Krise? Welche Krise?

Das Paradigma der Kooperation kann zur Lösung vieler Probleme eine adäquate Antwort geben

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Ja sicher, wir haben eine Krise. Darin besteht weithin Einigkeit. Nur, was für eine Krise? Darüber gehen die Ansichten auseinander. Das erkennt man schon an den vielen Namen, die diese Krise hat: Eurokrise, EU-Krise, Finanzkrise, Währungskrise, Bankenkrise, Griechenland-Krise, Klimakrise. Zur besonderen Schwierigkeit dieser Krise gehört offenbar, dass sie schwer zu benennen ist. Angeblich droht alles zu kollabieren, doch die Drohung bleibt abstrakt. Autohersteller, die noch vor kurzem mit Milliardensubventionen vor dem angeblichen Ruin gerettet werden mussten, schreiben neue Rekorde. Den Menschen geht es gut, während sie ahnen, dass es so nicht weitergeht. Nur, wie dann? Es herrscht Orientierungslosigkeit. Allen ist klar: Irgendwie ist Krise. Nur wissen wir nicht, worin diese Krise eigentlich besteht.

Wir haben einen Vorschlag für dieses Problem. Wir gehen davon aus, dass all die genannten Krisenaspekte unter einem Begriff zusammengefasst werden können. Wir befinden uns in eine Krise der Kooperation. Wir glauben, dass es in der Gestaltung von Kooperation auf persönlicher, politischer und ökonomischer Ebene ein gewaltiges Potenzial zu erschließen gibt. Wir halten das Paradigma der Kooperation für die zentrale Idee, die zur Lösung brennender Probleme der Gegenwart eine adäquate Antwort geben kann.

Zusammen sind wir stärker - das ist natürlich kein neuer Gedanke. Im Gegenteil: Man kann ihn den ältesten Gedanken der Menschheit nennen. Kooperation ist, was den Menschen auszeichnet. Kooperierend ist er zu dem geworden, was er ist. Die großen Charakteristika der Menschheit - Sprache, Kunst, Technik und Wissenschaft - sind wesentlich kooperative Unternehmen.

Das Prinzip der Kooperation liegt jenseits abgegriffener politischer Richtungsbestimmungen. Liberal, links, recht, konservativ, ökologisch - all diese Vokabeln sind nicht mehr adäquat, um Haltungen zu beschreiben, die Lösungen für die Fragen der Gegenwart bieten. Das Prinzip der Kooperation ist ein neues Paradigma, das sich den genannten politischen Kampfbegriffen entzieht.

Was meinen wir mit Kooperation? Eine Definition

Unsere Definition von Kooperation lautet:

Zwei oder mehr Menschen kooperieren, wenn sie sich in einer Beziehung befinden, die ihnen hilft, ihre Ziele und Pläne zu verwirklichen.

Zusätzlich haben wir noch einige Bedingungen formuliert, die flankierend zur genannten Definition funktionieren sollen. Sie bilden also einen Korridor, einen Bedeutungsrahmen, innerhalb dessen sich die Beziehung abspielen soll, die den Kooperierenden dabei hilft, ihre Ziele und Pläne zu verwirklichen. Wir nennen diese flankierenden Bedingungen Propositionen. Sie lauten:

  • Alle in einer Kooperationsbeziehung befindlichen Menschen spielen für die Verwirklichung der Ziele und Pläne eine wesentliche Rolle.
  • Die Ziele und Pläne der Einzelnen können, müssen aber nicht, miteinander identisch sein. Sie müssen jedoch untereinander verträglich sein.
  • Kooperationsbeziehungen zeichnen sich durch Offenheit und Wahrhaftigkeit in Bezug auf das betreffende Projekt und eine relative Symmetrie der Machtverhältnisse und durch Fairness aus.

Der vorliegende Text wurde - leicht überarbeitet - dem eben erschienenen Buch von Claas Triebel und Tobias Hürter entnommen: Die Kunst des kooperativen Handelns. Eine Agenda für die Welt von morgen, Orell Füssli Verlag, 224 Seiten, € 16,95 (D) / € 17,50 (A) / CHF 22,90.

Die Autoren fragen, wie die Welt von morgen aussehen könnte, wenn wir ganz auf das Prinzip der Kooperation setzen würden. Sei dies bei der Beteiligung an politischen Entscheiden, beim Miteinander der Kulturen, der Verteilung von Nahrung, im Umgang mit Energieressourcen, beim Lernen und in der Arbeitswelt.

Wie entsteht Kooepration? Eine Kommunikations-Theorie kooperativen Handelns

Eine Theorie schreckt die meisten Menschen ja irgendwie ab. Theorie - das klingt nach dem ganzen Kram, den man überblättert, bis man zum Wesentlichen kommt. Der Begründer der modernen Sozialpsychologie, Kurt Lewin, war allerdings ein großer Fan von Theorien. Nicht, weil man sich in Theoriegebäude zurückziehen kann, sondern weil eine gute Theorie für die Praxis und für das Leben ungeheuer hilfreich ist. Er prägte den Ausspruch "Nichts ist so praktisch wie eine gute Theorie" und wir folgen Lewin in dieser Einschätzung.

Wir gehen davon aus, dass weder ein biologischer noch ein gesellschaftlicher noch ein zweckrationaler Grund im Vordergrund steht, wenn Menschen kooperieren. Sondern wir nehmen an, dass Menschen grundsätzlich in den meisten Situationen kooperieren möchten. Ein wesentlicher Grund dafür ist, dass Menschen gerne in stabilen Beziehungen mit ihrer Umwelt leben. Sie wollen das in dem Maße, wie sie auch darauf angewiesen sind. Das Bedürfnis stabile Beziehungen mit der Umwelt und mit anderen Menschen aufzubauen und zu unterhalten ist die Triebfeder jeglicher Kommunikation. Kooperation ermöglicht den Aufbau solcher stabiler Beziehungen. Kooperation ist ein Akt der Kommunikation.

In der Lebenspraxis kommuniziern wir auf drei Ebenen mit seiner Umwelt:

  1. Durch emotionale Äußerungen oder Handlungen.
  2. Durch wert- und willensgeleitete Aussagen und Reaktionen auf diese.
  3. Auf der objektbezogenen Handlungsebene. Objekte können hierbei dreidimensionale Dinge sein, aber auch jegliche andere Objekte des Handelns. Beispiele: Bücher, die zwei gemeinsam schreiben, Waren, die einer produziert und ein anderer kauft, aber auch immaterielle Objekte wie Ideen und Themen.

Es gibt eine Bedingung, die erfüllt sein muss, damit ein Selbst mit der Umwelt in Kontakt treten kann: es muss überhaupt dazu in der Lage sein, mit dem Gegenüber zu kommunizieren und zu handeln, es muss also in einer ähnlichen Situation sein.

Ein Beispiel: Zwei Menschen begegnen sich, finden sich unwahrscheinlich sympathisch, teilen die gleichen Werte, können auch definieren, was sie gerne zusammen tun wollen, aber eine der beiden Personen muss demnächst eine mehrjährige Haftstrafe antreten, während der andere von seinem Arbeitgeber nach Südamerika versetzt wird. Es sind zwar viele personenimmanente Grundlagen für eine Kooperation gegeben. Die unterschiedliche Situation, in der sich die beiden befinden, macht es allerdings extrem unwahrscheinlich, dass es tatsächlich zu einer Kooperation kommen wird. Soweit das Individuum. Wie aber sieht es mit dem Wert dieser Theorie für die Politik aus?

Wie kooperieren Organisationen?

Unsere Theorie der Kooperateure will Bedingungen für persönliche, unmittelbare Kommunikation und Kooperation formulieren. Eine Organisation kann man als Superorganismus betrachten, allerdings unterscheidet er sich doch fundamental von einer realen Person. Eine Organisation kann nach ähnlichen Werten ausgerichtet sein oder handeln wie eine andere Organisation, die beispielsweise Kinderarbeit ablehnt oder aber beide sind streng auf Profitmaximierung ausgerichtet.

Zwei Organisationen können zudem an einem gemeinsamen Objekt arbeiten - so ist etwa der ICE ein Produkt, das aus der Kooperation zahlreicher Unternehmen entstanden ist. Die dritte Bedingung für das Zustandekommen einer Kooperation können Organisationen jedoch nur in Maßen erfüllen: Organisationen haben keine Emotionen, deshalb können sie einander auch nicht sympathisch oder unsympathisch sein. Es gibt eine Konkurrenzsituation zwischen Apple und Google - das bedeutet aber noch lange nicht, dass sich diese beiden Organisationen einander unsympathisch wären. Genauer gesagt kann über den emotionalen Gehalt der Konkurrenzsituation zwischen Google und Apple nicht die geringste Aussage getroffen werden.

Wenn Organisationen miteinander kooperieren, findet deshalb eine Verschiebung der Prioritäten statt. Die Emotion verliert an Wichtigkeit in der Kooperation. Wichtiger wird die Situation. Aus diesem Grund gibt es auch häufig Kooperationen zwischen Unternehmen, die in Konkurrenz zueinander stehen: von der Energiewende können viele Unternehmen profitieren, die miteinander konkurrieren.

Organisationen kooperieren dann, wenn sie ähnliche Werte verfolgen, ein gemeinsames Objekt, Produkt oder einen Auftrag haben und wenn sie sich darüber hinaus in einer ähnlichen Situation befinden.

Wenn Individuen mit einer Organisation kooperieren, ergibt sich deshalb ein Problem: Menschen suchen nach emotionalen Anknüpfungspunkten zu einer Organisation, diese finden sie aber nur in einer Person aus der Organisation, nicht in der Organisation selbst. Deshalb verwechseln sie häufig den Repräsentanten einer Organisation mit der Organisation selbst.

Ein Kunde einer Bank kann mit seinem Betreuer ein kooperatives Verhältnis eingehen, nicht aber mit der Bank selbst. Wenn ein Bankkunde diese beiden Ebenen durcheinander bringt, kann er in einige Schwierigkeiten geraten.

Wie bei unserer Theorie darüber, wie Individuen miteinander kooperieren, gibt es auch auf der Ebene der Organisation die Bedingung, dass alle Ebenen der Kooperation erfüllt sein müssen. Andernfalls spricht man nicht von einer Kooperation oder von einem Bündnis wie es in diesem Fall oft heißt, sondern von einer Zusammenarbeit oder schlicht von einer Vertragsbeziehung.

Die Euro-Krise als Beispiel

Der Euroraum hat ein gemeinsames Objekt der Kooperation, den Euro selbst nämlich. Innerhalb der Europäischen Union gibt es - auch wenn das von vielen bestritten wird - einen großen Konsens über grundlegende Werte, an dem etwa Beitrittskandidaten gemessen werden: dazu gehört eine Achtung der Menschenrechte, ein demokratisches Staatsverständnis, die Wahrung der Pressefreiheit, die Religionsfreiheit, der Wille gemeinsam einen Friedensraum zu schaffen und vieles mehr.

Für eine nachhaltig funktionierende Kooperation stellt sich jedoch ein Problem: Die wirtschaftliche Situation der Staaten ist so unterschiedlich, dass sich statt eines kooperativen Verhältnisses ein Schuldner-Gläubiger-Verhältnis ergab, die viel beklagte Transferunion. Das Verhältnis von Schuldner und Gläubiger ist dabei natürlich auch eine legitime Form des Zusammenarbeitens. Es ist aber kein kooperatives Verhältnis, sondern kann lediglich Elemente einer Kooperation haben.

Viele Ökonomen und Naturwissenschaftler stimmen darin überein, dass die Schwierigkeiten der Eurozone nicht aus den Schulden einzelner Mitgliedsländer herrühren, sondern aus einem halbherzig geknüpften Verbund, in dem die Mitglieder sowohl konkurrieren als auch kooperieren müssen. "Es entstehen immer Probleme, wenn Teile des Systems in mancher Hinsicht unabhängig sind, in anderer Hinsicht abhängig", sagt Yaneer Bar-Yam vom New England Complex Systems Institute in Cambridge (Massachusetts).

Wir können an dieser Stelle kein Patentrezept für eine Lösung der Eurokrise geben. Mit der Anwendung unserer Theorie gehen wir jedoch von folgenden Möglichkeiten aus:

  1. Szenario 1: In der EU wird so viel Geld verschoben, dass alle Akteure in eine ähnliche Situation geraten. Entweder werden dabei die reichen Länder arm oder in den armen Ländern springt die Wirtschaft an, so dass es ihnen gelingt aufzuholen.
  2. Szenario 2: Die Krise wird durch einen starken Appell an die gemeinsamen Werte der EU überbrückt. So werden die situativen Unterschiede über längere Zeit durch eine stärkere Werteübereinstimmung überdeckt - bis schließlich die Wirtschaft in den armen Ländern anspringt und sich die Situationen der Länder angleichen.
  3. Szenario 3: Die Euro-Zone zerbricht, da die Situationen der Staaten zu unterschiedlich sind, als dass das Projekt weiterhin als Kooperation weitergeführt werden könnte.

Der Friedensnobelpreis für die EU könnte ein Argument für eine Entwicklung der Euro-Krise in Richtung Szenario 2 sein.

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