schäuble wirkt ein wenig heuchlerisch - schließlich war er als Innenminister davon überzeugt, "dass es bei der geplanten verdeckten Online-Durchsuchung keine privaten Bereiche auf der Computerfestplatte geben kann, die im Sinne des 'Kernbereichs privater Lebensführung' geschützt sind", wie Heise Online schreibt.

Und so mancher Beobachter könnte Schadenfreude darüber entwickeln, dass die Privatsphäre des AWD-Gründers ebenfalls Ärgernissen ausgesetzt wie die seiner seiner Kunden.

Was sind nun die "unvorstellbaren Werkzeuge der Transparenz", von denen Gibson geredet hat? Womöglich ist Kate Middleton einem solchen zum Opfer gefallen. The Telegraph deutet an, dass die Schnappschüsse der barbusigen Royal Highness von einer Drohne aufgenommen worden sein könnten. Ob das nun stimmt, oder ob die Fotos doch mit einem Teleobjektiv aufgenommen wurden, ist zweitrangig - das Medienportal Meedia berichtet jedenfalls von speziellen Trainings für die Spezies der Paparazzi, damit diese Leute lernen, die Dinger per iPhone zu steuern.

Nun ist aber so eine Drohne für 250 Euro im Ritter-Sport Format - mit einer Kantenlänge von über 50 Zentimeter - immer noch recht unhandlich und mit einem halben Kilogramm Gewicht ganz schön schwer.

Drohnen-Paparazzi

Doch die Rettung naht - im Auftrag des US-Verteidigungsministeriums entwickelt das Unternehmen AeroVironment einen künstlichen Kolibri mit einer Spannweite von 16 Zentimetern und einem Gewicht von 19 Gramm.

Quadrocopter in Aktion (Parrot AR.Drone). Bild: Halftermeyer. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Und eine ganze Armada von elektronischen Libellen, e-Spinnen und e-Käfern hat sich bereits auf den Weg gemacht, um die Haushalte, Hotels und Luxusyachten von Prominenten zu erobern. Sogar Elektronen-Kakerlaken lassen sich in 30 Minuten für nur 51,50 US-Dollar zusammenbauen.

Ich sagte "Promis" - ein sehr relativer Begriff: Wie lang wird es wohl dauern, bis die e-Kakerlake den Dreijährigen im Supermarkt für 2,95 Euro auflauert? Wenige Jahre später werden die dann Jugendlichen diese e-Kakerlake durchs Klassenzimmer sausen lassen und der Musiklehrerin unter den Rock glotzen wollen, um die Beute dann in der nächsten Pause auf YouTube zu veröffentlichen. Für die Schüler wäre das sicher viel interessanter als die aktuell debattierten Fotos - schließlich läuft die Musiklehrerin dort den Schülern täglich über den Weg - was man von der Duchess of Cambridge jetzt nur selten behaupten kann.

Wir haben sämtliche Hemmungen verloren, in die Privat- oder gar Intimsphäre unserer Mitmenschen einzudringen; je intimer das Detail, je "prominenter" die Person in ihrer jeweiligen Umgebung ist, desto mehr Lust bereitet es, das mediale Schlachtfest öffentlich zu zelebrieren. Das liegt wohl daran, dass unsere technischen Möglichkeiten im umgekehrten Verhältnis zur gesellschaftlichen Bildung und Moral stehen.

Die Versäumnisse der Politik

Politik und Wirtschaft haben es versäumt, eine Debatte ins Leben zu rufen, wer was (nicht) darf. Ob und wenn ja welche Grenzen der Privatsphäre (nicht) überschritten werden dürfen. Die Mächtigen leiden jetzt am eigenen Versagen: Bürger, Kunden und Medien revanchieren sich nach dem Motto "wie du mir, so ich dir".

Für eine Ultraschall-Untersuchung benötigt der Arzt einen Schallkopf. Bild: Kalumet. Lizenz: CC-BY-SA-3.0

Gordon Moore sagte 1965 unsere aktuellen technischen Fähigkeiten recht präzise voraus:

Die Schaltkreisdichte auf einem Computerchip werde sich jedes Jahr verdoppeln. Seither hält sich die Schaltkreisdichte brav an die Vorhersage des IT-Urgesteins (- auch wenn es manchmal zwei Jahre dauert). Jedenfalls ließ Intel 2008 wissen, dass der Konzern dieses Gesetz noch bis 2029 aufrecht erhalten werde. Eine Prognose über 20 Jahre in der IT-Industrie? Genauso gut hätten sie "ewig" sagen können.

Eine der Folgen: Wir können immer mehr Daten "in Echtzeit" darstellen - etwa die Bilder einer Ultraschall-Untersuchung. Diese wurden vor fünf Jahren im gleichen Augenblick auf dem Monitor angezeigt, in dem der Schallkopf die Bilder aus dem Körper des Patienten aufnimmt.

2017 soll es möglich sein, das menschliche Genom genauso fix zu visualisieren. Und 2029 werden Wettervorhersagen wochenlang im Voraus möglich sein - und zwar präziser als die heutigen. Umgekehrt die Entwicklung bei den Kosten: Die Computerleistung, die 1997 noch 55.000 US-Dollar wert war, ist heute für weniger als 100 US-Dollar zu haben.

Möglichkeiten und Fähigkeiten

Diese gigantische Computerleistung zu minimalen Kosten wird völlig neue Anwendungen ermöglichen: Wir sehen unsere Gesprächspartner während des Telefonats in HD-Qualität am Fernseher, die gelbe Jacke wird darauf hinweisen, dass sie nicht zur grünen Hose passt und der Chef unserer Autowerkstatt wird uns auf die Windschutzscheibe projiziert, um uns zum Geburtstag zu gratulieren.

Schon heute aber korrelieren unsere Möglichkeiten nicht immer mit unseren Fähigkeiten: Der IT-Verband Bitkom meint, die Computerkenntnisse des Deutschen Michel seien nur "mittelmäßig". Und das Wissen von so manchem Spitzenpolitiker kann nur als unterirdisch bezeichnet werden: Bundesminister wissen nicht, was ein "Browser" ist, oder merken nicht einmal, wenn eine Satiresendung sie mit der Frage auf die Schippe nimmt, was zu tun sei, wenn das Internet "voll" wäre. Wer aber entscheidet, wenn die Minister nicht einmal im Ansatz begreifen, wovon die Rede ist? Der Mangel an Sensibilität in der Politik hat Folgen.

Beispiel Sicherheit: So mancher Schlauberger meint, die öffentliche Sicherheit nehme parallel mit der Verfügbarkeit personenbezogener Daten zu und fordert, elektronische Patientenakten für die Terrorbekämpfung zu nutzen.

Wenn sich unsere Sicherheit im Gleichschritt mit der Menge an Daten bewegt, dann sollten wir jedem Neugeborenen einen genetischen Fingerabdruck abnehmen und gleichzeitig eine lebenslängliche elektronische Fußfessel verpassen.

Nur um den Vorwurf der Polemik gleich zu entkräften: Die Innenpolitiker in Europa berauschen sich gradezu an der Vorstellung, die Bürger sprichwörtlich auf Schritt und Tritt zu beobachten.

Der Datenschutztag in Berlin im Mai 2011 kam jedoch einhellig zu der Überzeugung, dass etwa die Vorratsdatenspeicherung mit den Kommunikationsdaten aller Bundesbürger nicht mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in Einklang zu bringen sei.

"Hausbesuche"

Wie schwer sich die Behörden schon mit deutlich kleineren Datenmengen tun, hat die No-Name-Crew durch das Knacken des "Paip-Tracking-Servers" (PATRAS) nachgewiesen. Auf dieses Ermittlungssystem zur Verfolgung Schwerkrimineller greifen Bundespolizei, Zoll und weitere Sicherheitsbehörden zu. Wenige Wochen nach dem Bruch des Systems berichtete der Spiegel über "gravierende Sicherheitslücken", die eine Revision des Systems zu Tage gefördert habe:

Hardware und Programme seien veraltet, Sicherheitssysteme nicht vorhanden oder unzureichend. Nicht einmal das Personal werde den Anforderungen für einen sicheren Betrieb gerecht, heißt es in dem vertraulichen Bericht. So fehlten an Schlüsselpositionen geeignete Mitarbeiter, die Fehler feststellen und beheben könnten.

Dazu aber wären sie wegen mangelnder Dokumentation ohnehin kaum in der Lage. Dies führe zu einer 'als kritisch zu wertenden Abhängigkeit von einzelnen Personen'. Zudem sei völlig unklar, wer innerhalb des Systems Regeln aufstellen und verändern dürfe. Damit könne dies praktisch jeder tun; das werde noch nicht einmal ausreichend registriert.

Auch unterwegs müssten die Fahnder "von außen" auf das System zugreifen. Dazu würden "unsichere Klartext-Protokolle" benutzt. Die Schlußfolgerung der Revisoren lautet dem Spiegel zufolge:

Unter Beibehaltung des derzeitigen Netzbetriebes besteht eine erhöhte Wahrscheinlichkeit des unkontrollierten Abflusses von Informationen sowie des Befalls mit Schad-Software.

Leider waren nicht alle Spitzenbeamte in der Lage, spontan aus dieser Klatsche zu lernen: Im Januar 2012 berichtete wieder das Hamburger Nachrichtenmagazin über einen "hohen Beamten der Bundespolizei aus Frankfurt am Main", der seiner Tochter einen Trojaner auf den Rechner gespielt hat, um rauszufinden, was die so alles elektronisch treibt. Offenbar ist deren technisch bewanderter Freund dem Vater auf die Schliche gekommen und hat seinerseits dessen Rechner angezapft. Dabei hat er festgestellt, dass der Vater auf seinem Privat-Rechner Dienstmails liest. Über dieses Einfallstor knackte er PATRAS nochmals.

Ich sorge mich hier darum, dass sich Ermittlungsbeamte im Dienst womöglich nicht nur Freunde bei ihren "Kunden" machen - jeder Einzelne muß jetzt mit "Hausbesuchen" rechnen. Außerdem kann sich die organisierte Kriminalität jetzt womöglich auch noch an Hand der "Qualifikation" der Verdächtigen neue "Mitarbeiter" suchen.

Dazu passt, dass die Lebensgewohnheiten der Bundeskanzlerin und die Gepflogenheiten von Polizeistreifen vor den Wohnungen von Ministern nach entsprechenden Datenverlusten als bekannt gelten müssen.