Das Elend mit europäischer Software

Warum unter den Weltmarktführern in Sachen Software mit SAP nur ein europäisches Unternehmen zu finden ist

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Es gilt seit etwa eineinhalb Jahrzehnten als fürsorgliche Mahnung, Wahrheit und Tatsache: Software ist nicht patentierbar. Sie wird in der Regel als "trivial" betrachtet, da sie kein technisches Problem löst, sondern allenfalls das eines Benutzers. Oder ein wirtschaftliches. Dass unter den Weltmarktführern in Sachen Software mit SAP nur ein europäisches Unternehmen zu finden ist, könnte auch auf die Schwierigkeit zurückzuführen sein, Softwareanwendungen überhaupt zu patentieren. Oder liegt es daran, dass europäische Software nicht oder zu spät auf den Markt kommt?

Triviale Gummibandfunktion

Der jüngste Streit zwischen Apple und Samsung zeigt, wie die Patentpolitik der letzten Jahrzehnte heute ihre wirtschaftspolitische Dimension entfaltet. So wandte Apple gegen Samsung ein, die sogenannte Gummibandfunktion auf einem Smartphone, bei der der Bildschirm am Ende eines Dokuments automatisch auf den Anfang des Dokuments zurückspringt, sei durch ein Apple-Patent mit 20 Ansprüchen geschützt.

Das stimmte auch – aber für alle Beteiligten überraschend korrigierte das US-Patentamt kürzlich diese Auffassung, mit der Begründung, das Patent sei zu Unrecht erteilt worden.

Gerade im Bereich der Funktionen von Anwendungen auf dem Bildschirm oder auf Programm- und Anwendungsoberflächen im Internet haben viele Entwicklerteams auch in Europa in den letzten fünfzehn Jahren versucht, Patente anzumelden. Laut europäischem Patentamt wurden bis 2006 jedoch von 7.200 Anmeldungen 6.000 vorzeitig zurückgezogen. Auch den ersten Patentantrag der Computergeschichte, den am 9. April 1936 Konrad Zuse unter dem Titel "Verfahren zur selbsttätigen Durchführung von Rechnungen mit Hilfe von Rechenmaschinen" stellte, zog Zuse am 4. November 1937 wieder zurück. Erst 1941 erhielt er sein Patent. Bei der heutigen Entwicklungs- und Anwendungsgeschwindigkeit wären fünf Jahre wohl das Ende für die wirtschaftliche Verwendung eines schützbaren Verfahrens gewesen.

Zuses Patent von 1941 ist heute nicht nur für Fachleute ein lesenswertes Beispiel für den Schutz intellektuellen Eigentums, zeigt es doch die Schwierigkeit, einerseits eine völlig individuelle Idee in Wort und Skizze aufzuzeichnen, die aber andererseits für viele anwendbar und damit in jedem Punkt nachvollziehbar sein muss.

Softwareschutz als Problem des Kapitalmarktes

In der Softwareindustrie hat sich die Ansicht durchgesetzt, der Erfolg einer Software sei kein Patentschutz-, sondern ein Time-to-market-Problem. Andreas von Bechtolsheim hat deshalb 1998 Google zu einem Zeitpunkt 100.000 Dollar zur Verfügung gestellt, als ein Google-Anteil noch keinen Dollar wert war. Anstatt Patentstreite zu führen, hat sich Google in damals noch sehr großer Konkurrenz etwa gegen Altavista, Lycos und Yahoo durchgesetzt – und dabei hunderte Millionen "verbrannt", wie namentlich deutsche Finanzanalytiker die Tatsache bezeichnen, dass eine Software jahrelang nur Ausgaben verursacht, aber keinerlei Einnahmen generiert.

Auch der Acrobat Reader von Adobe war eine Freeware – und doch gelang es durch ihn, Adobe bis heute zu einem der wenigen dauerhaft erfolgreichen Unternehmen zu machen, dessen Geschäftsmodell auf der in Europa verpönten Freeware basiert. Um aber Freeware in weltweite Märkte einzuspeisen, braucht man große Mengen Kapital – und dieses Kapital stellen europäische Finanzierer bis heute nicht oder nur selten zur Verfügung.

Eines der wenigen Gegenbeispiele: Die in Oslo ansässigen Entwickler des Browsers Opera wurden von skandinavischen Fonds bis heute gut finanziert. Um als europäischer Softwareentwickler rechtzeitig weltweit auf den Märkten vertreten zu sein, veröffentlichte eine österreichische Softwareschmiede 2003 einen Teil ihrer Online-Bildbearbeitungssoftware als Bundle mit Opera. Jon S. Von Tetzchner, der Opera-Gründer und CEO damals: "Die Anwendung wird es unseren Usern ermöglichen, ihre Bilder für Familie und Freunde ins Web zu bringen."

Der Opera-Browser konnte allerdings bis heute nicht davon profitierten, dass die EU die Verbindung von Windows und Explorer als wettbewerbswidrig ansah. Die Vertragsstrafe wird mit Sicherheit an eine Gruppe nicht gehen: an europäische Softwarefirmen. Obwohl der Opera-Browser mindestens genauso gut ist wie Explorer und Firefox, hat er einen sinkenden Marktanteil von 3 Prozent. Immerhin.

Eine 200.000-Euro-Patentlektion

2003 war Bildbearbeitung im Internet keineswegs trivial. So konnten etwa Flash-Files noch nicht dynamisch online erzeugt werden. Mühsam mussten Flash-Filme bei jeder Änderung hochgeladen werden – aufgrund der Bildgrößen und der damals noch niedrigen Bandbreite ein mühsames Unterfangen. Zudem konnten Flashfilme nicht von Laien selbst erstellt werden. Weder Kodak und Agfa, noch Flickr und Picasa boten damals die Möglichkeit, einfach Fotos in Flash-Templates hochzuladen und dabei einen Link zu generieren, den man nur noch versenden brauchte.

Bereits 2002 konnten die Österreicher mit Agfa erstmals dynamische Diashows in Flash als "Agfanet-Slideshow" anbieten. Wie aber konnte dieses Verfahren geschützt werden? Die Anforderungen an eine Patentanmeldung erfüllten schließlich renommierte Patentanwälte. Das Ergebnis: Das "Verfahren zur dynamischen Animation, Verarbeitung und Verwaltung digitalisierter Bilder in internetbasierten Datenbanken", Anmeldenummer EP1658569A1.

Unbedarfte Beobachter mögen vermuten, in so einem Patentverfahren werde die Originalität und Qualität des Verfahrens geprüft. Tatsächlich aber besteht die Prüfung überwiegend in der Recherche. Der Recherchebericht zu EP1658569A1 führte nun ein wesentliche Argument dafür an, dass das Verfahren nicht neu war: In der PC-Welt haben die Patentprüfer den Artikel von Herrn Discherl entdeckt, der auch heute noch online ist.

Dass die Gratis-Diashow vom gleichen Entwickler, ja von der gleichen Firma entwickelt wurde, war nun der wesentliche Einwand gegen einen Großteil der Patentansprüche. 2004 wurde mit diesem Verfahren die erste animierte MMS aus dem Internet an das MMS-fähige Festnetz-Telefon der T-Com gesendet.

2006 wurde der Patentantrag zurückgezogen und Agfa meldete Insolvenz an. Die Entwicklung des Verfahrens hatte 200.000 Euro gekostet, die nun verloren waren. Wie viel werden jene 6.000 zurückgezogenen Patente an Entwicklungskosten und verlorenen Einnahmen gekostet haben? 1,2 Milliarden Euro Entwicklungskosten und weitere 5 Milliarden Euro entgangene Umsätze könnte der Schaden betragen.

Quo Vadis European Software?

In den Bilanzrichtlinien für europäische Aktiengesellschaften und GmbHs findet sich ein Aktivierungsverbot für selbst entwickelte Software. Das heißt: Zwar können die Aufwände zur Entwicklung von Software steuerlich abgesetzt werden, auch die Kreditzinsen für Entwicklungsdarlehen, dabei entsteht aber kein Asset, kein bilanzierbarer Wert.

Die Folge ist eine ständige Unterkapitalisierung von Softwarefirmen. In Verbindung mit dem fehlenden Risikokapital führt sie dazu, dass das erfolgreichste Prinzip der Vermarktung von Publikumssoftware – nämlich die Freeware – nicht beschritten werden kann. Europäische Software muss so vom ersten Launch an Einnahmen generieren, während die US-Konkurrenz mit endloser Freeware die Marktanteile erobert.

2014 wird das 8. EU-Forschungsprogramm mit dem Titel "Horizont 2020" starten, vermutlich wie sein Vorgängerprogramm mit etwa zehn Milliarden Euro Budget für Informationstechnologien. Dies ist, bezieht man auch nur einen Teil davon auf webfähige Software, auch für US-Verhältnisse ein unvorstellbar hoher Betrag. Wenn das Programm gelauncht wird, werden die EU-Institutionen das Programm auf Social Media bewerben. Facebook. Twitter. YouTube (Wie EU-Beamte die Zukunft des Internets sehen).

Und tausende talentierte Entwickler von Karlsruhe bis Kiel werden sich fragen, warum sie und ihre Kleinstfirmen nicht einen Euro davon bekommen werden. Eine Antwort darauf lautet: Weil Software in Europa weder patentierbar noch bilanziell aktivierbar – und deshalb auch nicht finanzierbar ist. Adobe, Microsoft, Oracle und Apple können sich freuen.

Disclaimer: Ich akzeptiere, dass in diesem Artikel Firmen, Anwendungen und Beispiele nicht vorkommen, die ich für wichtig und unentbehrlich halte.