Der Gipfel der Uneinigkeit

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem französischen Präsidenten auf dem EU-Gipfel. Bild: Rat der Europäischen Union

Deutschland und Frankreich konnten auch auf dem vergangenen EU-Gipfeltreffen die fundamentalen Differenzen nicht überbrücken, die die europäische Krisenpolitik paralysieren

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"Wer hat gewonnen?" Dies ist offensichtlich die wichtigste Frage, die Medien und Politik nach dem letzten EU-Gipfel umtreibt. Er habe sich die Berichterstattung nach dem Gipfeltreffen in deutschen, französischen und britischen Nachrichten angeschaut, erklärte der Luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker kurz nach dem Gipfel. In allen nationalen Medienberichten hätte es die gleichen Siegesmeldungen von den Verhandlungen in Brüssel gegeben: "Alle haben wieder gewonnen. Wir machen uns nur noch lächerlich." Diese Presseberichterstattung sei doch "grotesk", so Junker. Auf dem Gipfel hätte es keinen "Boxkampf zwischen Deutschland und Frankreich" gegeben.

Die auf dem jüngsten Brüsseler Stelldichein aller europäischen Staats- und Regierungschefs erzielten Beschlüsse - etwa zur Bankenunion - mögen angesichts der kaum überbrückbaren nationalen Differenzen in der Währungsunion marginal sein. Der Gipfelverlauf legte aber die Konflikten und Spannungen offen, die das Verhältnis der europäischen Führungsmächte Deutschland und Frankreich immer stärker belasten. Schon im Gipfelvorfeld wurden die verhärteten Fronten bei den Auseinandersetzungen um die europäische Krisenpolitik auch für die breite Öffentlichkeit unübersehbar.

Normalerweise würden Berlin und Paris vor dem Gipfeltreffen bei bilateralen Konsultationen eine "gemeinsame Position ausarbeiten, die dann die Grundlage der Gipfelbeschlüsse bildet", bemerkte die britische Zeitung The Guardian. Tatsächlich ist die begierige Krisenpolitik in der EU und der Eurozone nahezu ausschließlich durch der Kompromissfindung zwischen Paris und Berlin geformt worden, während die europäischen Institutionen und die kleineren Euroländer kaum Einfluss auf den Gang der Dinge ausüben konnten.

Doch bei diesem jüngsten Gipfeltreffen kamen solche deutsch-französischen Konsultationen zum ersten Mal nicht zustande, so der Guardian. Der französische Präsident hat stattdessen massive Kritik an Berlin in einem unter anderem in der Sueddeutschen und im Guardian erschienenen Interview geübt, bei dem er einen "Katalog von Klagen" bezüglich der deutschen Krisenpolitik öffentlich zur Sprache brachte. Dies sei ein "gewagter und riskanter Zug" gewesen, so der Guardian.

Hollande mache Merkel für "30 Monate Tatsachenverdrehungen, Ausflüchte und Schwanken in der Krise verantwortlich", wobei Berlin nun "seinen Widerwillen mit grandiosen Plänen für die EU" verkleide, deren Realisierung ein Jahrzehnt dauern würde. Diese Kritik an der deutschen Politik sei in "Brüssel und den Hauptstädten der EU" üblich, doch erfahre sie ein zusätzliches Gewicht, wenn sie nun öffentlich vom französischen Staatsoberhaupt formuliert werde. Hollande warnte davor, dass "der deutsch-französische Motor" zu stehen kommen würde, sollte Merkel nicht von der "Betonung der Austerität" bei der Krisenbewältigung abrücken und ihre Pläne zur "Aufgabe nationaler Souveränität" bei der Fiskalpolitik nicht zu den Akten legen. Deutschland könne laut Hollande auch zur Überwindung der Eurokrise beitragen, indem es endlich "Lohnerhöhungen" zulasse und die Steuern erhöhe. Wiederum erhob der französische Staatschef die Forderung nach der Einführung von Eurobonds, die von Berlin vehement abgelehnt werden. Unter einer Intensivierung der europäischen Integration versteht Hollande ein "klares und ausreichend langes Mandat" für den Präsidenten der Euro-Gruppe und allmonatliche Treffen der europäischen Staats- und Regierungschefs. Zudem forderte der Präsident Berlin auf, die Instrumentalisierung der Krisenpolitik für innenpolitische Zwecke zu unterlassen: "Unsere gemeinsame Verantwortung ist es, Europas Interessen an die erste Stelle zu setzen." Schließlich wies Hollande auch die in Deutschland gepflegten Überzeugungen zurück, dass nur Berlin in der Eurokrise finanzielle Verpflichtungen eingehe: "Wir alle sind Teil dieser Solidarität. Die Franzosen, die Deutschen, wie alle Europäer in dem ESM. Lasst uns mit dem Denken aufhören, dass es nur ein Land gibt, das für alle anderen zahlen soll. Das ist falsch."

Bundesregierung will einen EU-Währungskommissar, "der respektiert und gefürchtet wird"

Allein die Tatsache, dass Hollande diese massive Kritik an Berlin öffentlich im Gipfelvorfeld formulierte, deutet auf einen schweren Bruch zwischen den einstmals eng verbündeten Staaten hin. Dem Lamento Hollandes nahm aber der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble viel von seiner massenmedialen Wirkung, der sich kurz zuvor mit extremen Vorschlägen alle Mühe gab, das Bild des "hässlichen Deutschen" wieder in Europa zu beleben. Auf dem Rückflug von einer Asien- Rundreise erläuterte Schäuble seine - mit dem Kanzleramt abgesprochenen - Vorstellungen eines Umbaus der Eurozone an mitreisende Journalisten, die genau die "Aufgabe nationaler Souveränität" beinhalteten, die von Hollande so vehement abgelehnt wird. Deutschlands Massenmedien berichteten bereits von einem "Sparkommissar" oder einem "Euro-Alleinherrscher", der den "kriselnden EU-Mitgliedsländern bald das Fürchten lehren" solle, so fasste die österreichische Tageszeitung Die Presse Schäubles Vorstoß mitsamt den Reaktionen der deutschen Medien zusammen.

Im Zentrum der deutschen Vorstellungen steht ein massiver Machtzuwachs für den Währungskommissar, der künftig im Alleingang - ohne Zustimmung anderer EU-Gremien oder Kommissare - Entscheidungen treffen und Sanktionen erlassen könnte. Der Währungskommissar soll Schäuble zufolge künftig ein Vetorecht bei der Haushaltspolitik der Eurostaaten erhalten, womit diese den zentralen Eckpfeiler staatlicher Souveränität verlustig gingen. Dieser zum "Alleinherrscher" ausgebaute EU-Kommissar "muss einen Haushalt zurückweisen können, sowohl nach der Aufstellung als auch nach seiner Verabschiedung". erklärte der Finanzminister. Er wolle einen "Währungskommissar, der respektiert und gefürchtet wird", so Schäuble wörtlich.

Berlin schwebt zudem eine Modifizierung des Abstimmungsverhaltens im Europaparlament vor, mit der eine Hierarchisierung der EU in Zentrum und Peripherie forciert werden könnte. Künftig sollen nur noch die Parlamentarier aus den Ländern Europas stimmberechtigt sein, die von den zur Abstimmung stehenden Gesetzen tangiert sind. Mittels dieses "flexiblen Stimmrechts", so Schäuble, würden nur die Europarlamentarier etwa der Eurozone oder des Schengen-Raums stimmberechtigt sein, wenn die zur Wahl stehenden Entscheidungen nur diese Regionen betreffen. Die restlichen Abgeordneten wären in einem solchen Fall ausgeschlossen. Schon Ende dieses Jahres soll gemäß der deutschen Vorstellungen ein Konvent einberufen werden, der die Reform der EU umsetzen würde.

Bundeskanzlerin Angela Merkel mit dem französischen Präsidenten auf dem EU-Gipfel. Bild: Rat der Europäischen Union

Sparen oder weiter Verschulden?

Annäherung zwischen Paris und Berlin gab es einzig bei der Konzeption eines "Kern-Europa". Weitere Integrationsschritte der avancierten Kernländer sollen auch ohne die Peripherie der Eurozone vollzogen werden. Doch ansonsten blieben die unvereinbaren Positionen der wichtigsten Kontrahenten in der Euroarena unverändert: Berlin will die Fortsetzung des knallharten Sparkurses in Europa, mitsamt einer Rückkehr zum Monetarismus - also der Politik des "knappen Geldes". Eurobonds und jedwede andere Formen der "Vergemeinschaftung" der Europäischen Schuldenberge lehnt Berlin ab, solange die Eurostaaten nicht bereit sind, ihre Haushaltsouveränität an europäische Institutionen - wie etwas Schäubles Währungskommissar - abzugeben.

Paris sieht in der heraufziehenden europäischen Rezession eine weitaus größere Gefahr und will der aktiven Konjunkturpolitik - inklusive expansiver Geldpolitik - die Priorität einräumen. Zudem verlangt Hollande die Einführung von Eurobonds, um die Zinslast in der südlichen Peripherie der Eurozone dauerhaft zu senken - erst danach kann laut Paris über eine Aufgabe staatlicher Souveränität zugunsten der EU debattiert werden.

Die gegenwärtige Stagnation der europäischen Krisenpolitik, die immer mal wieder beklagt wird, resultiert gerade aus diesem deutsch-französischen Gegensatz: deutscher Sparterror gegen französische Schuldenmacherei. Dieser Gegensatz resultiert selbstverständlich aus den gegenläufigen Interessen der beiden europäischen Großmächte, die wiederum auf die unterschiedliche ökonomische Stellung beider Länder im Krisenverlauf verweisen.

Frankreichs Finanzsektor hat die Exportüberschüsse der deutschen Industrie gegenüber der Eurozone finanziert

Berlin will jegliche weiteren finanziellen Verpflichtungen bei der Krisenpolitik zumindest minimieren, während Frankreich und Südeuropa eine möglichst enge Einbindung der Bundesrepublik anstreben: Die hervorragende deutsche Bonität soll vermittels der Eurobonds zur Stabilisierung der südlichen Peripherie der Eurozone beitragen. Doch wieso hat Frankreich ein solch vitales Interesse daran, die Länder Südeuropas zu stabilisieren? Frankreich würde von einem Ausscheiden der südlichen Peripherie aus der Eurozone aufgrund des starken Engagements französischer Finanzhäuser in Südeuropa noch schwerer getroffen als die Bundesrepublik. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge, die rechtzeitig vor dem jüngsten EU-Gipfel auf den üblichen Medienplattformen publiziert wurde, kämen auf Deutschland Verluste in Höhe von 70 Prozent des BIP zu, bei Frankreich wären es hingegen 154 Prozent!

Die französischen Banken haben somit die Verschuldungsprozesse in Südeuropa in weitaus höherem Ausmaß finanziert als deutsche Geldhäuser, die ihr Engagement in der Region rechtzeitig reduzierten. Dieses Engagement der französischen Banken in Südeuropa ermöglichte somit erst die gigantischen Leistungsbilanzüberschüsse der Bundesrepublik gegenüber der Eurozone (Europa als Krisenzentrum), die sich inzwischen auf rund 840 Milliarden Euro belaufen. Frankreichs Finanzsektor hat somit die Exportüberschüsse der deutschen Industrie gegenüber der Eurozone finanziert. Die deutsch-französische Freundschaft der vergangenen Jahre hatte somit ein wirtschaftliches Fundament: Solange die Spekulations- und Schuldenblasen in Osteuropa im Aufsteigen waren, profitierten hiervon sowohl französische Finanzhäuser wie deutsche Industrieunternehmen. Nach dem Platzen der Schuldenblasen führt die unterschiedliche Stellung Frankreichs (Gläubiger Südeuropas) und Deutschlands (Südeuropa als Absatzmarkt) im Krisenprozess zu den oben geschilderten unvereinbaren Differenzen.

Deutschlands Industrie hat - beflügelt durch die mit Hartz IV eingeleiteten Prekarisierungsschübe und die Stagnation des Lohnniveaus - die besagten gigantische Leistungsbilanzüberschüsse erwirtschaftet und verliert nun das Interesse an diesen Ländern, da weitere Exportoffensiven in dieser von der deutschen Industrie niederkonkurrierten Region aufgrund der Schuldenkrise kaum realisierbar sind. Berlin bemüht sich nun, diese Länder möglichst kostengünstig zu "entsorgen" und zugleich die Exportoffensiven in das nichteuropäische Ausland - etwa nach Fernost - umzulenken.

Bislang hat Kanzlerin Merkel marginale Zugeständnisse nur dann gemacht, wenn ein Kollaps der Eurozone unmittelbar drohte (etwa bei dem Streit um Anleiheaufkäufe durch die EZB), um so die Vorteile des niedrigen Eurokurses für die deutsche Exportindustrie in außereuropäischen Märkten noch weiter nutzen zu können. Frankreich hingegen hat ein elementares Interesse an dem Verbleib dieser Länder in der Eurozone und an einer Stabilisierung der sozioökonomischen Lage, um eine totale Kernschmelze auch des französischen Finanzsektors zu verhindern. Dies ist der Grund für da Engagement Frankreichs für Südeuropa - es ist das Engagement des Gläubigers für seine Schuldner.

Der deutsch-französische Gegensatz von blindwütiger Sparwut - die in Rezessionen mündet - und fortgesetzter Schuldenmacherei - die letztendlich in Inflation oder erneute Blasenbildung führt - spiegelt aber auch eine objektive Aporie der kapitalistischen Krisenpolitik. Der Kapitalismus kann als Weltsystem nur noch vermittels fortdauernder Verschuldungsprozesse aufrechterhalten werden (Wer ist schuld am Krisenausbruch?), die dieser auf Lohnarbeit basierenden Gesellschaftsformation, der die Arbeit ausgeht, noch eine zusätzliche kreditfinanzierte Nachfrage http://www.heise.de/tp/artikel/36/36123/1.html verschaffen (Die Krise kurz erklärt).

Die kapitalistische Krisenpolitik befindet sich somit in einer Krisenfalle, bei der sie systemimmanent nur zwischen weiterer Verschuldung bis zum Staatsbanktrott mitsamt Hyperinflation oder Sparprogrammen mitsamt einsetzender Deflationsspirale wählen kann. Frankreich steht im europäischen Krisenkontext für die Fortführung der Verschuldungsdynamik, Deutschland für die durch Sparanstrengungen ausgelöste Depression. Keiner dieser beiden Wege führt aber aus der Krise.