Wie viel Kalorien brauchen Bewohner des Gazastreifens?

Das Oberste Gericht in Israel hat die Freigabe eines Dokuments angewiesen, das rote Linien für die Versorgung der von der Hamas regierten Zone festlegen sollte

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Der Gesamtenergieumsatz eines männlichen Erwachsenen, 28 Jahre alt, 64 Kilo Gewicht bei einer Größe von 1,74 m und "normaler Aktivität, liegt laut einem, willkürlich gewählten, Kalorienrechner bei 2.190 kcal. Die israelische Koordinierungsstelle für Aktivitäten in den Palästinensergebieten (COGAT) hat Anfang 2008 den durchschnittlichen Minimalbedarf für die Bevölkerung im Gazastreifen auf 2.279 kcal pro Person berechnet. Die COGAT-Kalorien-Richtlinie bewegt sich im normalen Bereich. Doch zeugt der Bericht, dem die Maßgabe entnommen ist, von einer harschen Kontrollpolitik, die dazu führte, den Lebensstandard der Bewohner des Gazastreifens auf einem niedrigen Lebensstandart zu halten.

Schon der Titel des COGAT-Dokuments weist darauf hin, worum es der damaligen Regierung Olmert ging: Man wollte Mindeststandards ermitteln, "rote Linien": Food Consumption in the Gaza Strip - Red Lines". In Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium legte die Koordinierungsstelle Werte fest, die eingehalten werden sollten, damit die Bevölkerung im Gazastreifen nicht hungert. Dies geschah im Namen des Wirtschaftskrieges, den die Regierung im September 2007 begonnen hatte, nachdem die Hamas die Macht im Gaza-Streifen übernommen hatte. Israel, auch das muss man sehen, erlebte in dieser Periode häufigen Raketenschuss.

Premierminister Olmert entschied auf eine harte Gangart gegenüber der Hamas, den Bewohnern des Gazastreifens sollte verdeutlicht werden, dass das Leben mit dieser Organisation als Führung entbehrungsreich wird. Der Unmut der Bevölkerung war ein Ziel vieler Maßnahmen. Die Bewegungsfreiheit der Bewohner wurde eingeschränkt, die Strom- und Gasversorgung zu Schikanen missbraucht, Ein-und Ausfuhr wurden drastisch begrenzt. Das sollte aber nicht so weit gehen, dass im Gazastreifen eine Hungersnot ausbricht, daher der Anlass für diese Leitlinien zum Nahrungsbedarf der Bevölkerung.

Der COGAT-Bericht wurde nun nach jahrelangen gerichtlichen Streitigkeiten aufgrund einer Entscheidung in letzter Instanz, vom obersten Gericht, freigeben - auf Betreiben der israelischen Organisation Gisha. In dem Bericht finden sich Berechnungstabellen zum Kalorienverbrauch von Säuglingen, Kleinkindern, Jugendlichen, Erwachsenen und Älteren, Männer und Frauen. Daraus wurden die Mengen an Lebensmittel, Fleisch, Getreide, Milch, Obst, Gemüse etc., ermittelt, die Israel in den Gazastreifen per Lastwagen zu liefern hatte.

Die Berechnungen liefern, wie die vormalige Geheimhaltung des Dokuments, Gründe zu kritischen Feststellungen seitens Gisha und internationaler Hilfsorganisationen. Denn es sei nicht ganz nachvollziehbar, berichtet die bekannte Ha'aretz-Autorin und Gaza-Expertin Amira Hass, wie die israelischen Behörden letztlich zu ihrer Zahl der wochentäglich benötigten Lastwagenfuhren mit Lebensmitteln gekommen sind.

Aufgrund der Berechnungen für den täglichen Mindest-Kalorienbedarf wurde kalkuliert, dass fünf Tage die Woche 170,4 Lastwagenladungen zu den Gazastreifen-Grenzen gefahren werden. Doch wurden Abstriche gemacht und 68,6 Lastwagen weniger veranschlagt, weil im Gazastreifen auch Lebensmittel produziert werden, weitere 13 Fuhren wurden eingespart, weil der Nahrungsmittelkonsum in Gaza, aus nicht näher spezifizierten Gründen, so beschaffen ist, dass angeblich weniger gebraucht wird.

13 truckloads were deducted to adjust for the "culture and experience" of food consumption in Gaza, though the document does not explain how this deduction was calculated.

Für die praktische Umsetzung jedoch kam man wieder zu ganz anderen Ergebnissen: COGAT zog den Schluss, dass 131 Lastwagenladungen gebraucht würden. Der damalige Stellvertreter des Verteidigungsministeriums Matan Vilnai hatte - zuvor schon - nur 106 Lastwagen bewilligt. Dazu zusätzlich Ladungen mit Kornsamen und Tierfutter.

Politik des Wirtschaftskrieges und der kollektiven Bestrafung

Wie auch die COGAT-Anwälte vor Gericht wiederholt betonten sei der Rote-Linien-Plan überhaupt nie in Wirklichkeit umgesetzt worden. Zugleich rechtfertigten sie die Politik hinter dem Plan: Es sei das Recht eines Staates, darüber zu entscheiden, mit wem man welche wirtschaftliche Beziehungen eingehe, so könne er auch eine Politik des Wirtschaftskrieges führen. Ein COGAT-Repräsentant erklärte, dass es sich nicht darum handelte, das Minimum zu ermitteln, sondern im Gegenteil sicherzustellen, dass es keine Not geben werde.

Dem widersprechen nun Angaben der Organisation Gisha wie auch Aussagen der UN-Hilfsorganisation für die palästiensischen Gebiete, UNRWA. So seien im Zeitraum zwischen Juli 2007 und Juni 2008 tatsächlich im Durchschnitt nur 90 Lastwagen werktäglich zur Gaza-Grenze gefahren. Von offizieller Seite wurde dies damit begründet, dass es zu diesem Zeitpunkt häufige Raketenangriffe gab. Doch, so argumentiert Gisha, würden andere Dokumente aufzeigen, dass diese Lieferungsreduktion in keiner direkten Verbindung zu solchen Sicherheitsfragen stand, also einen anderen Hintergrund hatte..

Die Hilfsorganisation weist demgegenüber auf die Rolle hin, die die Beschränkung der Ausfuhr palästinensischer Produkte, die Israel verfügte, auf die Lebensmittelproduktion im Gazastreifen hatte: Sie nahm beträchtlich ab und damit die Abhängigkeit gegenüber Israel zu. Unter den Auswirkungen leide der Gazastreifen heute noch.

Robert Turner, Chef der UNRWA für den Gazastreifen, äußert gegenüber Ha'aretz, dass die roten Linien faktisch dauernd unterboten wurden. Gaza sei seit Jahren von Hilfen abhängig.

Wie die jeweiligen Dispute zwischen COGAT-Vertreten und Gisha zeigen, gibt es verschiedene Standpunkte zu den einzelnen Fragen, die das Papier aufwirft. Doch zeigt sich, jenseits der faktischen Relevanz dieses Dokuments schon an seiner Konzeption und den politischen Gründen, die zu seiner Ausarbeitung führten, wie die israelische Regierung in Gaza die ganze Bevölkerung absichtlich am Gängelband hält - ohne Klarheit darüber zu haben oder haben zu wollen, was die Bevölkerung dort tatsächlich braucht.

Man orientiert sich offensichtlich daran, was gerade noch so geht. Es geht in erster Linie um kollektive Bestrafung, nicht um Sicherheitspolitik.